| # taz.de -- Dokumentarfilmwoche in Hamburg: Von Privilegien und Rassismus | |
| > Bei der 20. Dokumentarfilmwoche stehen die Fallstricke beim Umgang mit | |
| > Kolonialismus und bei der Repräsentation von Sinti*zze und Rom*nja im | |
| > Fokus. | |
| Bild: Opfer der NS-Mordmaschinerie: Sinti*zze und Rom*nja besuchen Auschwitz-Bi… | |
| „Die beste Kritik an einem Film“, hat der Regisseur Jean-Luc Godard gesagt, | |
| „besteht darin, selbst einen Film zu machen!“ Bernadette Vivuya und Kagoma | |
| Ya Twahirwa haben sich das Bonmot zu Herzen genommen, könnte man sagen: Mit | |
| der Dokumentation „Stop Filming Us But Listen“ haben die kongolesischen | |
| Regisseur*innen eine Antwort gedreht auf den Film [1][„Stop Filming | |
| Us“]. | |
| „Stop Filming Us“ hieß 2020 ein Film des Niederländers Joris Postema, der | |
| mit einem europäischen Team ein Porträt der Kunst- und Filmszene im Kongo | |
| drehen wollte. Der Dreh stieß damals auf Widerstand: Etliche kongolesische | |
| Künstler*innen stießen sich am offenbar nicht zu vermeidenden | |
| postkolonial-europäischen Blick auf Afrika. Also machte Postema einen Film | |
| über genau diesen Konflikt; er stellte also seine eigene Position, die | |
| Privilegien eines westeuropäischen Filmemachers, infrage. | |
| Der Film lief vor zwei Jahren auf der Hamburger Dokumentarfilmwoche und | |
| wurde eingehend diskutiert. Denn bei allem guten Willen Postemas blieb das | |
| zentrale Problem ja bestehen: Den Film drehten durchweg weiße | |
| Europäer*innen. Wiederum auf dem am Montag beginnenden Festival zu sehen | |
| ist nun also „Stop Filming Us But Listen“, ein Gegenentwurf oder besser: | |
| eine Ergänzung. Bernadette Vivuya und Kagoma Ya Twahirwa vom | |
| [2][Kulturzentrum Yolé!Africa] in Goma haben zum Teil eigene Aufnahmen | |
| gedreht, aber auch Teile von Postemas Film neu montiert. | |
| Zunächst schildert Vivuya, was sie eigentlich vorgehabt hatte: Sie wollte | |
| von einer kongolesischen Frau erzählen, die nach Belgien reist, die | |
| einstige Kolonialmacht. Dort allerdings bekam sie keine Fördergelder | |
| bewilligt, ihr Film blieb bloßes Konzept. Nochmals also führt sie die | |
| Asymmetrie vor zwischen afrikanischen und europäischen | |
| Filmemacher*innen. | |
| Wenn es in [3][„Stop Filming Us But Listen“] nicht gelingt, einen ganz | |
| anderen, „afrikanischen“ Blickwinkel einzunehmen, ist dies wohl auch dem | |
| Mangel an Ressourcen geschuldet. Wie groß oder klein die Unterschiede auf | |
| der Bildebene sind, davon können Festivalbesucher*innen sich selbst | |
| überzeugen: Sowohl Postemas als auch Vivuya/Twahirwas Film sind dort nun zu | |
| sehen. | |
| Auch von den in Deutschland lebenden Sinti*zze und Rom*nja gibt es so | |
| gut wie keine überzeugenden filmischen Selbstzeugnisse – was als zu | |
| vernachlässigen erscheinen könnte angesichts der in anderer, handfester | |
| Hinsicht prekären Verhältnisse, unter denen vielen von ihnen bis heute in | |
| Deutschland leben. So war es der deutsche Schauspieler und Dokumentarfilmer | |
| Peter Nestler, der im Jahr 2022 gleich zwei Filme über die Geschichte der | |
| Minderheit gedreht hat: „Unrecht und Widerstand – Romani Rose und die | |
| Bürgerrechtsbewegung“ hat gerade den Grimme-Preis im Wettbewerb | |
| „Information & Kultur“ gewonnen; wie auch Nestlers anderer Film „Der offe… | |
| Blick – Künstlerinnen und Künstler der Sinti und Roma“ ist er [4][in der | |
| 3sat-Mediathek] zu sehen. | |
| „Unrecht und Widerstand“ ist ein Porträt des Vorsitzenden des | |
| [5][Zentralrats der Sinti und Roma], [6][Romani Rose], der gleich 13 | |
| Verwandte durch die nationalsozialistische Mordmaschinerie verlor. | |
