Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Linkspartei vor der Wahl in Bremen: Die letzte Chance
> Im Bund ein Trauerspiel, im rot-grün-roten Bremen läuft es besser. Ein
> mieses Wahlergebnis wäre für die Linkspartei dramatisch.
Bild: Eine Umarmung für Gregor Gysi von Kristina Vogt, Spitzenkandidatin der L…
Kristina Vogt steht auf der Bühne und blinzelt ins Scheinwerferlicht. Ein
Abend in Bremerhaven, es sind noch neun Tage bis zur Wahl am 14. Mai. Vogt
ist Wirtschaftssenatorin in Bremen und Spitzenkandidatin der Linkspartei.
Auch Gregor Gysi ist in die Aula der ehemaligen Schule gekommen,
Parteichefin Janine Wissler ebenfalls. Das ist viel Prominenz für
Bremerhaven, den kleineren, unansehnlicheren Teil des Bundeslands. Ein
Drittel der Menschen gilt hier als arm, so viele wie sonst nirgends in
Deutschland.
[1][Die Linkspartei ist im Bund in kläglichem Zustand.] Sahra Wagenknecht
droht mit Spaltung, Tausende sind seit dem Ukrainekrieg ausgetreten.
Manche, weil sie das Nein der GenossInnen zu Waffenlieferungen für die
Ukraine falsch finden, andere weil sie das Ja zu Sanktionen gegen Russland
zu viel finden. Die Stimmung ist finster. Nur Bremen ist ein Lichtblick.
Meine Partei, sagt Gysi, „braucht dringend ein Erfolgserlebnis“.
Dafür soll Kristina Vogt sorgen. Als sie zu reden beginnt, steht sie erst
mal knapp neben dem Lichtkegel. Wie jemand, der Rampenlicht nicht so recht
gewohnt ist. Hinter Vogt ist „dasneuerot“ zu lesen, der Wahlslogan der
Linkspartei in Bremen. Alles kleingeschrieben.
Das mag assoziativ nahelegen, dass die SPD, die hier seit 77 Jahren
regiert, das alte Rot ist. Aber auch das ist Florett, kein Degen. Politik
ohne Großbuchstaben und mit einem gewissen Fremdeln vor Scheinwerfern – ist
das das Erfolgsrezept der GenossInnen in Bremen?
## Unverwüstliche Street Credibility
Vogt (57) hat lange im ärmeren, migrantischen Bremer Westen gewohnt, ist
alleinerziehende Mutter, Fußballfan, war früher Kneipenwirtin und ist
insofern mit einer unverwüstlichen Street Credibility ausgestattet. „Wir
haben in der Krise schnell Maßnahmen ergriffen, die es sonst so nicht gab“,
sagt sie vor gut 100 GenossInnen in Bremerhaven.
Sie fordert „ein Recht auf Qualifizierungsanspruch“ und lobt, dass wir „d…
Mindestlohn an den TV-L gekoppelt haben“. TV-L heißt Tarifvertrag für den
öffentlichen Dienst der Länder. Dass der Mindestlohn in Bremen für
öffentliche Aufträge über 12 Euro liegt, könnte man auch ein bisschen
knalliger formulieren. Vogt tut das nicht.
Die Rede ähnelt eher einem Rechenschaftsbericht als einer Wahlkampfrede.
Auch wenn man die regionaltypische norddeutsche Kühle abzieht – die völlige
Abwesenheit von rhetorischer Zuspitzung ist verblüffend.
Oppositionsbashing? Das Klimaschutzpaket mit 2,5 Milliarden Euro, das
Bremen bis 2038 klimaneutral machen soll, „würde es mit CDU und FDP nicht
geben“, sagt sie. Mehr nicht. Kein Gut-Böse.
Die Linkspartei war in Bremen schon immer etwas Besonderes. Ein Labor. Hier
zog 2007 die erste linke Fraktion in ein westdeutsches Landesparlament ein.
