# taz.de -- Linkspartei vor der Wahl in Bremen: Die letzte Chance | |
> Im Bund ein Trauerspiel, im rot-grün-roten Bremen läuft es besser. Ein | |
> mieses Wahlergebnis wäre für die Linkspartei dramatisch. | |
Bild: Eine Umarmung für Gregor Gysi von Kristina Vogt, Spitzenkandidatin der L… | |
Kristina Vogt steht auf der Bühne und blinzelt ins Scheinwerferlicht. Ein | |
Abend in Bremerhaven, es sind noch neun Tage bis zur Wahl am 14. Mai. Vogt | |
ist Wirtschaftssenatorin in Bremen und Spitzenkandidatin der Linkspartei. | |
Auch Gregor Gysi ist in die Aula der ehemaligen Schule gekommen, | |
Parteichefin Janine Wissler ebenfalls. Das ist viel Prominenz für | |
Bremerhaven, den kleineren, unansehnlicheren Teil des Bundeslands. Ein | |
Drittel der Menschen gilt hier als arm, so viele wie sonst nirgends in | |
Deutschland. | |
[1][Die Linkspartei ist im Bund in kläglichem Zustand.] Sahra Wagenknecht | |
droht mit Spaltung, Tausende sind seit dem Ukrainekrieg ausgetreten. | |
Manche, weil sie das Nein der GenossInnen zu Waffenlieferungen für die | |
Ukraine falsch finden, andere weil sie das Ja zu Sanktionen gegen Russland | |
zu viel finden. Die Stimmung ist finster. Nur Bremen ist ein Lichtblick. | |
Meine Partei, sagt Gysi, „braucht dringend ein Erfolgserlebnis“. | |
Dafür soll Kristina Vogt sorgen. Als sie zu reden beginnt, steht sie erst | |
mal knapp neben dem Lichtkegel. Wie jemand, der Rampenlicht nicht so recht | |
gewohnt ist. Hinter Vogt ist „dasneuerot“ zu lesen, der Wahlslogan der | |
Linkspartei in Bremen. Alles kleingeschrieben. | |
Das mag assoziativ nahelegen, dass die SPD, die hier seit 77 Jahren | |
regiert, das alte Rot ist. Aber auch das ist Florett, kein Degen. Politik | |
ohne Großbuchstaben und mit einem gewissen Fremdeln vor Scheinwerfern – ist | |
das das Erfolgsrezept der GenossInnen in Bremen? | |
## Unverwüstliche Street Credibility | |
Vogt (57) hat lange im ärmeren, migrantischen Bremer Westen gewohnt, ist | |
alleinerziehende Mutter, Fußballfan, war früher Kneipenwirtin und ist | |
insofern mit einer unverwüstlichen Street Credibility ausgestattet. „Wir | |
haben in der Krise schnell Maßnahmen ergriffen, die es sonst so nicht gab“, | |
sagt sie vor gut 100 GenossInnen in Bremerhaven. | |
Sie fordert „ein Recht auf Qualifizierungsanspruch“ und lobt, dass wir „d… | |
Mindestlohn an den TV-L gekoppelt haben“. TV-L heißt Tarifvertrag für den | |
öffentlichen Dienst der Länder. Dass der Mindestlohn in Bremen für | |
öffentliche Aufträge über 12 Euro liegt, könnte man auch ein bisschen | |
knalliger formulieren. Vogt tut das nicht. | |
Die Rede ähnelt eher einem Rechenschaftsbericht als einer Wahlkampfrede. | |
Auch wenn man die regionaltypische norddeutsche Kühle abzieht – die völlige | |
Abwesenheit von rhetorischer Zuspitzung ist verblüffend. | |
Oppositionsbashing? Das Klimaschutzpaket mit 2,5 Milliarden Euro, das | |
Bremen bis 2038 klimaneutral machen soll, „würde es mit CDU und FDP nicht | |
geben“, sagt sie. Mehr nicht. Kein Gut-Böse. | |
Die Linkspartei war in Bremen schon immer etwas Besonderes. Ein Labor. Hier | |
