| # taz.de -- Tarifverhandlungen im Gesundheitswesen: Auf Sicht arbeiten | |
| > Die Beschäftigten des Städtischen Krankenhauses Kiel kämpfen um bessere | |
| > Arbeitsbedingungen. Es geht ihnen nicht nur um Geld. | |
| Schnee fällt in feinen Flocken auf den Vorplatz des Städtischen | |
| Krankenhauses Kiel, wo ein Grüppchen von Frauen und Männer in neongelben | |
| Warnwesten steht. „Heute ist kein Arbeitstag, heute ist Streiktag!“, rufen | |
| sie im Chor. Manuela Rasmussen steht ganz vorn, ihre Stimme schallt über | |
| die anderen hinweg. Sie ist eine kleine, breitschultrige Frau, lange braune | |
| Locken, blitzend fröhliche braune Augen, die jünger wirkt als ihre 61 | |
| Jahre. Eine, die sich nichts sagen lässt, die für ihre Rechte eintritt. Die | |
| ihren Beruf in der Pflege liebt, aber immer mehr an den Umständen | |
| verzweifelt. Eine, die in diesen Wochen wie Tausende andere bundesweit für | |
| höheren Lohn streikt, obwohl es eigentlich um viel mehr als Geld geht. | |
| Es ist 8 Uhr, und an einem normalen Arbeitstag wäre Rasmussen jetzt im | |
| vierten Stock des Krankenhauses auf ihrer Station. Kardiologie, | |
| Pneumologie, Nephrologie, Herz, Lunge, Niere. Um diese Uhrzeit verteilt | |
| Rasmussen normalerweise Frühstück, hilft Bettlägerigen beim Waschen, läuft, | |
| wenn eine Klingel schrillt. | |
| Rasmussen hat ihre Ausbildung in der Klinik im schleswig-holsteinischen | |
| Itzehoe gemacht, seit vier Jahrzehnten arbeitet sie im Städtischen | |
| Krankenhaus, einem Tochterbetrieb der Stadt Kiel. Sie kann sich an den Bau | |
| des Hauptgebäudes erinnern, vor dem die Streikenden nun stehen. Als das | |
| Hochhaus Mitte der 1980er Jahre eröffnet wurde, schoben die Pflegekräfte | |
| die Kranken in den Betten vom Altbau ins neue Haus, die Küche lieferte | |
| Extramahlzeiten für eine improvisierte Feier. | |
| ## „Alarmstufe Rot“ | |
| Schon in den 80er Jahren klagten die Beschäftigten über Stress. Doch damals | |
| seien sie oft zu viert oder fünft auf Station gewesen. „Wir hatten Zeit, | |
| mit den Patienten zu reden“, erinnert sich Rasmussen. Heute sei es normal, | |
| nachts allein zu arbeiten, und auch tagsüber werde es immer enger. Das | |
| Gleiche berichtet ihre Kollegin Ruth Düring. Auch die 59-Jährige ist seit | |
| vier Jahrzehnten im Städtischen, inzwischen ist sie zur Teamleiterin in der | |
| Geburtsstation aufgestiegen. Die Stimmung untereinander sei gut, fast | |
| familiär. Eigentlich. Aber der enge Takt, der Druck belaste alle. Rasmussen | |
| sagt: „Es wird nur noch auf Sicht gearbeitet.“ | |
| Auf Sicht arbeiten: Das gilt nicht nur für die Beschäftigten, sondern für | |
| die gesamte stationäre Versorgung. Im vergangenen Herbst rief die Deutsche | |
| Krankenhausgesellschaft (KHG) die „Alarmstufe Rot“ aus und warnte davor, | |
| dass steigende Kosten für Energie und die Inflation die Kliniken ins | |
| Taumeln brächten. In Schleswig-Holstein steckten viele Häuser gar in einer | |
| „existenziellen Krise“, so die Krankenhausgesellschaft. Sie vertritt die 76 | |
| Kliniken im Land mit insgesamt 111 Standorten von der dänischen Grenze bis | |