Seit 2019 regieren die GenossInnen zusammen mit SPD und Grünen. Es ist die
einzige Regierungsbeteiligung der Linkspartei im Westen. Und die Bremer
Linke ist der einzige Landesverband, der sich für Waffenlieferungen an die
Ukraine ausgesprochen hat. 70 Prozent, schätzt ein linker Funktionär,
tragen den Pro-Waffenlieferungen-Kurs mit.
Nach der Veranstaltung steht Vogt im Türrahmen zum Hof. Draußen nieselt es,
sie muss jetzt erst mal eine rauchen. Die FAZ hat sie mal „Super-Realo“
genannt. Ist das so? „Die Hybris, mit der ich in den 80er Jahren den
Menschen die Welt erklären wollte, habe ich nicht mehr“, sagt sie. Und legt
den Kopf schief. Der Gradmesser für ihre Politik seien ihre Nachbarn,
Leiharbeiter, Verkäufer, Krankenschwestern. Die müssten trotz Inflation
Perspektiven haben. „Wir haben den Blick der Leute, die wenig Geld haben.“
Deshalb habe man das Sozialticket auf Wohngeldbezieher ausgeweitet. Und den
Ausbildungsfonds beschlossen.
Das klingt simpel, ist es aber nicht. Es fußt auf der Analyse, dass Angst
und Wut für Linke keine brauchbaren Aggregatzustände sind, die Aussichten
auf Verbesserung hingegen schon. Und die seien trotz Armut für den
Nordwesten eigentlich günstig, sagt Vogt. Künftig würden hier der Strom der
Offshore-Windparks und die Tanker mit Wasserstoff anlanden – und jede Menge
Jobs entstehen. „Wenn die Leute Angst haben, werden sie wütend“, sagt sie.
Dagegen helfen nur kleine, konkrete Schritte. Keine Fensterreden. Weiter
kann man von der Empörungsbewirtschaftung à la Wagenknecht kaum entfernt
sein.
Vogt und die linke Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard sind laut Umfragen
hinter dem populären SPD-Regierungschef Andreas Bovenschulte und dem
SPD-Fraktionschef [2][die beliebtesten Politikerinnen in Bremen] – vor den
grünen SenatorInnen. Das verdankt sich einer Kombination aus Zufall und
Können. Das Wirtschaftsressort rückte wegen der explodierenden
Energiepreise ins Zentrum. Und als Bernhard 2019 das eher unbeliebte
Gesundheitsressort übernahm, ahnte niemand, dass Corona anrollen würde.
Die Bremer Coronapolitik ist viel gelobt worden. Anstatt
Ressentiment-Debatten über impfunwillige MigrantInnen abzuwehren, schickte
man hier früh mobile Teams in ärmere Viertel. Das Ergebnis: Bremen lag im
bundesweiten Vergleich bei der Impfquote ganz vorn. Ein eher ungewohntes
Gefühl für die Hansestadt, die bei Bundesländervergleichen selten oben
landet.
Bernhard, 62, sitzt nach der Veranstaltung in Bremerhaven auf einem
Holzstuhl in einem Gang der ehemaligen Schule und sagt: „Wegen der Pandemie
konnten wir Ressourcen herauskämpfen, die Gesundheit vorher nicht hatte.
Zum Beispiel über 70 Stellen mehr im Gesundheitsamt.“ In Bremen kam viel
zusammen, um die Krise zu bewältigen – bürgerschaftlicher
Gemeinschaftsgeist und eben auch eine aktive Senatorin, die handfeste
Lösungen wollte.
Fast überschwänglich klingt das Zeugnis, dass Matthias Fonger,
Hauptgeschäftsführer der Handelskammer, der linken Gesundheitssenatorin
ausstellt. Die habe „die Idee der Wirtschaft aufgegriffen, ein großes
Impfzentrum einzurichten: Das war bundesweit einmalig.“ Das
Krisenmanagement sei „völlig unkompliziert gewesen“, die Coronapolitik in
Bremen „überdurchschnittlich gut“.
