| # taz.de -- Musical „Cable Street“ in London: Endstation für den Faschismus | |
| > 1936 versperrten in London Kommunisten, Arbeiterinnen und Juden | |
| > Faschisten den Weg. Nun kommt die Schlacht in der Cable Street in einem | |
| > Musical zur Aufführung. | |
| Bild: Straßenschlacht in Szene gesetzt: „Cable Street“ in London | |
| Einst dominierten Hafenkneipen und billige Absteigen die knapp zwei | |
| Kilometer lange Cable Street, die sich durch das Londoner East End zieht. | |
| Heute ist die schmale Straße mit ihren Sozialwohnbauten, neben der sich auf | |
| Betonpfeilern die Strecke der Dockland-Light-Railway-Hochbahn schlängelt, | |
| fade und gähnend leer. Einzig eine große bunte Wandbemalung an der | |
| Seitenwand des ehemaligen Bezirksrathauses St George’s Town Hallerinnert an | |
| einen ganz bestimmten Moment vor knapp 88 Jahren, der Geschichte schrieb. | |
| Am Sonntag, dem 4. Oktober 1936, kam es hier zu gewalttätigen | |
| Auseinandersetzungen bei einer Demonstration der British Union of Fascists | |
| (BFU) – auch Blackshirts genannt – unter Anführung von [1][Oswald Mosley.] | |
| Während des einwöchigen jüdischen Laubhüttenfestes wollten Mosley und seine | |
| Blackshirts, geleitet von der Londoner Polizei, durch das größtenteils von | |
| verarmten jüdischen Einwander:innen aus Osteuropa bewohnte Viertel | |
| marschieren. | |
| Unter dem Leitspruch „They shall not pass“ stellten sich ihnen rund 250.000 | |
| Menschen entgegen: J[2][üdinnen und Juden,] unterstützt von Ir:innen, | |
| britischen Kommunist:innen, Anarchist:innen und Sozialist:innen. Die | |
| Schlacht in der Cable Street gilt heute als maßgeblich dafür, dass dem | |
| britischen Faschismus – anders als in Italien und Deutschland – | |
| buchstäblich der Weg versperrt wurde. | |
| „Wir hörten einen Mann schreien, wie schrecklich wir seien, und wie die | |
| Juden alle unterdrücken würden. Ich war Lohnarbeiter und tat nichts | |
| Illegales, und man beschimpfte mich mit allen erdenklichen Fluchworten. Das | |
| passte mir nicht“, erinnert sich Ubby Cowan in einem Kurzfilm. Die | |
| Erinnerung, wie er, damals 19 Jahre alt, bei dem Versuch der berittenen | |
| Polizisten, die Menge zu sprengen, quer durch ein Schaufenster fiel, und | |
| trotzdem weiter auf die Cable Street eilte, erzählte er sein Leben lang | |
| stolz bei jeder Gelegenheit. | |
| ## Geschichte außerhalb des linken Spektrums wenig bekannt | |
| Auch seinem Enkel, dem Bühnendesigner und Filmemacher Yoav Segal, der Cowan | |
| vor seinem Tod 2016 filmte und die Aufnahmen veröffentlichte. „Diese | |
| Geschichte sollte sich weiterverbreiten, da sie, bis auf in | |
| geschichtsbewussten linken Kreisen und in der jüdischen Gemeinschaft, nicht | |
| sehr bekannt ist“, sagt Segal im Gespräch mit der taz. | |
| Den britischen Komponisten und Lyriker Tim Gilvin, der über Segals | |
| Aufnahmen auf die ihm bis dahin unbekannte Geschichte der Schlacht in der | |
| Cable Street stieß, begeisterte sie umgehend. Sie sei ein wunderbares | |
| Beispiel dafür, wie sich eine Gesellschaft vereint, statt sich entlang | |
| kultureller Linien aufzuspalten, sagt er der taz. Auf ein solches Beispiel | |
| heute aufmerksam zu machen, erschien ihm wichtig hier im Vereinigten | |
| Königreich, wo sich die sozialen Spannungen im Zuge des Brexits verschärft | |
| haben. | |
| In Zusammenarbeit mit dem jüdisch-britischen Bühnenautor Alex Kanefsky | |
| entstand so die Idee, das Ganze auf die Bühne zu bringen: ausgerechnet als | |
| Musical. In Großbritannien sei der britische Kampf gegen die Nazis zwar | |
| schon oft auf der Bühne verhandelt worden, sagt Gilvin, „aber die Tatsache, | |
| dass Faschist:innen in den 1930ern auch hier mitten auf den Straßen | |
| Londons herumliefen, fehlte bisher“. | |
| Ihm und Kanefsky sei es darum gegangen, die Geschichte sowohl im Kopf als | |
| auch „tief im Bauch“ spürbar zu machen, wobei Musik helfe. | |
| Mit einem Mix aus Folk, Punk, Rap, Brit Pop und anderen Genres lässt | |
| Gilvin im Musical das damalige wie das heutige East End mit den „Stimmen | |
| dieses vielschichtigen Viertels“ lebendig werden. Für das Bühnendesign | |
| konnten sich Gilvin und Kanefsky niemand geeigneteren vorstellen als Yoav | |
| Segal. | |
| ## Restlos ausverkauft | |
| Danach befragt, sagt Segal, dass er bei der Umsetzung „vollkommen | |
| professionell und unemotional vorging“, als wären seine Gefühle etwas | |
| Negatives. „Ich hoffe, dass es Menschen zeigt, dass sie mehr gemeinsam | |
| haben“, sagt er bescheiden. Und doch kann er seine Begeisterung darüber, | |