| zum Hamburger Rand, von der Nord- bis zur zur Ostsee. Die Bandbreite reicht | |
| von einer winzigen Spezialklinik mit drei Plätzen bis zu den Uni-Kliniken | |
| in Kiel und Lübeck mit über 1.000 Betten. | |
| Die meisten Träger – 35 – sind privat, 29 frei-gemeinnützig oder kirchlich | |
| gebunden, zwölf Häuser sind in kommunaler Hand, verrät die Homepage der | |
| Landes-KHG. Die steigenden Kosten treffen sie alle. Die kommunale | |
| Imland-Klinik im Kreis Rendsburg-Eckernförde und die evangelische Diako in | |
| Flensburg haben Insolvenz angemeldet. In Lübeck steht das | |
| Marien-Krankenhaus, eine Belegklinik mit einer großen Geburtsstation, vor | |
| der Übernahme durch die Uni-Klinik, die selbst in den roten Zahlen steckt. | |
| Auch das Städtische Krankenhaus Kiel mit seinen 605 Betten erwartet für | |
| 2023 rund 12 Millionen Euro Minus. | |
| 85 Millionen Euro zahlen Land und Kommunen allein in Schleswig-Holstein | |
| jährlich für Krankenhaus-Investitionen. Im Januar versprach die Regierung | |
| zusätzliche Mittel – zu wenig, kritisiert die Opposition. Es fehlt an Geld, | |
| aber noch mehr fehlt es an Personal: Gesundheitsministerin Kerstin von der | |
| Decken (CDU) hat eine Projektgruppe eingerichtet, um die | |
| Krankenhauslandschaft neu aufzustellen. Es gehe um die „Sicherung der | |
| Grundversorgung“, sagte sie Mitte Februar und präzisierte gegenüber dem | |
| NDR, wohin die Reise gehen soll: „Spezialisierung und Konzentration | |
| kombiniert mit Grund- und Notfallversorgung in der Fläche.“ In eine | |
| ähnliche Richtung deutet der Plan, den Bundesgesundheitsminister Karl | |
| Lauterbach (SPD) vorgelegt hat. Dennoch hat sich das schwarz-grün regierte | |
| Schleswig-Holstein der Initiative von Bayern und Nordrhein-Westfalen | |
| angeschlossen, die Lauterbach’schen Pläne „prüfen zu lassen“. Zurzeit w… | |
| ein Rechtsgutachten erstellt. Nach einer raschen Umsetzung der Reform sieht | |
| es nicht aus. | |
| Es ist 10 Uhr geworden, der Demonstrationszug macht sich auf dem Weg durch | |
| die Stadt. Der Himmel hat sich aufgeklart, die Sonne scheint durch die | |
| letzten Wolken. Der Zug umfasst etwa 70 Personen, die Polizei hat Straßen | |
| für sie gesperrt. Passant:innen bleiben stehen, einige schauen nur, | |
| andere nicken. Ein älterer Mann mit Schnauzbart und einem Mantel mit | |
| Fellkragen hebt anerkennend einen Daumen. | |
| Die Zustimmung freut die Streikenden, aber sie wollen konkrete Ergebnisse | |
| sehen. 10,5 Prozent mehr Lohn, für kleine Einkommen mindestens 500 Euro | |
| mehr, fordern die Gewerkschaften. Für arme Kommunen wie Kiel wären 10 | |
| Prozent mehr Lohn schwer zu stemmen. Die Arbeitgeberseite, also der Bund | |
| und die Kommunen, haben zuletzt eine stufenweise Steigerung um 5 Prozent | |
| plus eine Einmalzahlung von 2.500 Euro als Inflationsvergleich geboten.Die | |
| Gewerkschaften haben abgelehnt, und Ruth Düring begrüßt das: „Wir arbeiten | |
| rund um die Uhr, an den Wochenenden und Feiertagen, da sollte jedenfalls | |
| die Bezahlung stimmen. Das muss die Politik begreifen.“ | |
| An einem normalen Tag würde sie jetzt die jungen Mütter darüber aufklären, | |