Dabei war der Start für Bernhard schwierig. Das Gesundheitsressort wurde
2019 neu zugeschnitten, Teile des Zentralbereichs fehlten. „Am Anfang bin
ich durch leere Flure gelaufen“, sagt sie. Und manche in ihrer Partei waren
auf die Senatorin anfangs auch nicht gut zu sprechen. Beim Parteitag 2021
attestieren ihr GenossInnen „rechte Politik“. Denn Bernhard wollte gut 400
Stellen in vier städtischen Krankenhäusern des Verbunds Gesundheit Nord
(GeNo) streichen. Sie solle sich „schämen“, Personal im Gesundheitssystem
abzubauen, hieß es.
Bernhard focht das nicht an. Man müsse den „exorbitanten Personalüberhang
in der Verwaltung“ beseitigen. Es helfe nichts, „ein falsch strukturiertes
System jährlich mit Millionen Euro zu schützen“. Damit würden die
städtischen Krankenhäuser nur zur „reifen Frucht für eine Privatisierung�…
sagt Bernhard.
Annette Düring war von 2009 bis Ende 2022 DGB-Chefin in Bremen. Ein wenig
hat ihr in den vergangenen vier Jahren die oppositionelle Linksfraktion
gefehlt, die sie bitten konnte, DGB-Anliegen in der Bürgerschaft
einzubringen. Andererseits gibt es jetzt den Ausbildungsfonds, den die
Gewerkschaften so lange gefordert hatten. Die SPD war nicht wirklich dafür,
die Grünen eher dagegen. „Eine Zwangsumlage helfe nicht“, so die
arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen 2019.
Jetzt gibt es die Umlage: Sie ist als Fonds organisiert, der die Kosten der
Berufsausbildung auf die Unternehmen im Land gerecht verteilen soll.
Einzahlen müssen alle. Teuer wird das für Firmen, die, gemessen an ihrer
Größe, nur wenige Azubis aufnehmen. Wer dagegen überproportional viel
ausbildet, profitiert, so die Idee. Das soll gegen den Fachkräftemangel
helfen und die Ausbildungsquote steigern.
„Unsinnig“, sagt Matthias Fonger, der für die Handelskammer spricht. Die
Wirtschaft sei „geschlossen dagegen“. Es gebe eine vergleichsweise hohe
Ausbildungsquote, und viele unbesetzte Lehrstellen. Das Konzept stamme aus
einer Zeit, als es viele BewerberInnen für wenige Lehrstellen gab. Doch
jenseits dieser Umlage fällt auch Fonger nur Gutes ein. Die
Wirtschaftssenatorin sei „pragmatisch und anpackend“. Das habe „auch viele
unserer Mitglieder überrascht, die eine ideologisierte Wirtschaftspolitik
erwartet hatten“, sagt er.
## Überhöhte Erwartungen
Der Zuspruch von DGB und Handelskammer mag gut tun. Aber Linke, die
regieren, haben oft ein anderes Problem als mangelnde Akzeptanz. Sie
scheitern häufig daran, nicht klarmachen zu können, was sie wollen, was sie
können und was sie – Sachzwang – eben nicht können. Und an überhöhten
Erwartungen der eigenen Klientel, die mitunter quer zum pragmatischen
Regierungsgeschäft stehen.
In Bremen gab es neben der GeNo zwei, drei solcher Punkte. Kleine Punkte.
Auf der Deichkrone sollen Platanen aus Gründen des Hochwasserschutzes
gefällt werden. Eine Bürgerinitiative wehrt sich dagegen. Die Linkspartei,
früher eher Verbündete solcher Bürgerinitiativen, vertritt den
Regierungskurs.
