# taz.de -- Diplomat über Ukraine-Krieg: „Siegt das TV oder der Kühlschrank… | |
> Putin könne den Krieg nicht ewig durchhalten, sagt Rüdiger von Fritsch. | |
> Die Frage sei, ob die Propaganda oder die Bedürfnisse der Russen | |
> triumphieren. | |
Bild: Noch dominiert der Fernseher, also Putins Propaganda | |
wochentaz: Herr von Fritsch, im Moment warten alle auf die Gegenoffensive | |
der Ukraine. Wir sehen die Vorbereitungen und erste Vorstöße. Verhandlungen | |
oder gar ein Kriegsende erscheinen gerade in sehr weiter Ferne. | |
Rüdiger von Fritsch: Verhandlungen bedürfen immer zweier Parteien, die dazu | |
bereit sind. Wladimir Putin aber hat klargemacht, dass er ein Ende der | |
Kampfhandlungen – von echtem Frieden könnte man da gar nicht sprechen – | |
ausschließlich zu seinen Bedingungen sieht. Die Ukraine will sich dieser | |
Freiheits- und Landberaubung nicht unterwerfen. Daher müssen wir davon | |
ausgehen, dass der Krieg noch dauern wird. Vor allem auch, weil Putin in | |
der Ukraine mittlerweile um seine eigene Existenz kämpft. Der Krieg läuft | |
für ihn miserabel, er darf aber nicht mit schlechten Ergebnissen heimkommen | |
und versucht, mit aller Rücksichtslosigkeit das Blatt zu wenden. | |
Es fällt im Moment schwer, sich das vorzustellen, aber wie könnte ein | |
Kriegsende überhaupt aussehen? | |
Es gibt verschiedene Szenarien. Das beste, aber leider auch am wenigsten | |
realistische: Wladimir Putin geht nach Hause. Das fatalste und zum Glück | |
derzeit ebenfalls nicht denkbare: Wir stellen unsere Unterstützung für die | |
Ukraine ein. Eine andere Möglichkeit: Eine der Parteien würde militärisch | |
siegen. Das ist im Moment auch nicht absehbar. Ein weiteres Szenario: In | |
Russland ändern sich die Machtverhältnisse. Und dann gibt es noch das | |
Szenario eines vermittelten Friedens. | |
Wie könnte der zustande kommen? | |
Im Wesentlichen bräuchte es drei Voraussetzungen: Zum einen müssten wir der | |
Ukraine weiter so entschlossen beistehen, auch mit Waffen, dass sie in der | |
Lage ist, einen Waffenstillstand und dann einen Frieden auf Augenhöhe zu | |
verhandeln, ohne sich einem russischen Diktat zu unterwerfen. Die zweite | |
Voraussetzung wäre, dass es in Russland zu einer Abwägung kommt zwischen | |
der Tatsache, dass der Krieg für Russland nicht mehr erfolgreich zu beenden | |
ist, und gleichzeitig die Folgen des Kriegs im Land selbst zu einer | |
Gefährdung der Macht führen. | |
Und der dritte Punkt? | |
Zweifellos würde es helfen, wenn wir zumindest damit beginnen würden, einen | |
Rahmen internationaler Verabredungen zu schaffen, wie uns das auch in den | |
70er Jahren gelungen ist. Sprich: über Rüstungshöhen, Inspektionen, | |
vertrauensbildende Maßnahmen. Also eine Situation, in der man Russland | |
keine Konzessionen macht – das dürfen wir nicht tun –, sondern eine | |
Situation schafft, von der beide Seiten aufgrund erhöhter Sicherheit | |
profitieren. Und in der die russische Seite in einer für sie schwierigen | |
Lage sagen kann: Hier haben wir etwas erreicht, denn wir haben ja immer | |
behauptet, dass es uns um Sicherheit geht. | |
Russland hat mit seinem Angriffskrieg zahlreiche völkerrechtliche Verträge | |
gebrochen. Wie soll man je wieder glauben, dass sich das Land unter Putin | |
an ein Abkommen hält? | |
Wladimir Putin hat uns in eine radikale Konfrontation geführt. Die Aufgabe | |
wird es sein, aus dieser zumindest eine geordnete Konfrontation zu machen. | |
So, wie es uns in den 70er Jahren erfolgreich gelungen ist – mit | |
Verhandlungen, vertrauensbildenden Maßnahmen, Abrüstung und schließlich dem | |
großen Wurf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. | |
Auch in einer Zeit tiefster Gegensätze haben beide Seiten sich damals | |
verpflichtet, bestimmte Regeln einzuhalten. Zum Beispiel im Bereich der | |
Menschen- und Bürgerrechte. Jenseits davon ist es an Russland, das so | |
grundlegend Vertrauen zerstört hat, seine Haltung zu ändern. Wenn sich aber | |
die grundsätzliche neoimperialistische Haltung nicht ändert und auch nicht | |
die Überzeugung, immer nur Opfer der Geschichte gewesen zu sein, und nicht | |
zu sehen, wie viele Traumata Russland und die Sowjetunion anderen | |
zugefügt haben, ist es nur schwer vorstellbar, dass wir wieder zu einem | |
guten Miteinander kommen. | |
Das wird wohl Jahre dauern. | |
Das liegt an Russland. Wenn sich dort die Machtverhältnisse ändern und das | |
Land eine neue Ausrichtung bekommt, kann das möglich sein. Im Übrigen sagen | |
auch die Vertreter der russischen Zivilgesellschaft, dass die | |
Voraussetzungen von Russland selbst geschaffen werden müssen. Das ist eine | |
