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# taz.de -- Kafkas Schloss auf der Bühne: Kultur des Nichtwillkommens
> Am Hamburger Thalia Theater inszeniert Antú Romero Nunes Kafkas
> Romanfragment „Das Schloss“ als bedrohliche Groteske und
> existenzialistisches Körpertheater
Bild: Groteske Fremdenhasser: Kostümbildnerin Victoria Behr hat ganze Arbeit g…
HAMBURG taz | Nein, dieser Gemeinschaft möchte man wirklich nicht
angehören. Durchs neblige Dunkel humpeln aus der Form geratene Figuren mit
aufgeblähten Beinen, überdimensionierten Ärschen, hängenden Bäuchen,
verfilzten Haaren und bleichen Gesichtern an den Bühnenrand und stellen
sich dem Publikum entgegen. Das Ankommen des Fremden in der Fremde: Ganze
Arbeit hat Kostümbildnerin Victoria Behr am Hamburger Thalia Theater
geleistet, dass daraus ein fiebriger Albtraum wird.
Als düstere hyperbolische Groteske über Ab- und Ausgrenzung richtet Antú
Romero Nunes Franz Kafkas Romanfragment „Das Schloss“ zunächst auf karger
Bühne ein. Die hermetisch abgeschlossene Welt aus Dorf und Schloss, in der
Gesetz, Sitte und Leben ununterscheidbar miteinander verstrickt sind, steht
dem vergeblich um Aufnahme bittenden vorgeblichen Landvermesser K. als
inzestuös-verkommene Gesellschaft aus tumben Dorfdeppen und überzeichneten
Machtfigurenkarikaturen gegenüber.
Nicht mal einen Platz auf der Bühne gesteht Nunes dem Ankömmling zu. Die
Rolle des Fremden, „der überzählig und überall im Weg ist“, übernimmt e…
mal das Publikum. „Gastfreundlichkeit ist bei uns nicht Sitte“, schallt es
ihm immer wieder entgegen. Denn: „Die Herren sind unfähig, den Anblick
eines Fremden zu ertragen.“ Aktuelle Bezüge braucht es nicht, um den Abend
auch als Kommentar zur aktuellen Debatte um Flüchtlinge und
(Nicht-)Willkommenskultur zu verstehen.
Ein bizarr komisches und zugleich verstörend erbarmungslos wirkendes
Unsittengemälde einer archaisch-monströsen fremdenhassenden Gemeinschaft
zeichnen Nunes und sein fantastisch spielfreudiges Ensemble in der ersten
Stunde des Abends. Gelächter schlägt immer wieder in Erschrecken und Ekel
um, die slapstickhafte Komik des Maßlosen und Absurden in Brutalität. Da
werden Sauen kaltherzig erschlagen, Dorfbewohner in Käfige gesperrt, es
wird gepisst, onaniert, verprügelt und vergewaltigt, dass man Reißaus
nehmen möchte.
Wenn man denn überhaupt hineingelassen würde in diese abstoßende Welt. Denn
dem Zuschauer geht es in Nunes’ Inszenierung wie Kafkas Ankömmling selbst:
Zurückverwiesen bleibt er auf eine ewige Annäherung. Beständig dreht sich
die Bühne, wenn der Fuhrmann oder „das Mädchen aus dem Schloss“ zum
Mitkommen einladen: jeder Schritt nur ein trügerischer Fortschritt im
rastlosen Sich-im-Kreis-Drehen.
Und jeder Versuch K.s, sich etwa über eine amouröse Beziehung zur
Schlossangestellten-Geliebten Frieda der flüchtigen Bürokratie des
Schlosses zu nähern, ihre ungeschriebenen Gesetze zu entziffern und ihre
mysteriöse Hierarchie zu durchschauen, scheitert und wird mit noch
hartnäckigerer Verweigerung bestraft: Je mehr er erfährt, desto ferner
rückt das Ziel; je tiefer er sich ins absurde Sinnlabyrinth wagt, desto
erbitterter speit es den Eindringling aus. Jeder Versuch, in der Abweisung
einen tieferen Sinn zu entdecken, entpuppt sich als Illusion, als naiver
Kinderglaube.
Mit einem ungelenken Kindertheater fügt Nunes denn auch noch ein weiteres
Deutungsfragment hinzu und bringt das Stück noch einmal als wiederum
scheiterndes Spiel im Spiel auf die Bühne: Die debile Dorfschulklasse probt
stotternd Kafkas „Schloss“. Aber einer spielt nicht richtig mit, ein
anderer wird beschuldigt und vom Dorflehrer erschlagen. Der wahre Schuldige
bleibt schließlich, von den anderen aus dem Kostüm geschält und wie ein
Gekreuzigter zu Grabe getragen, als Häufchen nacktes Leben regungslos am
Boden liegen.
Aber wie es kein Hineinkommen gibt, so gibt es auch kein Entkommen aus
diesem brutal-grotesken Kosmos. Helfen kann auch der Deus ex Machina nicht
mehr, der als engelhafter Sekretär des Schlosses in weißer Robe vom
Theaterhimmel herabschwebt.
Und in einer eigentümlichen Mischung aus christlicher Auferstehung und
Kafka’scher Verwandlung webt Nunes schließlich noch eine dritte
Deutungsebene ein, lässt den „ewigen Landvermesser“ nun auch auf der Bühne
auferstehen und einen letzten vergeblichen Anlauf nehmen.
Aus dem grotesken Schauspielplatz wird so ein beeindruckendes
existenzialistisches Körpertheater. Mit einer spektakulär verletzlich
wirkenden Körperlichkeit verwandelt sich Mirco Kreibich in der letzten
Viertelstunde des knapp zweistündigen Abends in ein insektenartiges Wesen,
krabbelt rücklings auf die Wachturm-Gerüstskelette des unerreichbaren
Schlosses zu und klettert in einem aufs Plotskelett reduzierten
Schnelldurchlauf der nun ebenfalls aller Kostüme entkleideten
Dorfbevölkerung hinterher.
Am Ende steht der Fremdling erschöpft, nackt und zitternd allein im erst
leise rieselnden, dann im vom Sturm verwehten Schnee. Ein erwartbares, aber
eindringliches Sinnbild des Menschen als ewiger Fremder und Flüchtling vor
sich selbst und den anderen: vollkommen frei, aber unfähig zu greifen,
worin er zugleich auf immer verheddert bleibt.
10 Jun 2016
## AUTOREN
Robert Matthies
## TAGS
Thalia-Theater
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