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# taz.de -- Internationales Sommerfestival Kampnagel: Liebe auf der Weide
> Drei Wochen lang findet das Sommerfestival für performative Künste aus
> aller Welt in Hamburg statt. Das erste Wochenende war kurios und
> kuschelig.
Bild: Musiktheater aus Montreal: Socalled & Friends von Josh Dolgin
In den Tiefen der menschlichen Seele lagert offenbar überall dasselbe
Kindheitsglück. Jenes heimelige Gefühl, das sich in verfilzten
Sockenmonstern, abgeliebten Kuschelbären oder in ihre Füllung verrieselnden
Monchichis manifestiert. Und das in den 70er Jahren mit „Sesamstraße“ und
„Muppet Show“ gewissermaßen common sense erlangte, die Fernsehbildschirme
bevölkerte und sich für immer ins kollektive Gedächtnis eingrub. Millionen
dieser Kindheitsgenossen liegen längst verstaubt, vergessen und unbespielt
auf den Dachböden der Welt.
Der kanadische Künstler Josh „Socalled“ Dolgin, so könnte man meinen, hat
nie aufgehört mit ihnen zu spielen. Er – Pianist, Akkordeonspieler,
Produzent, Filmemacher, Zauberer, Comiczeichner und Marionettenbauer – gibt
den Kuscheltieren eine Bühne und bringt sie als Handpuppen groß raus.
„Space – The 3rd Season“, heißt die dritte Folge seiner erfolgreichen
Musiktheaterserie, die er im Rahmen des Sommerfestivals auf Kampnagel
uraufführt.
Dieses Musical bedient das ganze Portfolio: Tanz, Gesang, Glamour und
Live-Musik (hoch professionell: das Kaiser Quartett). Dass etwa der Glamour
aus ein paar Putzhandschuhen und Wischmops gezaubert wird, die bespielten
Planeten-Landschaften aus gestalteten Stofflappen entstehen, ist
herrlichste Theaterbehauptung. Dass ein irdischer Bär eine außerirdische,
rote Flauschige liebt, dass eine böse Königin (gespielt von der Musikerin
und Sängerin Kiran Ahluhwalia) diesen fernen Planeten und die dort lebenden
Flauschigen regiert, von ihnen harmoniefreie Gesänge einfordert und
zwischen den roten, blaue und grünen Exemplaren erbitterte Zwietracht sät.
Dass sich am Schluss dann alles noch zurechtruckelt und es ein Happy End
gibt, das alles macht das Publikum glücklich. Und im besten Fall auch ein
bisschen nachdenklich. Denn diese Schau erzählt fast nebenbei – mit klugen
Texten, professionellen Puppenspielern und feinen Anspielungen von nichts
weniger als der Gegenwart – charmant verpackt in die weiche, tief vertraute
Formensprache der Kindheit.
Wenn Erobique die Liebe auf die Weide treibt
Während anschließend die Musiker Carsten „Erobique“ Meyer und Paul Pötsch
mit ihrem Konzert „Wir treiben die Liebe auf die Weide“ ganz bestimmt nicht
mehr wollen, als – ohne jeden Anspruch auf Authentizität – die
Schlagermusik der DDR der 70er Jahre wiederzubeleben, bleibt beklemmend
vage, was die tags darauf auftretende russische Performancegrupppe „Vasya
Run“ umtreibt.
Das anonyme Kollektiv setzt sich aus Männern zwischen 18 und 28 Jahren aus
den Randbezirken Moskaus zusammen. Sie alle haben keine Bühnenausbildung,
aber viele Rituale. Ihr Kollektiv ist für sie zugleich ein Institut für
Selbsterkenntnis, ist Theater, Tempel, Schule und Residenz. Irgendwo auf
einer Datscha kommen die Mitglieder regelmäßig zusammen. „We do our
exercises there, sleep on yoga mats. Sometimes we do shooting practices. We
have a very nice time“, erläutert einer der Perfomer im Publikumsgespräch.
Sie sind (und bleiben) dort unter Männern. Alle kahl rasiert, groß und
breitschultrig. Bei diesen Äußerlichkeiten gehe es ihnen vor allem um die
Gleichschaltung, um die Uniformierung. Und schleichend bekommt die zunächst
sympathische Arglosigkeit, mit der sie von ihrer Jungsgruppe erzählen,
einen unangenehmen Unterton.
Ihre Arbeit „If you want to continue“ changiert irgendwo zwischen Mystik,
Mönchtum und Männerkult. Langsam bewegen sich die einander stark
gleichenden Performer durch den Raum. Mit Händen und Armen formen sie
ruhige, bedeutungsvolle Gesten. Durch ihre Vermummung erinnern sie an
Guerillakämpfer, die Texte, die sie flüstern und skandieren ,bleiben
absichtlich kryptisch. Beobachtet man gerade Hapkido-Meister bei ihrer
täglichen Übung, Rebellen im Planungsmodus oder ein paar Halbstarke bei der
Suche nach sich selbst?
„Oi!“ – plötzlich sind die Performer verschwunden
Später tanzen und rappen sie, nehmen „Oi!“-skandierend den Raum ein und
ziehen einzelne Zuschauer zum Mittanzen von ihren Sitzen. Und dann, von
einem Moment auf den anderen, sind die Performer verschwunden und nur mehr
das Publikum tanzt.
Es gehe „Vasya Run“ um die möglichst exakte Reproduktion der Wirklichkeit,
um das Bewusstsein für das Hier und Jetzt, erfährt man später. Auf den
griechisch-armenischen Esoteriker Georges Gurdjieff bezieht sich das
Kollektiv, auf dessen Werk „Der Vierte Weg“, in dem Gurdjieff – grob gesa…
– Aufmerksamkeit und Achtsamkeit der gegenwärtigen Zerstreutheit
entgegenstellt.
In „If you want to continue“ beschäftigen sich also sechs nicht ganz so
alte weiße Männer im martialischen Machtgestus mit der harmonischen
(Weiter-)Entwicklung des Menschen, zitieren Gangster-Kultur und
zweifelhaften Oi!-Punk. Das ist sicherlich faszinierend, vor allem aber
zeigt es einen gewaltverherrlichenden Gestus, der, so ungebrochen auf der
Bühne zelebriert, stark irritiert.
Wird Esoterik hier zum Deckmantel für moderne Freikorps-Romantik? Ist
jegliche Sensibilität für mögliche Strömungen von rechts ausgerechnet heute
zu Hause geblieben? Nur weil wir gerade auf dem Internationalen
Sommerfestival sind? Das bleibt ungewiss. Sicher ist: Mit der Kuscheligkeit
auf Kampnagel ist es nach diesem Abend ganz bestimmt vorbei.
11 Aug 2019
## AUTOREN
Katrin Ullmann
## TAGS
Theater
Performance
Festival
Kampnagel
Volkstanz
Erobique
Thalia-Theater
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