| # taz.de -- Reisen im Kopf: „Freie Bahn der Bahn“ | |
| > Heute kann jeder Bahnverbindungen im Netz schnell finden. Früher gab es | |
| > dafür sehr dicke Kursbücher. Unser Autor reist mit einem im Lehnstuhl. | |
| Bild: Bahn fahren in den 60er Jahren – hier sind Fussballfans von Gladbach un… | |
| Wer mit der Eisenbahn verreisen will, muss sich aus dem Haus begeben und | |
| zum Bahnhof gehen, dort in einen Zug steigen, der in der Regel schon mit | |
| Verspätung abfährt und mit noch größerer Verzögerung irgendwo ankommt, | |
| worauf der Anschlusszug weg ist, was einen längeren Aufenthalt in zugigen | |
| Ecken verursacht, bevor die nächste Bahn – häufig mit erneuter Verspätung … | |
| eintrifft, die den Bedauernswerten in den Ort seiner Wahl befördert, wo | |
| aber aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit kein Bus mehr bereitsteht, der | |
| den vorgesehenen endgültigen Bestimmungsort zum Ziel hat, was die | |
| Bestellung eines Taxis erfordert, welches nach gehöriger Zeit in tiefster | |
| Provinz eintrifft, wenn denn ein solches Beförderungsmittel überhaupt | |
| verfügbar ist. Die Fahrt dauert damit länger als tausendmal den ersten Satz | |
| dieses Textes zu lesen. Also verflucht lang. Sie ist unbequem. Sie nervt. | |
| Will ich hingegen verreisen, bleibe ich einfach in meinem Lehnstuhl sitzen. | |
| Denn ich besitze ein Kursbuch. Nein, das hat nichts mit dem verstorbenen | |
| Großdenker Hans Magnus Enzensberger zu tun. Es handelt sich um einen | |
| dicken, in braunem Pappband gebundenen Schmöker, herausgegeben von der | |
| Deutschen Bundesbahn. Vollständige Sätze sind dort selten, dafür aber für | |
| den Uneingeweihten rätselhafte Tabellen voller Zahlen und Symbole. Die | |
| zeigen die Abfahrts- und Ankunftszeiten sämtlicher Züge in der ganzen | |
| Bundesrepublik, mit allen Unterwegsaufenthalten, Verkehrstagen, | |
| Kurswagenverbindungen. Es sind sehr viele Züge, denn mein Kursbuch stammt | |
| von 1962. | |
| Neunmalkluge mögen einwenden, das könne man mit der DB-Reiseauskunft im | |
| Internet heute auch haben. Sie verkennen, dass man sich dort zu einem | |
| Reiseziel bekennen muss. Ich als Kursbuchbesitzer kann mich dagegen treiben | |
| lassen, wohin mich Tabellen gerade führen. Wir wäre es mit einer Fahrt nach | |
| Dietfurt im schönen Altmühltal? Oder nach Bratislava? Oder besser doch ins | |
| hessische Treischfeld? | |
| Das Kursbuch war einmal die Bibel der Bahnreisenden. Es erschien zweimal im | |
| Jahr neu. Weil es so schwer ist wie 40 Smartphones, eignete es sich weniger | |
| zur Mitnahme. Man las es daheim und schrieb daraus Zahlenkolonnen ab. Oder | |
| ließ das von einem Reisebüro erledigen. Es gab aber auch auf jedem, | |
| buchstäblich jedem Bahnhof, einen uniformierten Mann – Frauen eher selten | |
| –, der die Züge heraussuchte und auf einen Zettel schrieb. | |
| Mal sehen, wie war das gleich mit Dietfurt? Abfahrt Berlin-Zoo um 8.31 Uhr | |
| mit dem Interzonenzug 152 (mit Speisewagen!), Ankunft in Nürnberg 17.46 | |
| Uhr. Weiter um 18.16 Uhr mit einem elektrisch betriebenen Eilzug. Schnelles | |
| Umsteigen in Neumarkt/Oberpfalz mit nur 6 Minuten Übergangszeit. Ankunft | |
| Dietfurt nach 11 Stunden 30 Minuten um 20.06 Uhr mit einem Personenzug, | |
| vorneweg die Dampflok. | |
| Das dauert schön lange! Gut, dass ich im Sessel sitze. Wäre denn | |
| Köln–Bratislava einfacher? Es fängt gut an: Abfahrt um 0.35 Uhr mit dem | |
| Schlafwagen! Ankunft in Nürnberg morgens um 7.52 Uhr, weiter um 9.44 Uhr | |
| mit Kurswagen nach Prag, dort Umsteigen um kurz nach 18.00 Uhr, Ankunft | |
| Bratislava eine halbe Stunde vor Mitternacht. Fahrzeit: knapp 23 Stunden. | |
| Die Beispiele zeigen, dass die Bundesbahn vor 61 Jahren einen unschätzbaren | |
