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# taz.de -- Wahlrechtsreform der Ampel: Der Opposition geht's an den Kragen
> SPD, Grüne und FDP haben die Klausel gekippt, die für CSU und Linke die
> Absicherung war. Kollateralschaden oder Absicht?
Bild: Der Deutsche Bundestag soll schrumpfen: von aktuell 736 Abgeordneten auf …
Berlin taz | Der 17. März 2023 war für den Bundestag ein denkwürdiger Tag.
An diesem Freitag beklatschte die Linke begeistert eine Rede von Alexander
Dobrindt, dem Landesgruppenchef der CSU. Und die Union applaudierte kräftig
für Jan Korte von der Linkspartei. Jener Partei also, die so mancher aus
CDU und CSU sonst gerne in einem Atemzug mit der AfD nennt. Beide, Dobrindt
und Korte, langten in ihren Reden kräftig hin. Von einem „Schurkenstück“
war die Rede, [1][von „Manipulation“ und einem „Angriff auf die
Demokratie“].
Es ging um die inzwischen erfolgte Reform des Wahlrechts. Lange Jahre hatte
der Bundestag erfolglos versucht, sich selbst zu verkleinern. An diesem
Morgen wollte die Ampel den gordischen Knoten endlich zerschlagen. Ihr
Plan: Im Bundestag sollen künftig nur noch 630 Abgeordnete sitzen.
Entscheidend für die Sitzverteilung sind ausschließlich die Zweitstimmen;
in einem Wahlkreis vorne zu liegen, garantiert nicht mehr den Einzug in der
Bundestag. Und: Die Grundmandatsklausel wird gestrichen.
Jene Klausel also, die bislang dafür sorgte, dass Parteien, die unter der
Fünfprozenthürde bleiben, trotzdem entsprechend ihres Wahlergebnisses in
den Bundestag einziehen – wenn sie drei Direktmandate gewinnen. Historisch
hat das vor allem der Linkspartei genutzt. Auch bei der letzten
Bundestagswahl hat sie es nur auf diesem Weg ins Parlament geschafft.
Künftig müsste sie mindestens 5 Prozent holen – oder wäre draußen.
[2][Doch auch die CSU könnte es treffen]: Die hatte bei der Bundestagswahl
2021 in Bayern zwar 45 Direktmandate und 31,7 Prozent der Stimmen geholt,
bundesweit macht das aber nur 5,2 Prozent aus. Die Fünfprozenthürde ist der
Partei also bedrohlich nah.
## Reform trifft die einen stärker als die anderen
Die Streichung der Klausel hatte die Ampel erst kurz vor jenem legendären
Freitag in ihren Gesetzentwurf eingefügt. Bis dahin war es ein Entwurf, den
man inhaltlich kritisieren konnte, bei dem es aber einigermaßen gerecht
zuzugehen schien, weil er auch Abgeordneten der Ampel die Aussicht auf
Wiederwahl genommen hätte. Doch in seiner nun verabschiedeten Form hat das
Gesetz eine ganz andere Wucht.
Die Vorwürfe der Kritiker: Dieses Wahlrecht ist ungerecht, weil die
Änderungen manche Fraktionen deutlich stärker treffen als andere. Und
schlimmer noch: Die Ampel will der Opposition damit gezielt an den Kragen.
War das die Absicht? Oder ist das Streichen der Grundmandatsklausel eine
Art Kollateralschaden?
Fest steht: Zwei Monate zuvor sind die Fachpolitiker der Ampel noch
überzeugt, dass die Grundmandatsklausel unbedingt sein müsse. Als sie
[3][ihre Reform in den Bundestag einbringen], erhebt die Union eigene
Forderungen. Es könne doch nicht sein, „dass der Wahlvorschlag der CDU/CSU
vorsieht, die Linke durch die Anhebung der Grundmandatsklausel einfach so
aus dem Parlament zu katapultieren“, sagt damals der zuständige Obmann der
SPD, Sebastian Hartmann.
