# taz.de -- Sitcom in Hamburg: Wie Malen nach Zahlen | |
> Antú Romero Nunes ist als Grenzüberschreiter unter den Theatermachern | |
> bekannt. Am Thalia-Theater wagt er sich mit „Eine Familie“ an sein erstes | |
> Well-made-Play. | |
Bild: Mittelmäßige Sitcom statt Sittengemälde: Nunes erzählt „Eine Famili… | |
HAMBURG taz | Auf halber Strecke möchte man anhalten und aussteigen. Weil | |
man schon weiß, was kommen muss. Aber anhalten ist unmöglich: Hier gibt es | |
keinen Rasthof, keine Abfahrt, nicht mal eine Nothaltebucht. Also sieht man | |
dreieinhalb Stunden dieser Familie zu. Beim Sich-selbst- und | |
Sich-gegenseitig-Zerstören, beim Sich-Betrügen und Sich-Belügen. Ganz zum | |
Schluss dieses Stücks – „Eine Familie“ heißt es – sind dann alle seel… | |
Abgründe offengelegt, sind alle schlecht gehüteten Geheimnisse erzählt und | |
bis dahin muss man durchhalten. | |
Die titelgebende Familie, die Westons, lebt in Osage County, Oklahoma, dem | |
„platten, heißen Nichts“ in der Mitte der USA. Auch der Autor des Stücks, | |
Tracy Letts, ist in dieser Gegend aufgewachsen. „Eine Familie“ ist sein | |
bisher erfolgreichstes Werk: 2008 erhielt er dafür den Pulitzer-Preis, mit | |
Meryl Streep in der Hauptrolle wurde es unterm Originaltitel „August: Osage | |
County“ 2013 verfilmt und seit der deutschsprachigen Erstaufführung im | |
Oktober 2008 in Mannheim liegt dieses Osage County so ziemlich überall – | |
vor allem im deutschsprachigen Theater. | |
Am Thalia-Theater bringt Antú Romero Nunes damit sein erstes Well-made-Play | |
auf die Bühne. Und so inszeniert ausgerechnet der Regisseur, der – denkt | |
man seine Arbeiten wie „Merlin oder Das wüste Land“, „Moby Dick“, „D… | |
Odyssee“ oder „Orpheus“ – seine Fantasien ungern in vorgegebene Formen | |
klemmt, in ein Stück mit einem unverrückbaren Verlauf. Nunes, einer der | |
unermüdlichen Spieler und Grenzüberschreiter unter den Theatermachern, | |
wählt ein dramatisches Korsett. Das klingt ein bisschen so, als würde sich | |
ein freischwingender Waldorfschüler für eine Malen-nach-Zahlen-Vorlage | |
begeistern. | |
Der Abend funktioniert. Nicht mehr und auch nicht weniger. Mit einem | |
Dutzend guter Schauspieler, mit einem naturalistischen Einblick in ein | |
zweigeschossiges Haus (Bühne: Matthias Koch) und jeder Menge spitzzüngiger | |
Dialoge. Das Timing stimmt meist, die abendfüllende Zerfleischung nimmt | |
geradezu technisch ihren Lauf. | |
## Ein Tick zu boulevardesk | |
Karin Neuhäuser als bitterböses Familienoberhaupt Violet Weston sorgt sich | |
– mal alkoholisiert nuschelnd, mal divenhaft stolz – weniger um ihren | |
verschwundenen Ehemann als um sich selbst. Und in den Augen ihrer | |
erwachsenen und zur Krisensitzung (die später in die Beerdigung des Vaters | |
mündet) angereisten Töchter hat sie als Mutter sowieso versagt. Neuhäuser | |
ist in der ersten Hälfte des Abends wirklich grandios. Sie ist weinerlich, | |
eitel, irritierend, unberechenbar und auch in den entlegensten Ecken des | |
Bühnenhauses fantastisch überpräsent. | |
Für ihre Familie ist diese tabletten- und herrschsüchtige, krebskranke und | |
krächzende Mutter kaum zu ertragen. Als wäre das nicht schon genug, haben | |
ihre Töchter Barbara (Cathérine Seiffert), Ivy (Marina Galic) und Karen | |
(Anna Blomeier) noch ihr eigenes Päckchen Elend mitgebracht. Betrogen um | |
ihre Liebe und ihr Lebensglück sind sie alle drei. | |
Ihre Männer, so sie welche haben, haben sie ebenfalls im Gepäck: Felix | |
Knopp gibt in diesem Irrenhaus den scheinbar pflichtbewussten Dozenten, | |
aber tatsächlichen Studentinnenverführer Bill, Rafael Stachowiak den | |
windigen und unverhohlen lüsternen Makler Steve. Außerdem ist Violets | |
Schwester Mattie Fae (Gabriela Maria Schmeide) mitsamt Langzeitgatten | |
(Andreas Leupold) und missratenem Sohn Charles (Björn Meyer) angereist. | |
Klar, bei einem Familientreffen mit derartiger Personage vergeht keine | |
Sekunde ohne Stichelei, keine Szene ohne Nervenzusammenbruch und kaum ein | |
Dialog ohne Geschrei. Text und Ton sind oft vulgär und gern einen Tick zu | |
boulevardesk. | |
Neurose um Neurose wird ausgetobt, wunde Wunden werden mit Salz bestreut, | |
dazu und dazwischen röhrt regelmäßig Janis Joplin: Der Dramenverlauf | |
gleicht einer Einbahnstraße. Und Nunes steuert sie brav entlang. Immer | |
geradeaus, wie sich das gehört, auf den Abgrund zu. Doch er fährt wie mit | |
angezogener Handbremse. Vom Steuer aus versucht er, ein Feuerwerk zu | |
zünden, dessen Raketen aber auf halber Höhe belanglos verpuffen. | |
„Eine Familie“ ist ein Stück, das von nervösen Psychosen und familiären | |
Mikrokosmen erzählt und damit eigentlich den Zustand Amerikas beschreiben | |
will. Tatsächlich aber gleicht es an diesem Abend mit seinen Figuren und | |
deren hysterischer Problemüberhäufung einer mittelmäßigen Sitcom. | |
Schauspielerin Corinna Kirchhoff, die zurzeit am Berliner Ensemble die | |
Rolle der Violet Weston spielt, kritisierte jüngst an Letts Drama: „Es gibt | |
keine Metaebene, keine Mehrschichtigkeit, kein Geheimnis.“ Wie recht sie | |
hat, zeigt auch Nunes’ farblose, ermüdend naturalistische und erschreckend | |
gestrige Inszenierung. Der Regisseur, der oft Leichtigkeit, Atmosphäre, | |
Politisches mit klugem Witz zu verbinden weiß, hat bei dieser Inszenierung | |
offenbar seine eigene Handschrift verlernt. Vor ein paar Jahren hatte er in | |
einem Interview noch gesagt, nur das zu inszenieren, was er selbst sehen | |
wolle. Wirklich glauben kann man ihm das nach diesem Abend nicht. | |
8 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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