| wie sie mit ihren Neugeborenen umgehen sollen. Das werde immer schwieriger, | |
| erzählt die 59-Jährige. Teils aus sprachlichen Gründen: Viele der | |
| Gebärenden sprechen nicht gut Deutsch, also muss Düring ihnen das nötige | |
| Wissen „mit Armen und Beinen“ vermitteln. Doch schwerer wiegen strukturelle | |
| Gründe: Früher blieben Mütter zwei Tage, jetzt oft nur einen. „Ich gehe | |
| immer mit dem Gefühl nach Hause, wir hätten mehr tun müssen“, sagt Düring. | |
| Auch auf der Herz-Lunge-Niere-Station wird die Verständigung mit den | |
| Patient:innen immer schwieriger, allerdings aus anderen Gründen. Das | |
| Durchschnittsalter liegt jenseits der 70, viele der noch Älteren sind | |
| dement. Allein essen, sich selbständig mit Getränken versorgen, einen Ball | |
| in einem Plastikröhrchen nach oben pusten, schaffen sie kaum mehr. Manchmal | |
| gehen die Alten vom Krankenhaus direkt in ein Pflegeheim – für die | |
| Pflegekräfte bedeutet das weiteren Papierkram, Koordination und Abstimmung | |
| mit dem Sozialdienst, dessen Team aus Sozialpädagog:innen und | |
| Fallmanager:innen eine eigene Abteilung des Krankenhauses bildet. | |
| Manuela Rasmussen würde um diese Uhrzeit die Visite begleiten, einmal rund | |
| um die Station. Sie besteht aus einem kreisförmigen Flur, an dessen | |
| Außenseiten die Krankenzimmer liegen, in der Mitte sind Funktionsräume | |
| untergebracht. Am Ende des Kreises befindet sich das Stationszimmer, | |
| dahinter ein Raum für die Pflegekräfte und Ärzt:innen. Die 33 Betten der | |
| Station sind fast immer besetzt, an vielen Tagen stehen weitere auf dem | |
| Flur. Immerhin lässt sich ein Paravent davorschieben, um den Kranken ein | |
| wenig Privatsphäre zu geben. Auf einem Nachttisch liegt eine Art | |
| Fahrradklingel: Damit können die Leute in den „Flurbetten“ um Hilfe rufen. | |
| Mehr Kranke, schnellerer Durchfluss, weniger Personal: „Wow, unser Job wird | |
| immer attraktiver“, sagt Ruth Düring sarkastisch. Es sei schon klar, warum | |
| die Älteren lieber Teilzeit arbeiten und junge Leute gar nicht erst | |
| anfangen. Manuela Rasmussen hat drei Töchter, in die Pflege ist keine von | |
| ihnen gegangen. Ihre Mutter kann es verstehen. | |
| Während sie vor dem Rathaus „Mehr Kohle, mehr Kohle!“ ruft, sitzen ihre | |
| Kolleginnen im Stationszimmer im vierten Stock vor Bildschirmen. Über einen | |
| Schirm laufen Puls- und Herzfrequenzen mehrerer Patient:innen, aber die | |
| Pflegekräfte schauen vor allen auf die Texte vor ihnen. Dokumentation – | |
| wenn ein Wort für die Be- und Überlastung der Pflegekräfte steht, dann | |
| dieses. Drei Stunden gehen pro Tag für Bürokratie drauf, heißt es auf der | |
| Homepage der Krankenhausgesellschaft. | |
| Eigentlich sei Dokumentation nicht schlecht, sagt Ruth Düring. „Aber wir | |
| haben nun mal nicht genug Leute, also geht es zulasten der Zeit am | |
| Patienten. Man sagt Hallo und verschwindet am PC.“ Immer mehr | |
| Computerarbeit, immer weniger Pflege: „Mein Job hat nichts mehr mit dem zu | |
| tun, was ich gelernt habe.“ | |
| Ein Grund für den höheren Aufwand ist, dass seit 2020 die Pflegekosten aus | |