Wenig später steht Till Steffen, Hartmanns Counterpart von den Grünen, am
Redepult. „Wir machen einen Vorschlag, der auch den kleinen Parteien
gerecht wird“, sagt er. „Wir finden, auch für die CSU ist es richtig, dass
es künftig die Grundmandatsklausel gibt. Deswegen halten wir daran fest,
auch wenn es verfassungsrechtlich nicht zwingend ist.“
## Womöglich ein Eigentor
Sechs Wochen später gilt das alles offensichtlich nicht mehr. „Nur
Parteien, die über 5 Prozent liegen, nehmen an der Stimmverteilung teil“,
sagt Sozialdemokrat Hartmann am 17. März im Bundestag. Was ist in der
Zwischenzeit passiert?
Versucht man, dies zu rekonstruieren, muss man in die Zeit zurückgehen,
bevor der Gesetzentwurf erstmals im Bundestag debattiert wurde. Die Union
hatte gegen den Vorschlag der Ampel Stimmung gemacht, aber keinen eigenen
Gesetzentwurf vorgelegt – sondern kurz vor der ersten Lesung nur einen
zweiseitigen Antrag mit fünf Forderungen. Eine davon: die Anhebung der
Grundmandatsklausel von drei auf fünf Mandate. Das hätte Konsequenzen für
die Linkspartei gehabt, die CSU aber wäre fein raus gewesen.
Die Ampel hatte sich zu diesem Zeitpunkt eigentlich darauf verständigt, die
Grundmandatsklausel nicht anzufassen – entsprechend äußerten sich die
Redner der Koalition im Bundestag. Der Vorschlag der Union aber, so ist zu
hören, habe das Thema erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Hat die Union
also letztlich ein Eigentor geschossen, indem sie die Grundmandatsklausel
überhaupt zur Debatte gestellt hat?
Montag, 6. Februar, Raum 2.600 im Paul-Löbe-Haus. Der Innenausschuss des
Bundestags hat [4][zehn Sachverständige zu einer Anhörung geladen]. Zwei
der Experten, die auf dem Ticket der Union gekommen sind, bringen vehemente
Kritik an der Grundmandatsklausel vor. Ihre Argumentation: Schon bisher sei
sie schwierig gewesen; da im neuen Recht aber die Bedeutung der
Direktkandidaten sinke und manche Wahlkreise keine direkt gewählten
Abgeordneten mehr in den Bundestag entsenden würden, wachse das Problem.
## Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Die Grundmandatsklausel werde nun wohl eine „verfassungswidrige
Systemausnahme“, urteilt Bernd Grzeszick, Juraprofessor aus Heidelberg. Und
Philipp Austermann, Jurist an der Hochschule des Bundes in Brühl, meint:
„Vorzugswürdig wäre es, die Grundmandatsklausel ersatzlos zu streichen.“
Die von der Ampel geladenen Expert*innen argumentieren ganz anders; sie
machen kein juristisches, sondern ein politisches Argument stark. Nur durch
die Grundmandatsklausel werde sichergestellt, dass der Ampel-Entwurf die
Chancenverteilung im politischen Wettbewerb nicht verändere, heißt es in
der Stellungnahme der drei Juraprofessor*innen Jelena von Achenbach,
Florian Meinel und Christoph Möllers: „Die Grundmandatsklausel
beizubehalten, ist für die Glaubwürdigkeit des Entwurfs damit unabdingbar.“
Wie recht sie damit haben, zeigt die Debatte der vergangen zwei Wochen.
Doch die Ampel hörte lieber auf die Gegenseite. Die taz hat mit vielen
Beteiligten über den Hergang gesprochen. Aus der Ampel heißt es: Die
Stellungnahmen und Äußerungen aus der Union hätten dazu geführt, über die
Streichung der Grundmandatsklausel nachzudenken.
„Wir sind davon ausgegangen, dass die Union mit einer Klage auf die
Grundmandatsklausel zielen wird“, sagt der Grüne Till Steffen. Und
Konstantin Kuhle, der Obmann der FDP, argumentiert im Bundestag: „Der
Verzicht auf eine Grundmandatsklausel im neuen Wahlrecht (ist) mit weniger
verfassungsrechtlichen Risiken behaftet, als es die Einführung einer neuen
Grundmandatsklausel gewesen wäre.“
## „Haben wir nicht gefordert“
Schon Wochen vor der Debatte haben die drei Hauptverhandler der Ampel,
Sozialdemokrat Hartmann, der Grüne Steffen und Kuhle von der FDP, der Union
ihren neuen Vorschlag präsentiert – mitsamt dem Wegfall der
Grundmandatsklausel. „Die Verhandler der Union haben nicht deutlich
gemacht, dass sie im Wegfall der Grundmandatsklausel ein Problem für die
CSU sehen“, sagt Steffen.