| Konsequent kämpft er dafür, dass die Bundesrepublik diesen Genozid endlich | |
| anerkennt: Mehr als 500.000 Sinti*zze und Rom*nja wurden im „Dritten | |
| Reich“ ermordet, die Überlebenden und ihre Nachkommen werden auch heute | |
| noch diskriminiert. Ein blinder Fleck der – so gerne stolz ausgestellten – | |
| deutschen „Vergangenheitsbewältigung“. | |
| Im Film gibt Romani Rose Beispiele für diesen strukturellen Rassismus, wenn | |
| er etwa schildert, dass in den Behörden eine Zeit lang für Sinti und Roma | |
| der Begriff „mobile ethnische Minderheit“ verwendet wurde – vor gar nicht | |
| langer Zeit hätte das vielleicht „fahrendes Volk“ geheißen. Nestler lässt | |
| Auschwitz-Überlebende zu Wort kommen und erzählt, wie etwa die | |
| „Rasseforscherin“ Eva Justin in der jungen Bundesrepublik unbehelligt | |
| Karriere machen konnte. Rassismus live im Fernsehen demonstriert ein | |
| Ausschnitt aus der Radio-Bremen-Talkshow „3 nach 9“: Da beschimpfte im Jahr | |
| 1983 der damalige Bundeslandwirtschaftsminister Ignaz Kiechle (CSU) Rose | |
| als einen „impertinenten Lackel“. | |
| ## Einst Pionierarbeit, heute selbst problematisch | |
| In seinem zweiten Film [7][„Der offene Blick“] stellt Nestler eine Reihe | |
| von Künstler*innen vor, die in Texten, Bildern und Liedern ihr | |
| Lebensgefühl ausdrücken. Interessant ist dabei auch ein kleiner Exkurs der | |
| Filmwissenschaftlerin Radmila Mladenova zu antiziganistischen Klischees in | |
| der Filmgeschichte, der bis zu den Stummfilmen von D. W. Griffith | |
| zurückreicht. Nestler selbst vermeidet es, in eine naheliegende | |
| Klischeefalle zu tappen: Die Volksmusik, für die Sinti*zze und Rom*nja | |
| in der Populärkultur bekannt sind, lässt er ausschließlich im Kontext eines | |
| klassischen Konzerts der „Roma und Sinti Philharmoniker“ erklingen. | |
| In Hamburg laufen beide Filme in der Reihe „Sinti*zze und Rom*nja im | |
| Dokumentarfilm“. Der Titel weist hin auf eine bewegte Geschichte schon auf | |
| der begrifflichen Ebene: Konnte Peter Nestler 1970 einen seiner frühen | |
| Dokumentarfilme noch wie selbstverständlich „Zigeuner sein“ nennen, wird | |
| dieses „Z-Wort“ heute als hochproblematisch angesehen. Im Programm findet | |
| sich nun auch eine Dokumentation aus dem Jahr 1980 – damals betitelt: | |
| [8][„Zigeuner in Duisburg“] – die Festivalveranstalter*innen erklären | |
| wie zur Sicherheit: „Der Filmtitel und die Ausführungen im Film selbst sind | |
| ein historisches Dokument.“ | |
| Dass Rainer Komers’ Film dennoch gezeigt wird, hat aber einen Grund: Die | |
| krude in Schwarz-Weiß gedrehte Videoproduktion gilt als einer der ersten | |
| deutschen Filme, in denen die Betroffenen selbst vor der Kamera über ihre | |
| Situation sprechen, in diesem Fall: Wie sie in Duisburg systematisch aus | |
| ihrem Lebensräumen vertrieben werden. Dass Titel und teils auch der | |
| gesprochene Kommentar von heute aus gelinde gesagt befremdlich wirken, ist | |
| ja im Grunde ein gutes Zeichen. | |
| 24 Apr 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Postkoloniale-Doku/!5802121 | |
| [2] http://yoleafrica.org/ | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=MCuZgL4h7C0 | |
| [4] https://www.3sat.de/film/dokumentarfilm/unrecht-und-widerstand---romani-ros… | |
| [5] https://zentralrat.sintiundroma.de/ | |
| [6] /!s=Romani+Rose/ | |
| [7] https://www.3sat.de/film/dokumentarfilmzeit/der-offene-blick---kuenstlerinn… | |
| [8] https://www.cargo-film.de/film/dokumentarfilm/zigeuner-duisburg/ | |
| ## AUTOREN | |
| Wilfried Hippen | |
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