| den Fallpauschalen für Behandlungen herausgerechnet werden. „Wir müssen | |
| aufschreiben, wenn wir nur den Fuß eines Patienten bewegen“, sagt | |
| Rasmussen. Für sie klingt das nach Misstrauen: „Früher hat man uns | |
| geglaubt, dass wir unsere Arbeit richtig machen.“Ein Thema, das viele der | |
| Streikenden beschäftigt, ist der Plan des Städtischen Krankenhauses, die | |
| insolvente Imland-Klinik im Nachbarkreis zu kaufen. Eine gemeinsame Klinik | |
| biete „beiden Standorten vielversprechende Entwicklungsmöglichkeiten, | |
| Synergien und Zukunftsperspektiven“, sagt Roland Ventzke, Geschäftsführer | |
| des Städtischen. | |
| Die Streikenden sehen das skeptisch: „Dafür ist Geld da, aber für uns | |
| nicht“, ist ein Satz, den viele sagen. Ihnen geht es nicht nur um den | |
| eigenen Lohn, sondern auch um die Beschäftigten, die im Krankenhaus | |
| reinigen, kochen und die Patienten in den Betten zu Untersuchungen | |
| schieben. Sie hat das Städtische vor einigen Jahren ausgegliedert und in | |
| einer hauseigenen Service GmbH angestellt, zu schlechteren Bedingungen. | |
| Unfair, findet die Gewerkschaft Verdi, finden auch Rasmussen und Düring. | |
| Es ist inzwischen früher Nachmittag. An einem normalen Tag würde sich jetzt | |
| irgendwo im Land jemand an den Computer setzen und ein Statement abschicken | |
| wie dieses: „Die Schwester verdrehte die Augen und sagte, ich solle doch zu | |
| meinem Kinderarzt oder hier mindestens 5 Stunden warten. So was Freches | |
| habe ich noch nie erlebt! Kaffee trinken war für die Damen wohl | |
| wichtiger!!!“ Das schrieb eine Frau, die mit ihrem Baby ohne Überweisung | |
| und ohne Termin in die Kinderstation des Städtischen Krankenhauses kam, auf | |
| einem Bewertungsportal. Dort beschwerte sich auch ein Mann über seinen | |
| Besuch in der Notaufnahme: Der Arzt habe nicht mal „Guten Tag“ gesagt und | |
| sei unfähig gewesen, sich „in die Lage reinzudenken“. Mit dieser „Ich | |
| zuerst“-Haltung der Patient:innen müssen sie auch auf den Stationen | |
| umgehen. | |
| Der Demonstrationszug ist wieder vor der Klinik angekommen. Die Sonne | |
| scheint, der Schnee ist geschmolzen. „Petrus muss Gewerkschaftler sein“, | |
| ruft Verdi-Bezirksgeschäftsführer Manuel Gellenthin. Wenige Tage später | |
| beschließt die Kieler Ratsversammlung, die Service-Kräfte wieder in die | |
| Krankenhaus-GmbH einzugliedern. Und kurz darauf ist klar, dass die | |
| Imland-Klinik an einen privaten Bieter verkauft wird. Damit ist die | |
| kommunale Lösung vom Tisch. Manuela Rasmussen und Ruth Düring sind wieder | |
| auf ihren Stationen, zu oft vor dem Rechner, zu selten am Krankenbett. | |
| Wenn Verdi sie das nächste Mal zum Streik ruft, dürfte auch die Belegschaft | |
| des Städtischen wieder dabei sein. Für die Patient:innen bedeutet der | |
| Ausstand übrigens keine Änderung: Die zwischen Gewerkschaft und Krankenhaus | |
| vereinbarten Streik-Dienstpläne sehen teilweise mehr Personal vor, als im | |
| Normalfall auf den Stationen arbeitet. | |
| 24 Mar 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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