# taz.de -- Die Kunst der Woche in Berlin: Getanzter Widerstand | |
> Zineb Sediras verwebt das Kino der 60er- und 70er-Jahre zu einer | |
> Erzählung über Migration. Max P. Häring zeichnet Arthur Rimbauds | |
> trunkenes Schiff. | |
Bild: Filmkulisse und Ausstellungsraum zugleich: Zineb Sediras „Dreams Have N… | |
In Venedig wirkte die Installation intimer, aber auch weniger zugänglich. | |
Das ist jetzt im [1][Hamburger Bahnhof] – neuerdings „Nationalgalerie der | |
Gegenwart“ – anders, was es zu einem um so größeren Vergnügen macht, dem | |
französischen Pavillon hier wieder zu begegnen. | |
Denn ein großes Vergnügen war die vom Leitungsduo des Hamburger Bahnhofs | |
Till Fellrath und Sam Bardaouil verantwortete Multimedia-Installation | |
„Dreams Have No Titles“ von Zineb Sedira schon auf der 59. Kunstbiennale. | |
Sie verband alles, Set-Design, Tanz, Musik, Bilder und Gespräche in | |
Referenz auf das Kino der 1960er- und 1970er-Jahre, was vor allem der Film | |
eindrucksvoll vermittelt, der in diesen Kulissen gedrehte wurde und jetzt | |
in Berlin zu sehen ist. | |
Er ist eine großartige Auslassung über Kolonialismus und Freiheitskampf, | |
über den eigentümlichen Charakter von Migration, erzählt anhand der | |
persönlichen Geschichte der Künstlerin, ihrer Familie und ihrer Freunde, in | |
der sich freilich jederzeit die politischen Geschichte der westeuropäischen | |
Gesellschaft widerspiegelt. Und er ist ein bewegendes Zeugnis von Zineb | |
Sediras früher Liebe zum Kino und der entscheidenden Rolle, das es für ihre | |
politischen Bewusstwerdung spielte. | |
Schon das erste Filmbild mit der Großaufnahme von Orson Welles in „F For | |
Fake“ (1973), seinem betörenden, pseudodokumentarischen Filmessay und | |
Metatext zu seinem Filmschaffen, kündigt die Fallhöhe an, von der Zineb | |
Sedira argumentiert und/also inszeniert. Widerstand wird getanzt, | |
Geschichte wird getanzt, der Alltag wird getanzt und die Kunst. Und daher | |
empfängt Zineb Sedira, die Besucher mit dem Tango tanzenden Paar in dem | |
Tanz-Café mit Bar aus Ettore Scuolas Filmmeditation über 70 Jahre | |
französische Geschichte „Le Bal“ (1983). | |
Widerstand wird mit der Waffe geleistet wie Gillo Pontecorvo in der | |
„Schlacht um Algier“ (1966) zeigt, seinem als Reenactment inszenierten | |
Dokumentarfilm über den Zusammenstoß der französischen Armee und der | |
algerischen Nationalen Befreiungsfront in Algier 1957. Die Filmszenen sind | |
in die Geschichte eingestreut, die die Künstlerin aus dem Off erzählt, von | |
ihrem Aufwachsen als Kind algerischer Migranten in den Vororten von Paris, | |
von ihrer Übersiedlung nach Großbritannien, ausgerechnet nach Brixton, über | |
Erfahrungen von Rassismus und Klassismus, aber auch von Solidarität und | |
befreiendem Witz, über die sie sich mit Familie und Freunden just in jenem | |
Wohnzimmer austauscht, dessen faszinierendes, liebevoll rekonstruiertes | |
Interieur man gerade noch bewundert hat. | |
Zineb Zediras immersive Filminstallation erweist sich als außergewöhnlich | |
konzise Begegnung mit einer Geschichte von Gewalt und Ausgrenzung, von | |
daraus erwachsender Solidarität, von individuellem wie gemeinschaftlichem | |
Widerstand, von Freude und Lust. | |
## Die letzte Fahrt der HMS Terror | |
Der Kunststandort Berlin ist längst auf das kommende Gallery Weekend | |
gepolt. Deshalb schließen die Galerieausstellungen, wenn sie nicht schon | |
letzte Woche zu Ende gingen, spätestens diese Woche. Bleiben also die | |
Institutionen, siehe oben, oder das Buch, das ja auch ein Ausstellungsraum | |
für Künstler ist. In seinem ganz eigenen Stil der Zeichnung, dessen | |
Anleihen beim Comic der psychedelischen 1970er Jahre wie bei der Fantastik | |
des 19. Jahrhundert unübersehbar sind, hat Max P. Häring nun Arthur | |
Rimbauds „Das Trunkene Schiff“ in der Nachdichtung von Paul Zech | |
illustriert, das mit drei aktuellen Texten zu Rimbaud von Hans Terre in der | |
Edition Hibana dieses Jahr neu veröffentlicht wurde. | |
Das Langgedicht, 25 Strophen zu je vier Versen, gilt als poetische Wegmarke | |
der Moderne. Der Dichter beschreibt darin, changierend zwischen Erinnerung | |
und Vision, den Aufbruch eines Schiffs zum Meer aus der Sicht des | |
vagabundierenden Schiffs. Der Aufbruch ist ein Ausbruch aus der Enge des | |
Flussbetts und der Arbeit als Lastenträger in die Freiheit der See, die | |
sich gleich dramatisch aufspielt: „Ich sah, wie die Blizzards den Himmel | |
zerfetzten, sah trichternde Wirbel und der Walfische Spur“. | |
Max P. Häring steigert das geschilderte Szenario, indem er nicht der Sicht | |
des Schiffes folgt. Er ist der Betrachter von außen, der einen totalen Raum | |
erblickt, in dem das aufgewühlte Meer nahtlos in den von Regen gepeitschten | |
Himmel übergeht und in dem Licht nur eine Modifikation von Dunkelheit zu | |
sein scheint. Aus diesem Dunkel blitzen Fische herauf und tatsächlich sieht | |
man einen Walfisch seiner Wege ziehen, während am Himmel die Vögel im Sturm | |
tanzen. Doch letztlich ist das ungenau beobachtet. Denn bei näherem | |
Hinsehen erkennt man die Vögel eher als abstrakte Schriftsymbole wie | |
überhaupt die Welt des penibel durchschraffierten Blattes ein Universum der | |
Abstraktion und Zeichen ist, zusammengefügt durch Dichte und Rhythmus' des | |
Strichs. | |
Nur der Wal und das Schiff sind von unmissverständlicher Gestalt. Das | |
Schiff, in Rimbauds Konzept ein verlorenes Schiff, taucht als solches denn | |
auch ein weiteres Mal auf. Max P. Häring sieht es auf einer Doppelseite als | |
die auf den Meeresgrund gesunkene HMS Terror. 1813 als Kriegsschiff von der | |
Rede gegangen, später zum Forschungsschiff umgebaut und in der Arktis und | |
Antarktis eingesetzt, nahm die HMS Terror 1845 an der gescheiterten | |
Franklin Expedition teil, wurde aufgegeben und schließlich 2016 als gut | |
erhaltenes Wrack im Kanadisch-Arktischen Archipel geborgen. | |
22 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/hamburger-bahnhof/home/ | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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