zog 2007 die erste linke Fraktion in ein westdeutsches Landesparlament ein. | |
Seit 2019 regieren die GenossInnen zusammen mit SPD und Grünen. Es ist die | |
einzige Regierungsbeteiligung der Linkspartei im Westen. Und die Bremer | |
Linke ist der einzige Landesverband, der sich für Waffenlieferungen an die | |
Ukraine ausgesprochen hat. 70 Prozent, schätzt ein linker Funktionär, | |
tragen den Pro-Waffenlieferungen-Kurs mit. | |
Nach der Veranstaltung steht Vogt im Türrahmen zum Hof. Draußen nieselt es, | |
sie muss jetzt erst mal eine rauchen. Die FAZ hat sie mal „Super-Realo“ | |
genannt. Ist das so? „Die Hybris, mit der ich in den 80er Jahren den | |
Menschen die Welt erklären wollte, habe ich nicht mehr“, sagt sie. Und legt | |
den Kopf schief. Der Gradmesser für ihre Politik seien ihre Nachbarn, | |
Leiharbeiter, Verkäufer, Krankenschwestern. Die müssten trotz Inflation | |
Perspektiven haben. „Wir haben den Blick der Leute, die wenig Geld haben.“ | |
Deshalb habe man das Sozialticket auf Wohngeldbezieher ausgeweitet. Und den | |
Ausbildungsfonds beschlossen. | |
Das klingt simpel, ist es aber nicht. Es fußt auf der Analyse, dass Angst | |
und Wut für Linke keine brauchbaren Aggregatzustände sind, die Aussichten | |
auf Verbesserung hingegen schon. Und die seien trotz Armut für den | |
Nordwesten eigentlich günstig, sagt Vogt. Künftig würden hier der Strom der | |
Offshore-Windparks und die Tanker mit Wasserstoff anlanden – und jede Menge | |
Jobs entstehen. „Wenn die Leute Angst haben, werden sie wütend“, sagt sie. | |
Dagegen helfen nur kleine, konkrete Schritte. Keine Fensterreden. Weiter | |
kann man von der Empörungsbewirtschaftung à la Wagenknecht kaum entfernt | |
sein. | |
Vogt und die linke Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard sind laut Umfragen | |
hinter dem populären SPD-Regierungschef Andreas Bovenschulte und dem | |
SPD-Fraktionschef [2][die beliebtesten Politikerinnen in Bremen] – vor den | |
grünen SenatorInnen. Das verdankt sich einer Kombination aus Zufall und | |
Können. Das Wirtschaftsressort rückte wegen der explodierenden | |
Energiepreise ins Zentrum. Und als Bernhard 2019 das eher unbeliebte | |
Gesundheitsressort übernahm, ahnte niemand, dass Corona anrollen würde. | |
Die Bremer Coronapolitik ist viel gelobt worden. Anstatt | |
Ressentiment-Debatten über impfunwillige MigrantInnen abzuwehren, schickte | |
man hier früh mobile Teams in ärmere Viertel. Das Ergebnis: Bremen lag im | |
bundesweiten Vergleich bei der Impfquote ganz vorn. Ein eher ungewohntes | |
Gefühl für die Hansestadt, die bei Bundesländervergleichen selten oben | |
landet. | |
Bernhard, 62, sitzt nach der Veranstaltung in Bremerhaven auf einem | |
Holzstuhl in einem Gang der ehemaligen Schule und sagt: „Wegen der Pandemie | |
konnten wir Ressourcen herauskämpfen, die Gesundheit vorher nicht hatte. | |
Zum Beispiel über 70 Stellen mehr im Gesundheitsamt.“ In Bremen kam viel | |
zusammen, um die Krise zu bewältigen – bürgerschaftlicher | |
Gemeinschaftsgeist und eben auch eine aktive Senatorin, die handfeste | |