Ähnliches gilt für den Streit über die Ansiedlung einer Bahnwerkstatt auf
dem Gelände eines Gräberfelds von sowjetischen Kriegsgefangenen. Der
Friedhof hätte 1948 aufgelöst, die Leichen umgebettet werden sollen – doch
das geschah nur unvollkommen. Deshalb wehrt sich eine Initiative gegen die
Ansiedlung der Bahnwerkstatt in ihrem ohnehin mit Schadstoffen und Lärm
belasteten Stadtteil. Die Initiative will auf der Brache keinen
Industriebetrieb, sondern eine Gedenkstätte. Allerdings lehnen das
russische und das ukrainische Konsulat eine Gedenkstätte ab – und
bevorzugen „eine würdige Umbettung“. Die Linkspartei ist für die
Bahnwerkstatt.
Olaf Zimmer, Linkspartei-Abgeordneter in der Bürgerschaft, findet das
falsch. „In der Regierung sind wir für diese Initiativen nicht mehr
Verbündete, sondern Teil des Problems“, sagt er. Die einzige Opposition sei
dann die CDU. „Das ist fatal.“ Zimmer, der sich auf Wahlplakaten als
„unangepasst, kämpferisch, antikapitalistisch“ präsentiert, ist die
Verkörperung der innerparteilichen Opposition. Er ist strikt gegen
Waffenlieferungen, und, wie Wagenknecht, gegen Sanktionen.
Allerdings verdichtet sich die Kritik, dass die Linkspartei aus
Koalitionsraison Ideale sausen lässt, nicht zu einer brauchbaren
Verratsgeschichte. Gefällte Platanen taugen nicht als Sündenfall. Auch der
linksoppositionelle Zimmer sagt kein böses Wort über die Regierungs-Linken.
„Unsere Senatorinnen haben im Rahmen des Möglichen gute Arbeit gemacht. “
Zimmer hat, obwohl auf aussichtslosem Listenplatz gelandet, Chancen wieder
in die Bürgerschaft zu kommen. Denn in Bremen haben die WählerInnen fünf
Stimmen, mit denen sie auch Kandidatinnen nach vorn befördern können, die
deren Parteien nicht unbedingt im Parlament sehen. Allerdings bereitet auch
das den linken Realos in der Hansestadt keine schlaflosen Nächte. Eine
Bremer Linken-Politikerin sagt, sie fände es eher besorgniserregend, wenn
gar niemand mehr Kritik üben würde.
Wer solche Luxussorgen hat, muss um die innerparteiliche Geschlossenheit
nicht fürchten. Ein ziemlich exotische Situation in der ansonsten
zerstrittenen Bundes-Linken. Die Zweifel, ob sich das Experiment Regierung
gelohnt hat, halten sich in Bremen in Grenzen. 78,5 Prozent der GenossInnen
haben 2019 für den Koalitionsvertrag gestimmt. Anna Fischer, Co-Chefin der
Bremer Linken, vermutet, es sind „eher noch mehr geworden“. Regieren fühle
sich „ganz normal an“. Senatorin Bernhard hält das auch für einen Effekt
der Erfahrung, die die GenossInnen auf der Straße am Infostand gemacht
haben. Da hätten viele „von Passanten gehört, was eure linken Senatorinnen
machen sei ja toll“. Das habe gewirkt.
Nützlich war auch, dass Rot-Grün-Rot passabel zusammengearbeitet hat. Der
grüne Finanzsenator Dietmar Strehl fand die Linken „unproblematisch“.
Obwohl man beim Geld weit auseinander ist. Die Grünen führten in Bremen
eine besonders rigide Schuldenbremse ein, Linksparteichef Christoph Spehr
attestierte ihnen damals ein „religiöses Verhältnis zur schwarzen Null“.
Die Verhandlungen um Finanzierungen der nötigen Coronahilfen war, so klagen
manche Linke, zäh. Die linke Gesundheitssenatorin riet Klinikbeschäftigten,
die vor ihrer Behörde demonstrierten, doch besser einmal vor dem Sitz des
Finanzressorts zu protestieren. Ein kurzer Aufreger – nebst öffentlicher
Entschuldigung danach. Dauerstreit wie bei der Bundesampel gab es nicht.
