# taz.de -- Pressefreiheit in Russland: Alles „Agenten“ und „Spione“ | |
> Seit dem Angriff auf die Ukraine schüchtert Russland Journalist*innen | |
> massiv ein. Unsere Autorin stellt sich täglich die Frage: Gehen oder | |
> bleiben? | |
Bild: Der „Wall Street Journal“-Reporter Evan Gershkovich bei einer Anhöru… | |
MOSKAU taz | Russland-Berichterstattung ist oft eine | |
Gerichtsprozess-Berichterstattung. Ein Mensch in Richterrobe verliest die | |
Klageschrift, als ob jemand hinter ihm her wäre. Im sogenannten Aquarium, | |
einem Käfig aus Glas, läuft währenddessen der Angeklagte seine kleinen | |
Runden, als wäre er ein verletztes Tier im Zoo. [1][Evan Gershkovich] hat | |
einige solcher Prozesse erlebt. | |
Der US-Amerikaner war vor fünf Jahren als Reporter nach Moskau gekommen. | |
Seine Eltern hatten einst die Sowjetunion verlassen, ihre beiden Kinder an | |
der amerikanischen Ostküste dennoch mit [2][russischen Büchern] erzogen. | |
Der 31-Jährige wollte [3][Russland] verstehen. Oft war er auf Achse, hat | |
über Proteste auf Mülldeponien geschrieben, über aussterbende Sprachen im | |
riesigen Land, und ja, auch über etliche Gerichtsprozesse von | |
Andersdenkenden. | |
Im April schlich Evan Gershkovich selbst wie ein verletztes Tier durch ein | |
Moskauer Gerichts-Aquarium. Der russische Staat wirft dem Korrespondenten | |
des Wall Street Journal „Spionage“ vor, eine Beschuldigung, die zu 20 | |
Jahren Freiheitsentzug führen könnte. | |
20 Jahre Haft, weil der Journalist in einem Land seiner Arbeit nachgegangen | |
ist, das Krieg führt und diesen offiziell nicht so benennen will. Der Fall | |
Gershkovich trifft alle westlichen Korrespondent*innen, die in Moskau leben | |
und arbeiten, ins Mark. Es stellt sich wie so oft seit dem 24. Februar 2022 | |
die Frage: „Gehen oder bleiben?“ Ich schreibe seit mehr als fünf Jahren aus | |
und über Russland. Es ist mein zweiter Aufenthalt als Korrespondentin in | |
Moskau. Auch ich stelle mir täglich diese Frage. | |
## Menschen schweigen aus Angst | |
Kann ich hier noch weiter arbeiten und mit meiner Familie leben? Gefährde | |
ich unser Kind? Bringe ich meine Gesprächspartner*innen noch weiter in | |
Gefahr? Ertrage ich meine eigenen Ängste und die Schuldgefühle, wenn ich | |
das Kind ganz erstarrt auf einem Sitz am Flughafen sehe, weil es erlebt, | |
wie die Eltern vom Grenzschutz festgehalten werden – weil der Geheimdienst | |
noch „zusätzliche Fragen“ stellen will? Wie stehe ich, oft selbst mit | |
Emotionen wie Trauer, Wut, Hilflosigkeit kämpfend, dem Kind bei, wenn es | |
auf einen Schlag Dutzende von Freunden verliert? | |
Immer mehr Bereiche werden unzugänglich – weil der Staat sie für | |
Journalist*innen versperrt und weil viele Menschen aus Angst schweigen. | |
Und doch: Die Nuancen des Lebens, die Stimmung in der Gesellschaft, die | |
Klagen, die Unzufriedenheit, die kleinsten Veränderungen, sie werden erst | |
im Land selbst ersichtlich. Für alle westlichen Journalist*innen | |
bedeutet ein Verbleib in Russland eine Art „Fahren auf Sicht“. | |
## Heimat ohne Freiheit oder Freiheit ohne Heimat | |
Auf dem [4][Index der Pressefreiheit, den Reporter ohne Grenzen] jährlich | |
veröffentlicht, liegt Russland auf Platz 155 von 180 und damit fast | |
gleichauf mit Staaten wie Pakistan und Afghanistan. 61 russische Medien und | |
129 russische Journalist*innen hat der russische Staat mittlerweile zum | |
„ausländischen Agenten“ erklärt. | |
Knapp 320 unabhängige russische Medien sind im Land blockiert und lassen | |
sich lediglich über einen VPN-Zugang lesen, der die Informationen durch | |
einen verschlüsselten virtuellen Tunnel leitet. Doch russische Behörden | |
sind mittlerweile auch geübt darin, zahlreiche VPN-Tunnel zu stören. | |
„Die schmutzigen Tricks des Staates werden nicht weniger. Und doch halte | |
ich es für wichtig, hier zu sein, an einem Ort, wo grundlegende Sachen | |
passieren, fürs Auditorium, das hier ist“, sagt der russische Journalist | |
Wassili Polonski, der weiterhin aus Moskau berichtet. | |
Polonski hat einst für den unabhängigen TV-Sender Doschd gearbeitet. Doschd | |
ist mittlerweile in Europa stationiert, seine Homepage ist in Russland | |
gesperrt, etliche Doschd-Journalisten sind zu „ausländischen Agenten“ | |
erklärt worden. Später war er für Nowaja Gaseta im Einsatz. Die Zeitung hat | |
längst keine Medienregistrierung mehr in Russland. Polonski berichtet | |
mittlerweile für ihren europäischen Ableger, allen Risiken zum Trotz. | |
Auch Dmitri Muratow, Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der Nowaja | |
Gaseta, weiß, wie schwer es für alle unabhängigen russischen | |
Journalist*innen ist, sich zu entscheiden, ob sie in Russland bleiben | |
oder aus dem Ausland berichten wollen. „Heimat ohne Freiheit oder Freiheit | |
ohne Heimat – das ist ein Dilemma.“ | |
2 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /In-Russland-inhaftierter-Journalist/!5929056 | |
[2] /Buchautorin-ueber-russische-Gegenkultur/!5927807 | |
[3] /Russischer-Anarchist-im-Ukrainekrieg/!5931338 | |
[4] https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/rangliste-2022 | |
## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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