Lösungen wollte. | |
Fast überschwänglich klingt das Zeugnis, dass Matthias Fonger, | |
Hauptgeschäftsführer der Handelskammer, der linken Gesundheitssenatorin | |
ausstellt. Die habe „die Idee der Wirtschaft aufgegriffen, ein großes | |
Impfzentrum einzurichten: Das war bundesweit einmalig.“ Das | |
Krisenmanagement sei „völlig unkompliziert gewesen“, die Coronapolitik in | |
Bremen „überdurchschnittlich gut“. | |
Dabei war der Start für Bernhard schwierig. Das Gesundheitsressort wurde | |
2019 neu zugeschnitten, Teile des Zentralbereichs fehlten. „Am Anfang bin | |
ich durch leere Flure gelaufen“, sagt sie. Und manche in ihrer Partei waren | |
auf die Senatorin anfangs auch nicht gut zu sprechen. Beim Parteitag 2021 | |
attestieren ihr GenossInnen „rechte Politik“. Denn Bernhard wollte gut 400 | |
Stellen in vier städtischen Krankenhäusern des Verbunds Gesundheit Nord | |
(GeNo) streichen. Sie solle sich „schämen“, Personal im Gesundheitssystem | |
abzubauen, hieß es. | |
Bernhard focht das nicht an. Man müsse den „exorbitanten Personalüberhang | |
in der Verwaltung“ beseitigen. Es helfe nichts, „ein falsch strukturiertes | |
System jährlich mit Millionen Euro zu schützen“. Damit würden die | |
städtischen Krankenhäuser nur zur „reifen Frucht für eine Privatisierung�… | |
sagt Bernhard. | |
Annette Düring war von 2009 bis Ende 2022 DGB-Chefin in Bremen. Ein wenig | |
hat ihr in den vergangenen vier Jahren die oppositionelle Linksfraktion | |
gefehlt, die sie bitten konnte, DGB-Anliegen in der Bürgerschaft | |
einzubringen. Andererseits gibt es jetzt den Ausbildungsfonds, den die | |
Gewerkschaften so lange gefordert hatten. Die SPD war nicht wirklich dafür, | |
die Grünen eher dagegen. „Eine Zwangsumlage helfe nicht“, so die | |
arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen 2019. | |
Jetzt gibt es die Umlage: Sie ist als Fonds organisiert, der die Kosten der | |
Berufsausbildung auf die Unternehmen im Land gerecht verteilen soll. | |
Einzahlen müssen alle. Teuer wird das für Firmen, die, gemessen an ihrer | |
Größe, nur wenige Azubis aufnehmen. Wer dagegen überproportional viel | |
ausbildet, profitiert, so die Idee. Das soll gegen den Fachkräftemangel | |
helfen und die Ausbildungsquote steigern. | |
„Unsinnig“, sagt Matthias Fonger, der für die Handelskammer spricht. Die | |
Wirtschaft sei „geschlossen dagegen“. Es gebe eine vergleichsweise hohe | |
Ausbildungsquote, und viele unbesetzte Lehrstellen. Das Konzept stamme aus | |
einer Zeit, als es viele BewerberInnen für wenige Lehrstellen gab. Doch | |
jenseits dieser Umlage fällt auch Fonger nur Gutes ein. Die | |
Wirtschaftssenatorin sei „pragmatisch und anpackend“. Das habe „auch viele | |
unserer Mitglieder überrascht, die eine ideologisierte Wirtschaftspolitik | |
erwartet hatten“, sagt er. | |
## Überhöhte Erwartungen | |
Der Zuspruch von DGB und Handelskammer mag gut tun. Aber Linke, die | |
regieren, haben oft ein anderes Problem als mangelnde Akzeptanz. Sie | |
scheitern häufig daran, nicht klarmachen zu können, was sie wollen, was sie | |
