| # taz.de -- „Tag des Sieges“ in Moskau: „Papa, es kommt kein Panzer“ | |
| > Mit zynischer Putin-Rede und kleinerer Militärparade begeht Russland den | |
| > Jahrestag des 9. Mai. Über die Ukraine wollen viele Schaulustige nicht | |
| > reden. | |
| Bild: Die Menschen schwenken russische, manche auch sowjetische Fahnen: „Tag … | |
| Moskau taz | Das Mädchen hat ihr flauschiges Einhorn mitgebracht. In seiner | |
| rosa Jacke sitzt es auf den Schultern des Vaters, schwenkt die Fahne. | |
| „Papa, es passiert nichts. Es kommen keine Panzer“, sagt die Fünfjährige … | |
| der Moskauer Prachtmeile Neuer Arbat. Hunderte von Schaulustigen stehen an | |
| diesem Dienstag hier, um die Militärtechnik, die gerade erst über den Roten | |
| Platz gerollt war, zu sehen. Sie jubeln, sie rufen „Vorwärts, Russland“ – | |
| und sie sind enttäuscht: „So wenig los dieses Jahr“, sagt der Vater des | |
| Mädchens. „Dabei wollte ich meiner Tochter zeigen, wie groß und mächtig | |
| unser Land ist.“ Seine Frau ergänzt: „Unseren Siegeswillen müssen wir den | |
| Kleinen mit der Muttermilch einflößen.“ | |
| Russland feiert seinen „heiligsten“ Feiertag, den Sieg über das | |
| nationalsozialistische Deutschland am 9. Mai 1945. Es tut es zum zweiten | |
| Mal inmitten von Kriegshandlungen, die der eigene Präsident angeordnet hat. | |
| Unverhohlen zieht Wladimir Putin in seiner Rede denn auch einen Bogen von | |
| der Vergangenheit zum Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, der in Russland | |
| euphemistisch „militärische Spezialoperation“ genannt wird. Putins zynische | |
| Verkehrung: „Gegen unsere Heimat wurde ein Krieg entfesselt. Das Ziel der | |
| Gegner Russlands ist der Zerfall unseres Landes“, behauptet er auf dem | |
| Roten Platz, wo er die Parade zum „Tag des Sieges“ abnimmt, umringt von | |
| betagten und mit Orden behangenen Veteranen und den Staats- und | |
| Regierungschefs der Ex-Sowjetrepubliken Belarus, Turkmenistan, | |
| Tadschikistan, Usbekistan, Kirgistan und Armenien. | |
| Einmal mehr spricht er davon, dass der „kriminelle und tötende“ Westen das | |
| „ukrainische Volk als Geisel“ genommen habe. Über den Roten Platz | |
| marschieren derweil auch mehr als 500 Teilnehmer der sogenannten | |
| militärischen Spezialoperation in der Ukraine. „Es gibt im Moment keine | |
| wichtigere Aufgabe als die Kampfhandlungen. Das Land ist geeint in | |
| grenzenloser Liebe, um unsere Helden zu unterstützen“, sagt Putin. | |
| Am Neuen Arbat, wo manche Cafés die Rede auf großen Bildschirmen | |
| übertragen, brandet Applaus auf. Die Parade fällt diesmal deutlich kleiner | |
| aus als in den Vorjahren. „Es gibt derzeit wichtigere Aufgaben, als über | |
| den Roten Platz zu rollen“, sagt Anna, die sich in die Flagge der | |
| sogenannten Donezker Volksrepublik gehüllt hat. Vor acht Monaten war die | |
| 48-Jährige aus der Ostukraine nach Moskau geflohen. „Ich weiß, was Krieg | |
| bedeutet. Wenn ich die Raketenwerfer hier sehe, zieht sich alles in mir | |
| zusammen. Aber ich spüre auch den Stolz, die Liebe zu Russland, weil es | |
| mich beschützt. Ich will einfach, dass Wladimir Putin die Sowjetunion | |