Aufgabe, die man dem Land nicht abnehmen kann. | |
Aber die russische Zivilgesellschaft ist zerschlagen. Viele Akteure sind | |
ins Exil gegangen, andere haben lange Haftstrafen bekommen. Das ist doch | |
alles sehr deprimierend. | |
Es hat in den vergangenen 30 Jahren viele gute zivilgesellschaftliche | |
Ansätze in Russland gegeben – etwa von der [1][NGO Memorial], die sich um | |
die Aufarbeitung der eigenen Geschichte und die Frage von Schuld und | |
Verantwortung darin kümmerte. Wladimir Putin hat mit seinem Übergang vom | |
autoritären Staat zur Diktatur alles zerschlagen und versetzt jeden in | |
Angst und Schrecken, der eine abweichende Meinung hat. Insofern ist die | |
gegenwärtige Situation extrem schwierig. Aber wieso soll es die | |
zivilgesellschaftlichen Ansätze, die es schon einmal gab, in der Zukunft | |
nicht wieder geben? | |
Viele westliche Beobachter erwarteten, dass [2][Sanktionen der EU und der | |
USA] schnellere Erfolge zeitigen. Aber Länder wie Indien und China kauften | |
billig Energie in Russland. | |
Dass Russland alles versuchen würde, wegbrechende Investitionen, | |
Einnahmen, Exporte und Importe zu substituieren, war zu erwarten. Aber | |
Putin hat selbst unlängst eingeräumt, dass die Sanktionen auf mittlere | |
Sicht eine schwere Beeinträchtigung der russischen Wirtschaft bedeuten. Die | |
Zahlen zeigen: Die russischen Einnahmen brechen weg. Die Einnahmen aus | |
fossilen Energieträgern sind nach einem Anstieg kurz nach Kriegsbeginn | |
jetzt wieder auf einem Niveau von vor Kriegsbeginn. Das russische | |
Finanzministerium gab in diesen Tagen bekannt, wie groß das staatliche | |
Defizit in den ersten vier Monaten dieses Jahres war: 40 Milliarden | |
US-Dollar. Für das gesamte Jahr waren eigentlich 34,5 Milliarden | |
projektiert. Und das ist eine Zahl, die sie bereits während des laufenden | |
Krieges angenommen hatten. | |
Es gibt aber immer noch ein Wirtschaftswachstum. | |
Ein sehr geringes. Putin hat das Land in eine Kriegswirtschaft geführt. | |
Mehr als ein Drittel der Ausgaben des Staatshaushalts dienen der | |
Kriegsführung. Die Bereiche, in denen es noch Wachstum gibt, sind jene, die | |
der Kriegsindustrie dienen: Maschinenbau, Rüstungsindustrie und der | |
Pharmabereich. Putin geht eine Wette auf die Zeit ein. Seine Hoffnung ist | |
es, den Westen auseinandernehmen zu können, unter anderem mit seinem | |
Mittel, Angst zu verbreiten, indem er über Atomwaffen raunt. Er weiß, dass | |
die verschiedenen Länder oft ganz unterschiedliche Interessen haben. Und er | |
hofft, dass er so lang durchhält, bis im Weißen Haus jemand sitzt, der ihm | |
wohler gesinnt ist. Gleichzeitig ist ihm aber klar, dass auch er diesen | |
Krieg zu Hause nicht beliebig lang durchhalten kann. | |
Inwiefern? | |
Es gilt in Russland immer noch die alte Frage: Siegt der Fernseher oder der | |
Kühlschrank? Triumphiert also die Propaganda, oder sind es die materiellen | |
Bedürfnisse? Im Moment dominiert der Fernseher, aber Putin muss den Punkt | |
fürchten, an dem der Kühlschrank siegen könnte, an dem die russischen | |
Mütter sagen: Wo ist die Schulspeisung für unsere Kinder? Und warum habt | |
ihr schon wieder eine Gesundheitsstation in unserer Kleinstadt geschlossen? | |
Davor hat er Angst? | |
Was Putin fürchtet, ist eine für ihn nicht vorhersehbare Entwicklung. Er | |
fürchtet den schwarzen Schwan – er fürchtet nicht so sehr Alexei Nawalny, | |
den hat er hinter Gittern unter Kontrolle. Er fürchtet, dass plötzlich | |
jemand auftaucht wie der Danziger Elektriker Lech Wałęsa, den niemand auf | |
dem Schirm hatte und der 1980 auf ein Werfttor kletterte und sagte: „Es | |
reicht. Mir nach!“ Ein Jahr später war die Solidarność die größte | |
Einzelgewerkschaft der Welt, die eine entscheidende Rolle für die | |
Revolution von 1989 spielte. | |
Und dann könnte es schnell gehen? | |
Was bei uns oft als Zustimmung zu Putin gedeutet wird, ist im Grunde | |
genommen eine mangelnde Bereitschaft zum Widerspruch. Das weiß auch Putin, | |
weil die russische Soziologie das genau analysiert hat. Es gilt in Russland | |
der alte Satz: Wer gesenkten Hauptes geht, dem wird der Kopf nicht | |
abgeschlagen. Den Menschen stecken die Sowjetzeit und vor allem die | |
Stalinzeit noch in den Knochen. Und die Instrumente der Repression werden | |
jetzt alle wieder aufgefahren. Jeder weiß, was es bedeutet, wenn er sich | |
auflehnt. Ein kluger russischer Gesprächspartner hat mir mal gesagt: Ja, | |
die Menschen scheinen ihn alle zu unterstützen, aber wenn er strauchelt, | |
geht keiner für ihn auf die Straße. | |
21 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
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