können und was sie – Sachzwang – eben nicht können. Und an überhöhten | |
Erwartungen der eigenen Klientel, die mitunter quer zum pragmatischen | |
Regierungsgeschäft stehen. | |
In Bremen gab es neben der GeNo zwei, drei solcher Punkte. Kleine Punkte. | |
Auf der Deichkrone sollen Platanen aus Gründen des Hochwasserschutzes | |
gefällt werden. Eine Bürgerinitiative wehrt sich dagegen. Die Linkspartei, | |
früher eher Verbündete solcher Bürgerinitiativen, vertritt den | |
Regierungskurs. | |
Ähnliches gilt für den Streit über die Ansiedlung einer Bahnwerkstatt auf | |
dem Gelände eines Gräberfelds von sowjetischen Kriegsgefangenen. Der | |
Friedhof hätte 1948 aufgelöst, die Leichen umgebettet werden sollen – doch | |
das geschah nur unvollkommen. Deshalb wehrt sich eine Initiative gegen die | |
Ansiedlung der Bahnwerkstatt in ihrem ohnehin mit Schadstoffen und Lärm | |
belasteten Stadtteil. Die Initiative will auf der Brache keinen | |
Industriebetrieb, sondern eine Gedenkstätte. Allerdings lehnen das | |
russische und das ukrainische Konsulat eine Gedenkstätte ab – und | |
bevorzugen „eine würdige Umbettung“. Die Linkspartei ist für die | |
Bahnwerkstatt. | |
Olaf Zimmer, Linkspartei-Abgeordneter in der Bürgerschaft, findet das | |
falsch. „In der Regierung sind wir für diese Initiativen nicht mehr | |
Verbündete, sondern Teil des Problems“, sagt er. Die einzige Opposition sei | |
dann die CDU. „Das ist fatal.“ Zimmer, der sich auf Wahlplakaten als | |
„unangepasst, kämpferisch, antikapitalistisch“ präsentiert, ist die | |
Verkörperung der innerparteilichen Opposition. Er ist strikt gegen | |
Waffenlieferungen, und, wie Wagenknecht, gegen Sanktionen. | |
Allerdings verdichtet sich die Kritik, dass die Linkspartei aus | |
Koalitionsraison Ideale sausen lässt, nicht zu einer brauchbaren | |
Verratsgeschichte. Gefällte Platanen taugen nicht als Sündenfall. Auch der | |
linksoppositionelle Zimmer sagt kein böses Wort über die Regierungs-Linken. | |
„Unsere Senatorinnen haben im Rahmen des Möglichen gute Arbeit gemacht. “ | |
Zimmer hat, obwohl auf aussichtslosem Listenplatz gelandet, Chancen wieder | |
in die Bürgerschaft zu kommen. Denn in Bremen haben die WählerInnen fünf | |
Stimmen, mit denen sie auch Kandidatinnen nach vorn befördern können, die | |
deren Parteien nicht unbedingt im Parlament sehen. Allerdings bereitet auch | |
das den linken Realos in der Hansestadt keine schlaflosen Nächte. Eine | |
Bremer Linken-Politikerin sagt, sie fände es eher besorgniserregend, wenn | |
gar niemand mehr Kritik üben würde. | |
Wer solche Luxussorgen hat, muss um die innerparteiliche Geschlossenheit | |
nicht fürchten. Ein ziemlich exotische Situation in der ansonsten | |
zerstrittenen Bundes-Linken. Die Zweifel, ob sich das Experiment Regierung | |
gelohnt hat, halten sich in Bremen in Grenzen. 78,5 Prozent der GenossInnen | |
haben 2019 für den Koalitionsvertrag gestimmt. Anna Fischer, Co-Chefin der | |
Bremer Linken, vermutet, es sind „eher noch mehr geworden“. Regieren fühle | |