| zurückbringt.“ Für Anna und all die anderen, die hier jubeln, ist klar: | |
| „Russland ist gut, der Westen ist böse.“ Entsprechend unterstützen sie | |
| [1][den Krieg des Kremlchefs]. | |
| Für den Moskauer Alexei sind solche Sätze unerträglich. Seit Jahren fährt | |
| er am 9. Mai raus aus der Stadt, um diesem „Irrsinn, bei dem so viele auf | |
| den Knochen ihrer Vorfahren tanzen“, wie er es nennt, zu entkommen. Alexei | |
| sagt: „Wir sollten lieber leise unsere gefallenen Verwandten betrauern und | |
| nicht herumbrüllen, wie großartig wir sind.“ Für Putin auf dem Roten Platz | |
| gibt es „nichts, was stärker ist als unsere Liebe zur Heimat, für Russland, | |
| für unsere tapferen Streitkräfte, für den Sieg. Hurra!“ | |
| ## „Nicht wahr, Jaroslaw?“ | |
| Die 38-jährige Swetlana will derweil wenig über die Ukraine hören. „So viel | |
| Negatives da, warum sollte ich mich damit verstimmen?“, fragt sie. Sie ist | |
| mit ihren Töchtern hier. Während die Vierjährige um die Mutter herumhüpft, | |
| steht die andere, acht Jahre alt, an der metallenen Straßensperre, um die | |
| Militärfahrzeuge zu sehen. „Es ist wichtig, dass sie wissen, wie mächtig | |
| unser Land ist“, sagt Swetlana. | |
| Es ist ein Satz, der oft fällt an diesem Tag. Väter sagen ihn, Mütter, sie | |
| schauen ihre Kinder dabei an und wiederholen ihn: „Nicht wahr, Jaroslaw? Es | |
| ist wichtig, dass wir den Sieg feiern. Nicht wahr, Weronika? Es ist | |
| wichtig, dass wir die Großtaten unserer Armee kennen.“ Warum? Die Väter und | |
| Mütter bleiben stumm. „Weil es wichtig ist. Wir sind ein großartiges Land�… | |
| sagt Swetlana trotzig. Ihre Schwester Jelena erzählt: „Wir wissen wenig | |
| über den Zweiten Weltkrieg, nur das, was in den Schulbüchern steht. Unsere | |
| Großmutter war als Waise im Kinderheim, ihr Vater kam wohl um im Krieg. Zu | |
| Hause wurde nie darüber gesprochen, nie. Wir dürfen nicht über das | |
| Schlechte eines Krieges sprechen, wir müssen vor allem den Sieg in Ehren | |
| halten.“ | |
| Viele Familien flanieren im Stadtzentrum, manche Kinder tragen olivgrüne | |
| Uniformen, halten Spielzeuggewehre im Arm. „Da wächst ein Kämpfer heran“, | |
| sagt so mancher. Die Menschen schwenken russische, manche auch sowjetische | |
| Fahnen. Am Ende der 45-minütigen Parade ziehen sie in die Moskauer Parks, | |
| es gibt Essen aus der Feldküche, gut ein Dutzend Feuerwerke am Abend. | |
| Putin, der sich im Kampf für eine „zivilisierte Welt“ sieht und in der | |
| Ukraine Kriegsverbrechen begeht, rühmt sich als Garant der Sicherheit. Doch | |
| längst ist die Gewalt aufs eigene Land übergeschwappt. Öllager brennen, | |
| zurückgekehrte Kämpfer ermorden Verwandte, es werden Anschläge verübt, | |
| sogar Drohnen sollen über dem Kreml explodiert sein. Auf dem Neuen Arbat | |
| sagen die Menschen: „Ach, lassen Sie uns doch mit diesen schlechten | |
| Nachrichten. [2][Heute ist ein Feiertag], wir wollen feiern.“ | |
| 9 May 2023 | |
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| Inna Hartwich | |
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