| dass die damalige Schlacht, von der sein Großvater berichtet hatte, | |
| Bühnenrealität geworden ist, nicht ganz verbergen. | |
| Einen Monat lang, bis Mitte März, spielt „Cable Street“ im Londoner | |
| Southwark Playhouse. Mit 240 Sitzen gehört das Theater zwar eher zu den | |
| kleinen Bühnen der Stadt, dennoch waren nahezu alle Vorstellungen bereits | |
| Wochen vor der Premiere am 16. Februar vollkommen ausverkauft. | |
| „Vielleicht ist es das Bedürfnis nach Entlastung“, so erklärt sich die | |
| jüdische Schauspielerin Deborah Chazen den Erfolg. Sie ist eine der | |
| Hauptdarsteller:innen in „Cable Street“. „Es könnte auch das | |
| Selbsterkennen auf der Bühne sein. Etwas, das an die eigene Familie | |
| erinnert, oder die Hoffnung, dass sich alle, so wie damals auf der Cable | |
| Street, wieder vereinen.“ | |
| Auch Sha Dessi, die zuletzt Éponine in„Les Misérables“ im Londoner West E… | |
| spielte, ist von Cable Street angetan: „Ich spiele Mary, die Tochter einer | |
| irischen Einwanderin, die sofort versteht, dass sie sich den | |
| Faschist:innen in den Weg stellen muss“, sagt sie. | |
| ## Vielfalt im jüdischen East End | |
| Die Geschichte von „Cable Street“, wo sich verschiedene Kulturen und | |
| Menschen mischen und miteinander vereinen, erinnere sie an ihre Kindheit | |
| und Jugend im schweizerischen Genf. An ihrer Rolle Mary fasziniere sie | |
| deren Kühnheit: „Ich kann hier auf der Bühne ohne, dass ich mich dafür | |
| entschuldigen muss, garstig sein, und ich verstehe jetzt, wie Kleines in | |
| ganz große Dinge übergehen kann.“ | |
| Deborah Chazen, die selber ein Kind Londons ist, war sich seit jeher der | |
| Geschichte des jüdischen East Ends bewusst, hat dort sogar geheiratet. Sie | |
| wollte bewusst Teil der Inszenierung werden, aber nicht wie so oft auf | |
| Bühnen „nur die jüdische Mutter“ spielen. | |
| Die Gelegenheit bei diesem Musical mitzumachen, wollte sie für sich | |
| künstlerisch nutzen: So spielt sie die Mutter der irischen Mary und jeweils | |
| in Nebenrollen eine vor einem Pogrom in Osteuropa geflüchtete, kämpferische | |
| und jiddisch sprechende Frau sowie einen die Blackshirts schützenden | |
| Polizisten. | |
| ## Klares Zeichen gegen Faschismus und Antisemitismus | |
| [3][Seit dem 7. Oktober hat sich das Leben für Jüdinnen und Juden auch | |
| hier in London verändert.] Chazen sagt, dass sie sich selber oft lieber | |
| zurückziehe und ihr die derzeitigen Entwicklungen Angst machen würden: „Die | |
| zentrale Frage in,Cable Street' ist, ob du von der Seite zusiehst oder dich | |
| zum Mitkämpfen erhebst. Mehr Kraft, um selber die Initiative ergreifen zu | |
| können, ist etwas, was ich aus der Geschichte ins eigene Leben mitnehmen | |
| möchte“, sagt sie. | |
| Am liebsten wäre ihr, wenn das Musical die Fähigkeit hätte, | |
| Antisemit:innen umzupolen, doch derartige Leute kämen ihrer Erfahrung | |
| nach weniger zu solchen Aufführungen. | |
| „Cable Street“ in Form eines Musicals sei, so die Beteiligten, vor allem | |
| eins: „It’s fun!“ Und laut Givin ist das Potenzial des Musicals noch nicht | |
| ausgeschöpft. „Diese große Geschichte verdient eigentlich eine entsprechend | |
| große Bühne mit gut 50 Darsteller:innen, denn als sich Ostlondon gegen die | |
| Faschist:innen wehrte, waren da ja schließlich auch bis zu 250.000 | |
| Menschen auf den Straßen miteinander vereint“, sagt Gilvin. Ein klares | |
| Zeichen gegen Faschismus und Antisemitismus zeigt „Cable Street“ in jedem | |
| Fall: „They shall not pass!“ | |
| 7 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Antisemitismus-in-London/!5968373 | |
| [2] /Juedischer-Antifaschismus-in-England/!5814040 | |
| [3] /Antisemitismus-in-Grossbritannien/!5974011 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
| ## TAGS | |
| London | |
| Faschismus | |
| England | |
| Musical | |
| Kolumne Blast from the Past | |
| Münchner Kammerspiele | |
| Theatertreffen Berlin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Konzept gegen elitäre Theaterszene in UK: Black Outs in London | |
| Der US-amerikanische Dramatiker Jeremy O. Harris will in London nur | |
| schwarzes Publikum ins Theater lassen. Gegen sein Konzept gab es Proteste. | |
| Lesung Münchner Kammerspiele: Frauen als Schlachtfeld | |
| Düsterer Theaterabend: Die szenische Lesung „Schreiben über Die Situation“ | |
| deutet das Massaker der Hamas vom 7. Oktober. | |
| Abschluss des Theatertreffens in Berlin: Die Macht des Spiels erfahren | |
| Hamlets Knochen und Handke im Altenheim: Starker erzählerischer Zugriff und | |
| großartige Ensemble-Leistungen prägten das Theatertreffen. |