sich „ganz normal an“. Senatorin Bernhard hält das auch für einen Effekt | |
der Erfahrung, die die GenossInnen auf der Straße am Infostand gemacht | |
haben. Da hätten viele „von Passanten gehört, was eure linken Senatorinnen | |
machen sei ja toll“. Das habe gewirkt. | |
Nützlich war auch, dass Rot-Grün-Rot passabel zusammengearbeitet hat. Der | |
grüne Finanzsenator Dietmar Strehl fand die Linken „unproblematisch“. | |
Obwohl man beim Geld weit auseinander ist. Die Grünen führten in Bremen | |
eine besonders rigide Schuldenbremse ein, Linksparteichef Christoph Spehr | |
attestierte ihnen damals ein „religiöses Verhältnis zur schwarzen Null“. | |
Die Verhandlungen um Finanzierungen der nötigen Coronahilfen war, so klagen | |
manche Linke, zäh. Die linke Gesundheitssenatorin riet Klinikbeschäftigten, | |
die vor ihrer Behörde demonstrierten, doch besser einmal vor dem Sitz des | |
Finanzressorts zu protestieren. Ein kurzer Aufreger – nebst öffentlicher | |
Entschuldigung danach. Dauerstreit wie bei der Bundesampel gab es nicht. | |
„Beim Geldausgeben habe ich eine andere Grundhaltung als die Linken“, sagt | |
Strehl. Doch mit den Linken, „mit denen ich in meinem Bereich politisch | |
zusammengearbeitet habe, kann man reden“, so der grüne Senator. | |
Und die Linkspartei im Bund? Ihr letztes bekanntes Gesicht ist Gregor Gysi. | |
Mit 75 und hat noch immer etwas Jungenhaftes an sich. Er gibt in | |
Bremerhaven noch immer den pfiffigen Clown, der der Macht eine Nase dreht. | |
Er spricht über den Ukrainekrieg, die Inflation, die Ampel und sagt: „Es | |
gibt nur eine Regierung, die nicht überfordert wäre – eine unter meiner | |
Leitung.“ Er streut Anekdoten aus seinem Leben ein und schafft irgendwie | |
eine wärmende, familiäre Atmosphäre. Gysi ist wie ein alter Rock ’n’ | |
Roller. Man hört die alten Hits gern noch mal. Aber so wie früher ist es | |
nicht mehr. | |
Für Gysis Verurteilung von Putins Krieg gibt es viel Applaus, für den Satz, | |
dass „die Grünen nichts anderes kennen als Verbote“ (früher Copyright FDP) | |
weniger. Gysi war immer der Zentrist, der Versöhner. Wo er war, war die | |
Mitte der Partei. Er ist noch da, die Mitte nicht mehr. | |
Als Janine Wissler ans Mikro tritt, wird es sofort doppelt so laut. Sie | |
fordert eine Vermögensteuer, eine konsequente Klimapolitik, die | |
Kindergrundsicherung, Politik für Geflüchtete und noch einiges mehr. „Wer | |
von Armut redet, darf von Reichtum nicht schweigen“, sagt sie und rudert | |
mit den Armen. Wissler hat mit vielem Recht. Aber sie hat in immer der | |
gleichen Tonart Recht: laute Anklage gegen unfassbare Ungerechtigkeit. | |
Vielleicht ergeben diese beiden Auftritte ein Bild der Krise der | |
Linkspartei im Bund: der verblassende Charme der Opposition von früher, | |
heute ein unpersönlich wirkendes Forderungsstakkato. | |
## Mixtur aus Gefühlspazifismus und Steinzeit-Antiimperialismus | |
Szenenwechsel, [3][Bürgerhaus Hannover Misburg, acht Tage vor der Wahl. | |
Hier treffen sich rund 240 Wagenknecht-AnhängerInnen.] Es ist der Teil der | |