Davon, dass die Streichung letztlich auf sie selbst zurückgeht, will die
Union eher nichts wissen. „Wir haben die ersatzlose Streichung der
Grundmandatsklausel jedenfalls nicht gefordert“, betont CDU-Verhandler
Ansgar Heveling. Auch der Vorstellung, dass die Union bei einer Klage vor
dem Bundesverfassungsgericht besonders auf die Grundmandatsklausel gezielt
hätte, widerspricht er. „Wenn es um eine Normenkontrollklage geht, ist
klar, dass verschiedene verfassungsrechtliche Punkte eine Rolle spielen,
von denen die Grundmandatsklausel nur einer ist.“
Wer die Vertreter der Ampel beobachtet, kann auf die Idee kommen, dass
neben all den Sachargumenten auch aufgestauter Ärger über die CSU eine
Rolle gespielt haben könnte. Ärger über eine Partei, die in nur einem
Bundesland antritt, von ihrer Sonderstellung stark profitiert, nach der
Wahl im Bundestag aber flugs in eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU
eintritt. Und die zehn Jahre lang jede weitreichende Reform verhindert hat
– weil sie durch die vielen Direktmandate besonders von der derzeitigen
Regelung profitiert.
„Heute haben wir die Möglichkeit, den entscheidenden Schritt zu machen,
ohne von den Interessen einer Partei aufgehalten zu werden, die nur in
einem Bundesland zur Wahl steht“, schreibt Rolf Mützenich, der
Fraktionschef der SPD, an seine Abgeordneten. „Es kann nicht sein, dass die
CSU als Regionalpartei dem Deutschen Bundestag diktiert, wie das Wahlrecht
aussieht“, ruft die grüne Fraktionschefin Britta Haßelmann im Bundestag.
## Linke war sich nicht einig
„Jede Wahlrechtsreform ist auf den letzten Metern immer an der CSU
gescheitert. Das war bei Schäuble so, das war bei Lammert so, und das
durfte uns jetzt nicht passieren“, sagt FDP-Mann Kuhle in der Talkshow
„Lanz“. Das mag alles stimmen. Sollte aber bei der Reform des Wahlrechts,
das immerhin einen zentralen Bestandteil der parlamentarischen Demokratie
darstellt, keine Rolle spielen.
Und die Linke? Mit der habe es noch nicht einmal richtige Verhandlungen
gegeben, heißt es aus der Ampel. Die Linke sei mit ständig wechselnden
Berichterstattern aufgetreten und sich nicht einig gewesen, ob sie dem
ersten Ampel-Vorschlag zustimmen wolle. Ernsthafte Gespräche habe die
Fraktionsspitze abgelehnt. Aus der Linksfraktion wird diese Darstellung
bestätigt.
Die Ampel brachte am 17. März ihren Gesetzentwurf mit ihrer eigenen
Mehrheit durch den Bundestag. Linke und Union kündigten Klagen an. Man sehe
sich [5][in Karlsruhe], rief Jan Korte den Ampel-Fraktionen zu. Der
Ausgang: ungewiss.
Scheitern die Klagen, könnte ein neu zusammengesetzter Bundestag das Gesetz
wieder ändern – mit der Mehrheit einer neuen Koalition. CDU-Chef Friedrich
Merz hat schon angekündigt, dies vorzuhaben. Ein Wahlrecht aber, das je
nach Regierungsmehrheit geändert wird, ist wahrlich keine gute Idee.
27 Mar 2023
## LINKS
[1] /Wahlrechtsreform-beschlossen/!5920651
[2] /Wahlrechtsreform-der-Ampelkoalition/!5918772
[3] /Bundestag-debattiert-Wahlrechtsreform/!5911743
[4] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw06-pa-inneres-wahlrech…
[5] /Umstrittene-Wahlrechtsreform/!5920077
## AUTOREN
Sabine am Orde
Jasmin Kalarickal
Anna Lehmann
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