„Beim Geldausgeben habe ich eine andere Grundhaltung als die Linken“, sagt
Strehl. Doch mit den Linken, „mit denen ich in meinem Bereich politisch
zusammengearbeitet habe, kann man reden“, so der grüne Senator.
Und die Linkspartei im Bund? Ihr letztes bekanntes Gesicht ist Gregor Gysi.
Mit 75 und hat noch immer etwas Jungenhaftes an sich. Er gibt in
Bremerhaven noch immer den pfiffigen Clown, der der Macht eine Nase dreht.
Er spricht über den Ukrainekrieg, die Inflation, die Ampel und sagt: „Es
gibt nur eine Regierung, die nicht überfordert wäre – eine unter meiner
Leitung.“ Er streut Anekdoten aus seinem Leben ein und schafft irgendwie
eine wärmende, familiäre Atmosphäre. Gysi ist wie ein alter Rock ’n’
Roller. Man hört die alten Hits gern noch mal. Aber so wie früher ist es
nicht mehr.
Für Gysis Verurteilung von Putins Krieg gibt es viel Applaus, für den Satz,
dass „die Grünen nichts anderes kennen als Verbote“ (früher Copyright FDP)
weniger. Gysi war immer der Zentrist, der Versöhner. Wo er war, war die
Mitte der Partei. Er ist noch da, die Mitte nicht mehr.
Als Janine Wissler ans Mikro tritt, wird es sofort doppelt so laut. Sie
fordert eine Vermögensteuer, eine konsequente Klimapolitik, die
Kindergrundsicherung, Politik für Geflüchtete und noch einiges mehr. „Wer
von Armut redet, darf von Reichtum nicht schweigen“, sagt sie und rudert
mit den Armen. Wissler hat mit vielem Recht. Aber sie hat in immer der
gleichen Tonart Recht: laute Anklage gegen unfassbare Ungerechtigkeit.
Vielleicht ergeben diese beiden Auftritte ein Bild der Krise der
Linkspartei im Bund: der verblassende Charme der Opposition von früher,
heute ein unpersönlich wirkendes Forderungsstakkato.
## Mixtur aus Gefühlspazifismus und Steinzeit-Antiimperialismus
Szenenwechsel, [3][Bürgerhaus Hannover Misburg, acht Tage vor der Wahl.
Hier treffen sich rund 240 Wagenknecht-AnhängerInnen.] Es ist der Teil der
Partei, an dem Gysis Versuch, den Laden doch noch mal notdürftig
zusammenzunageln, abprallt. Man liest hier junge Welt. Etwa die Hälfte ist
über 70 Jahre, vielleicht ein Viertel ist jung. „Was tun?!“, steht in
großen Lettern auf einem Banner. Eine Partei gründen – oder doch nicht?
Fast alle RednerInnen legen nahe, der Ukrainekrieg gehe auf das Konto der
USA. Man müsse „zurück zu Marx und Engels, der Kriegspropaganda
widerstehen“ und an die Tradition der Arbeiterbewegung erinnern. Das klingt
mitunter wie ein DKP-Parteitag, bei dem sich der Raum zwischen der
Bedeutungslosigkeit einer 0,1-Prozent-Partei und der Weltgeschichte immer
mühelos durch Anrufung einer imaginären Arbeiterklasse überbrücken ließ.
Die linke Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen behauptet, wie 1914 stehe
„der Hauptfeind im eigenen Land“. 1914, soll das heißen, hat die SPD die
Arbeiterklasse verraten, heute tue das die Linkspartei, die „an die Spitze
der Kriegstreiber“ stehe. Die Linkspartei sei, so Ralf Krämer, der
strategische Kopf des Ganzen, „der linke Flügel des herrschenden Blocks
geworden“.
Die Reden verströmen eine Mixtur aus Gefühlspazifismus, der schon immer zur
DNA der Linkspartei gehörte, und einem Steinzeit-Antiimperialismus, der
seit dem 24. Februar 2022 in Trümmern liegt. Nur hier im Bürgerhaus Misburg
mit Glasbausteinen, Kaffee mit Milch für 2 Euro und ausgehärteten
Weltbildern hat er kratzerfrei überlebt.