Partei, an dem Gysis Versuch, den Laden doch noch mal notdürftig | |
zusammenzunageln, abprallt. Man liest hier junge Welt. Etwa die Hälfte ist | |
über 70 Jahre, vielleicht ein Viertel ist jung. „Was tun?!“, steht in | |
großen Lettern auf einem Banner. Eine Partei gründen – oder doch nicht? | |
Fast alle RednerInnen legen nahe, der Ukrainekrieg gehe auf das Konto der | |
USA. Man müsse „zurück zu Marx und Engels, der Kriegspropaganda | |
widerstehen“ und an die Tradition der Arbeiterbewegung erinnern. Das klingt | |
mitunter wie ein DKP-Parteitag, bei dem sich der Raum zwischen der | |
Bedeutungslosigkeit einer 0,1-Prozent-Partei und der Weltgeschichte immer | |
mühelos durch Anrufung einer imaginären Arbeiterklasse überbrücken ließ. | |
Die linke Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen behauptet, wie 1914 stehe | |
„der Hauptfeind im eigenen Land“. 1914, soll das heißen, hat die SPD die | |
Arbeiterklasse verraten, heute tue das die Linkspartei, die „an die Spitze | |
der Kriegstreiber“ stehe. Die Linkspartei sei, so Ralf Krämer, der | |
strategische Kopf des Ganzen, „der linke Flügel des herrschenden Blocks | |
geworden“. | |
Die Reden verströmen eine Mixtur aus Gefühlspazifismus, der schon immer zur | |
DNA der Linkspartei gehörte, und einem Steinzeit-Antiimperialismus, der | |
seit dem 24. Februar 2022 in Trümmern liegt. Nur hier im Bürgerhaus Misburg | |
mit Glasbausteinen, Kaffee mit Milch für 2 Euro und ausgehärteten | |
Weltbildern hat er kratzerfrei überlebt. | |
Wenn man nach ein paar Stunden empörter Reden über Nato und | |
Linkspartei-Verrat kurz die Augen schließt, kann man den Gedanken haben, | |
dass nicht Putin die Ukraine überfallen hat, sondern die Nato Russland. Und | |
Bodo Ramelow, Lieblingsfeind der Wagenknecht-AnhängerInnen, rollt gerade im | |
Panzer nach Moskau. | |
Diese linke Opposition verbindet drei Ideen. Der Ukrainekonflikt sei ein | |
Stellvertreterkrieg der Nato. Die wahren Bösen sind, egal was passiert, | |
immer die USA. Außerdem setze die Linkspartei auf Identitätspolitik und | |
Moralklimbim anstatt an der Seite der Arbeiterbewegung zu kämpfen. Dass | |
StudentInnen einfach so Kreisvorsitzende werden, sorgt hier für ähnliches | |
Entsetzen wie die Lieferung von Kampfpanzern an Kiew. | |
## Wagenknecht zögert | |
Zudem hat man – dritter Identitätsmarker – zu Grünen ein frostiges | |
Verhältnis. Das Problem ist: Eine Partei, die Putin für gar nicht so | |
schlimm hält, Wokeness und Grüne verachtet, gibt es bereits. Man braucht | |
schon etwas Fantasie, um sich eine AfD light plus Arbeiterklassenrhetorik | |
plus „demokratischer und ökologischer Sozialismus“ (Ralf Krämer) als | |
Erfolgsmodell vorzustellen. | |
Am Ende beschließt man, dass man nichts beschließt. Für die neue Partei | |
müsste erst Wagenknecht wollen, aber die zögert und zögert. Dann müssten | |
die 250 GenossInnen überlegen, ob sie auch wollen. Eine One-Woman-Show | |
würde hier auf wenig Gegenliebe stoßen. Mit „mal sehen“ und „würde“ … | |
noch keine Partei gegründet worden. Klar ist nur: Wenn dies der Nukleus | |