| Vorteil bot: Das Schienennetz war engmaschig, selbst kleinste Orte besaßen | |
| einen Bahnanschluss. Die Fahrtzeiten jedoch dehnten sich ins schier | |
| Unendliche. Die Gleise waren alt und die Lokomotiven durften nur in | |
| seltenen Fällen schneller als 100 Stundenkilometer fahren. Investiert wurde | |
| wenig. | |
| Allerdings waren damals auch die Straßen schlecht. Vor allem aber konnte | |
| sich nur eine Minderheit ein eigenes Kraftfahrzeug leisten. Doch das | |
| änderte sich. Das Straßennetz wuchs, der Staat investierte mächtig. Im | |
| Kursbuch fielen von Jahr zu Jahr mehr Strecken ersatzlos weg: „Zugverkehr | |
| eingestellt“ hieß es im Kursbuch. „Freie Bahn der Bahn“ – dieser | |
| Werbespruch aus den 1960ern verhallte weitgehend ungehört. | |
| Nach Dietfurt im Altmühltal fährt schon seit 1966 kein Zug mehr. | |
| Jahrzehntelang war an der Strecke nichts investiert worden. Später wurde | |
| auch der Betrieb von Neumarkt bis zum Unterwegshalt Beilngries eingestellt. | |
| Die Bahn hat in Deutschland seit 1955 mehr als 15.000 Streckenkilometer | |
| stillgelegt. In der alten Bundesrepublik geschah das vor allem zwischen | |
| 1960 und 1999, in der früheren DDR ab 1990. Heute gibt es in Deutschland | |
| etwa 38.000 Kilometer Streckengleise. | |
| „Schon als wir in der Wiege lagen, da träumten wir vom Liegewagen. Jetzt | |
| kann man nachts im Wagen liegen und sich in allen Lagen wiegen.“ So | |
| kunstvoll gereimt warb die Bundesbahn 1962 in meinem Kursbuch für | |
| Nachtzüge. Heutzutage hat die Deutsche Bahn den Betrieb von Schlaf- und | |
| Liegewagen ersatzlos eingestellt. | |
| Kurswagen, das waren früher Einzelwaggons, die von einem Zug ab- und an den | |
| anderen angekoppelt wurden, so wie bei dem Eilzug ab Nürnberg. So sparte | |
| man sich das Umsteigen. Sehr praktisch, allerdings braucht es dafür auf den | |
| Bahnhöfen Personal. So etwas gibt es heute auch nicht mehr. | |
| Letzte Lehnstuhl-Reise für heute, es geht anno 1962 von Husum ins | |
| osthessische Treischfeld. Tagsüber ließ sich die Fahrt nicht machen. Aber | |
| über Nacht: Ab Husum um 20.37 Uhr im Schlafwagen, Umsteigen in Göttingen zu | |
| nachtschlafender Zeit, dort weiter um 3.40 Uhr nach Bebra. Ein erneuter | |
| Zugwechsel bringt uns nach Hünfeld, das schon um 6.59 Uhr erreicht wird. | |
| Dort geht es erst um 8.50 Uhr weiter, allerdings mit einem Bahnbus, und so | |
| erreicht man Treischfeld glücklich um 9.40 Uhr. Der nächste Zug kommt | |
| dagegen erst um 14.39 Uhr dort an, denn merke: Vor Einstellung des | |
| Gesamtverkehrs beließ es die Bundesbahn gerne bei einigen Alibi-Zugpaaren, | |
| die zeitlich so ungünstig lagen, dass möglichst wenige Menschen damit | |
| fuhren. Mit Erfolg: Der letzte Personenzug nach Treischfeld verkehrte 1972. | |
| Die Recherche Husum–Treischfeld hat übrigens eine halbe Stunde | |
| verschlungen. Nicht nur Züge waren 1962 langsamer, auch das Austüfteln von | |
| Zugverbindungen. | |
| Und heute? Ein Blick auf bahn.de reicht: Für die Strecke Berlin Hbf bis | |
| Dietfurt dauert es noch 5 Stunden 36 Minuten bei zweimaligem Umsteigen. | |
| Ankunft in der Bahnhofstraße, obwohl es dort seit 57 Jahren keinen Bahnhof | |
| mehr gibt. Von Köln nach Bratislava schafft man es in neuneinhalb Stunden | |
| bei zweifachem Umsteigen. Und von Husum nach Treischfeld in siebeneinhalb | |
| Stunden – mit viermaligem Umsteigen. Wenn das mal gut geht. | |
| Das letzte Kursbuch der Deutschen Bahn erschien 2008. Es besaß dreiseitigen | |
| Silberschnitt und wurde in vier Bänden im Schuber für 99 Euro an Sammler | |
| verkauft. | |
| 1 May 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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