Wenn man nach ein paar Stunden empörter Reden über Nato und
Linkspartei-Verrat kurz die Augen schließt, kann man den Gedanken haben,
dass nicht Putin die Ukraine überfallen hat, sondern die Nato Russland. Und
Bodo Ramelow, Lieblingsfeind der Wagenknecht-AnhängerInnen, rollt gerade im
Panzer nach Moskau.
Diese linke Opposition verbindet drei Ideen. Der Ukrainekonflikt sei ein
Stellvertreterkrieg der Nato. Die wahren Bösen sind, egal was passiert,
immer die USA. Außerdem setze die Linkspartei auf Identitätspolitik und
Moralklimbim anstatt an der Seite der Arbeiterbewegung zu kämpfen. Dass
StudentInnen einfach so Kreisvorsitzende werden, sorgt hier für ähnliches
Entsetzen wie die Lieferung von Kampfpanzern an Kiew.
## Wagenknecht zögert
Zudem hat man – dritter Identitätsmarker – zu Grünen ein frostiges
Verhältnis. Das Problem ist: Eine Partei, die Putin für gar nicht so
schlimm hält, Wokeness und Grüne verachtet, gibt es bereits. Man braucht
schon etwas Fantasie, um sich eine AfD light plus Arbeiterklassenrhetorik
plus „demokratischer und ökologischer Sozialismus“ (Ralf Krämer) als
Erfolgsmodell vorzustellen.
Am Ende beschließt man, dass man nichts beschließt. Für die neue Partei
müsste erst Wagenknecht wollen, aber die zögert und zögert. Dann müssten
die 250 GenossInnen überlegen, ob sie auch wollen. Eine One-Woman-Show
würde hier auf wenig Gegenliebe stoßen. Mit „mal sehen“ und „würde“ …
noch keine Partei gegründet worden. Klar ist nur: Wenn dies der Nukleus
einer neuen Partei wird, hat er graue Haare und klingt nach gestern.
Cornelia Barth, 64, macht vor dem Bürgerhaus Misburg mal kurz Pause. Die
Sozialarbeiterin war von 2017 bis 2022 Vorsitzende der Bremer Linken. Keine
Berufspolitikerin, betont sie. Auf dem Podium hat sie gerade um fünf
Stimmen für Olaf Zimmer geworben, damit einer, der Nein zum Kriegskurs der
Linkspartei sagt, wieder in die Bürgerschaft kommt.
Bei der Bremer Linken vermisst sie „eine ehrliche Kommunikation“, und
kritisiert, nun ja, die Abholzung der Platanen und die Ansiedlung des
Bahnwerks. Und sonst? „Unsere Senatorinnen haben einen super Job gemacht“,
sagt sie. Es ist nicht einfach, Bremer Linke zu finden, die sich wenigstens
ein bisschen hassen.
Auch wenn man in Bremen GenossInnen nach dem Kampf zwischen Wokeness und
Arbeitertraditionalisten fragt, [4][der den Landesverband NRW gerade
ruiniert hat,] stößt man auf freundliches Desinteresse. Gesinnungsschlacht
um das Gendern? Hat man von gehört. Beim neuen Gleichstellungsgesetz und
der Berücksichtigung von trans Frauen hat es etwas geknirscht. Aber um
daraus einen Kampf Gut gegen Böse zu machen, fehlte es an mit ausreichend
Sendungsbewusstsein ausgestattetem Personal.
## Was, wenn das nicht hilft?
Man kenne sich und treffe sich zu oft, um sich zu zerlegen, heißt es. Der
Bremer Pragmatismus ist eine Haltung, in der auch die ideologischen
Dum-Dum-Geschosse, die die Linkspartei derzeit zerfetzen, in Watte landen.