einer neuen Partei wird, hat er graue Haare und klingt nach gestern. | |
Cornelia Barth, 64, macht vor dem Bürgerhaus Misburg mal kurz Pause. Die | |
Sozialarbeiterin war von 2017 bis 2022 Vorsitzende der Bremer Linken. Keine | |
Berufspolitikerin, betont sie. Auf dem Podium hat sie gerade um fünf | |
Stimmen für Olaf Zimmer geworben, damit einer, der Nein zum Kriegskurs der | |
Linkspartei sagt, wieder in die Bürgerschaft kommt. | |
Bei der Bremer Linken vermisst sie „eine ehrliche Kommunikation“, und | |
kritisiert, nun ja, die Abholzung der Platanen und die Ansiedlung des | |
Bahnwerks. Und sonst? „Unsere Senatorinnen haben einen super Job gemacht“, | |
sagt sie. Es ist nicht einfach, Bremer Linke zu finden, die sich wenigstens | |
ein bisschen hassen. | |
Auch wenn man in Bremen GenossInnen nach dem Kampf zwischen Wokeness und | |
Arbeitertraditionalisten fragt, [4][der den Landesverband NRW gerade | |
ruiniert hat,] stößt man auf freundliches Desinteresse. Gesinnungsschlacht | |
um das Gendern? Hat man von gehört. Beim neuen Gleichstellungsgesetz und | |
der Berücksichtigung von trans Frauen hat es etwas geknirscht. Aber um | |
daraus einen Kampf Gut gegen Böse zu machen, fehlte es an mit ausreichend | |
Sendungsbewusstsein ausgestattetem Personal. | |
## Was, wenn das nicht hilft? | |
Man kenne sich und treffe sich zu oft, um sich zu zerlegen, heißt es. Der | |
Bremer Pragmatismus ist eine Haltung, in der auch die ideologischen | |
Dum-Dum-Geschosse, die die Linkspartei derzeit zerfetzen, in Watte landen. | |
Im Bund liegt die Linke bei Umfragen zwischen 4 und 5 Prozent. In Bremen | |
bei 9 Prozent. 2019 bekamen die Bremer Linken 11,3 Prozent. Das waren | |
damals 4 Prozent mehr als der Bundestrend – und mehr wird schwierig. | |
Kristina Vogt zitiert gern eine Umfrage, der zufolge 40 Prozent der | |
WählerInnen sich nicht für Landespolitik interessieren. In der Straße, in | |
er sie wohnt, wüssten manche nicht, wer Andreas Bovenschulte sei. Da ist es | |
schwer, mit dem Sozialticket für WohngeldempfängerInnen zu glänzen. | |
Die Bremer Linkspartei hat viel richtig gemacht. Sie ist pragmatisch, aber | |
nicht, wie früher manche PDS-MinisterInnen, vor allem auf Anerkennung durch | |
die Etablierten erpicht. Sondern auf Unterscheidbarkeit. Es nutze nichts, | |
so Landeschef Spehr, nur immer 1 Euro Mindestlohn mehr als die SPD zu | |
fordern. Man müsse, so wie bei der Corona-Impfkampagne, „eine | |
missionsorientierte Politik“ machen. Wendiger, veränderungswilliger als die | |
SPD. Die Bremer Linke zeigt, dass kleinteilige Reformen mehr wert sind als | |
großspurige Rechthaberei. Gregor Gysi sagt, dass man hier sehe, was die | |
Linkspartei „ohne ideologisches Geschwätz“ erreichen kann. | |
Aber was, wenn all das am Wahlsonntag nicht hilft? Wenn auch Gebrauchswert | |
zu haben und ruinöse Identitätsdebatten zu umschiffen, nichts nutzt? Dann | |
würde sich eine ganz bittere Frage stellen: Wer braucht die Linkspartei | |
noch? Gerade weil Bremen immer ein Labor war. | |
13 May 2023 | |
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