Im Bund liegt die Linke bei Umfragen zwischen 4 und 5 Prozent. In Bremen
bei 9 Prozent. 2019 bekamen die Bremer Linken 11,3 Prozent. Das waren
damals 4 Prozent mehr als der Bundestrend – und mehr wird schwierig.
Kristina Vogt zitiert gern eine Umfrage, der zufolge 40 Prozent der
WählerInnen sich nicht für Landespolitik interessieren. In der Straße, in
er sie wohnt, wüssten manche nicht, wer Andreas Bovenschulte sei. Da ist es
schwer, mit dem Sozialticket für WohngeldempfängerInnen zu glänzen.
Die Bremer Linkspartei hat viel richtig gemacht. Sie ist pragmatisch, aber
nicht, wie früher manche PDS-MinisterInnen, vor allem auf Anerkennung durch
die Etablierten erpicht. Sondern auf Unterscheidbarkeit. Es nutze nichts,
so Landeschef Spehr, nur immer 1 Euro Mindestlohn mehr als die SPD zu
fordern. Man müsse, so wie bei der Corona-Impfkampagne, „eine
missionsorientierte Politik“ machen. Wendiger, veränderungswilliger als die
SPD. Die Bremer Linke zeigt, dass kleinteilige Reformen mehr wert sind als
großspurige Rechthaberei. Gregor Gysi sagt, dass man hier sehe, was die
Linkspartei „ohne ideologisches Geschwätz“ erreichen kann.
Aber was, wenn all das am Wahlsonntag nicht hilft? Wenn auch Gebrauchswert
zu haben und ruinöse Identitätsdebatten zu umschiffen, nichts nutzt? Dann
würde sich eine ganz bittere Frage stellen: Wer braucht die Linkspartei
noch? Gerade weil Bremen immer ein Labor war.
13 May 2023
## LINKS
[1] /Korte-zum-Niedergang-der-Linkspartei/!5929567
[2] /Politologe-ueber-Bremer-Wahlkampf/!5927307
[3] /Linken-Kongress-in-Hannover/!5932561
[4] /NRW-Linke-gegen-den-Spaltpilz/!5928501
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Benno Schirrmeister
## TAGS
Schwerpunkt Bürgerschaftswahl Bremen 2023
Die Linke
Kristina Vogt
Claudia Bernhard
Wahlkampf
Gregor Gysi
Sahra Wagenknecht
Janine Wissler
wochentaz
Lesestück Recherche und Reportage
GNS
Schwerpunkt Bürgerschaftswahl Bremen 2023
Schwerpunkt Bürgerschaftswahl Bremen 2023
AfD Bremen
Die Linke
Bundestag
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wahl zur Bremer Bürgschaft: Bovi rockt durch in Bremen
Sie ist wieder stärkste Kraft, und zwar deutlich: Die SPD holt in Bremen 30
Prozent. Eine Koalition mit Grünen und Linken scheint erneut möglich.
+++ Nachrichten zur Bremen-Wahl +++: Maike Schaefer tritt zurück
Nach der Wahlschlappe will die Spitzenkandidatin der Bremer Grünen keinen
Posten im nächsten Senat übernehmen. Die SPD wird klar stärkste Kraft.
Vor der Wahl in Bremen: Niemals ist das Land rechts
Noch nie hat in Bremen eine AfD-Fraktion eine Legislatur überdauert. Auch
wenn sich das nicht ändert, gibt es nicht unbedingt Grund zum Jubilieren.
Linken-Kongress in Hannover: Spaltung steht weiter im Raum
Rund 240 Mitglieder der Linken versammelten sich am Samstag in Hannover.
Sie machten ihrer Wut auf die aktuelle Parteiführung Luft.
Korte zum Niedergang der Linkspartei: „Es geht jetzt um alles oder nichts“
Jan Korte zieht sich als Parlamentarischer Geschäftsführer zurück. Er warnt
vor dem Zerfall der Linkspartei – und geht in Sachen Wagenknecht eine Wette
ein.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.