| # taz.de -- „Tár“ mit Cate Blanchett: Sag, was fühlst du? | |
| > In „Tár“ lässt Regisseur Todd Field seine Hauptdarstellerin Cate | |
| > Blanchett als Dirigentin eine komplexe Figur ausleben. Man sieht ihr gern | |
| > dabei zu. | |
| Bild: „Natürliche Autorität“: Lydia Tár (Cate Blanchett), im Hintergrund… | |
| Wie viele Dirigentinnen kennen Sie? Wenn die Antwort „keine“ lauten sollte, | |
| ist das zwar nichts, über das man sich zu freuen braucht, doch hat es nur | |
| sehr eingeschränkt mit Ignoranz zu tun. Der Musikbetrieb hat unter den | |
| Personen, die Orchester leiten, bisher einfach deutlich weniger Frauen | |
| hervorgebracht als Männer. | |
| Zwar gab es schon im 20. Jahrhundert eine Reihe von Dirigentinnen, die | |
| meisten von ihnen blieben jedoch, wie die französische Komponistin Nadia | |
| Boulanger, zeitlebens Gast in diesem Beruf. Frauen, die von sich sagen | |
| können, dass sie vertraglich garantiert bekommen, regelmäßig vor demselben | |
| Orchester den Taktstock heben zu dürfen, stellen nach wie vor eine | |
| Minderheit, zu der zum Beispiel die Finnin Susanna Mälkki gehört. | |
| Dieses Ungleichgewicht bildet die Grundlage für „Tár“, die erste neue | |
| [1][Regiearbeit des US-amerikanischen Schauspielers und Regisseurs Todd | |
| Field seit „Little Children“ von 2006]. Lydia Tár, die fiktive | |
| Protagonistin, der Film schreibt ihren Nachnamen im Titel demonstrativ in | |
| Großbuchstaben, ist eine Frau, die es als Orchesterleiterin zu | |
| künstlerischem Ruhm gebracht hat. Sie ist zudem die erste Frau, die | |
| dauerhaft die Berliner Philharmoniker leiten wird. | |
| Zu Beginn sieht man Lydia Tár bei einem Podiumsgespräch mit dem | |
| Journalisten Adam Gopnik des New Yorker, der sich selbst spielt. Sie reden | |
| über die genannten strukturellen Probleme, unter denen Dirigentinnen wie | |
| Antonia Brico zu leiden hatten, über Társ Mentor Leonard Bernstein und | |
| ihren eigenen Interpretationsansatz. Während des Gesprächs streicht sich | |
| Tár mehrfach nervös mit den Fingern über den Rand des Ohrs, was in leichtem | |
| Kontrast zu ihrem selbstbewusst eloquenten Auftritt steht. | |
| Tár betont, dass es für Interpreten darauf ankommt, was man bei der Musik | |
| selbst empfindet. Ohne das sei künstlerischer Ausdruck kaum möglich. Kein | |
| unbedingt origineller Ansatz, ließe sich einwenden, doch droht er unter dem | |
| vielen Gehabe um Virtuosität in Vergessenheit zu geraten. | |
| ## Blanchett vereinnahmt zweieinhalb Stunden die Leinwand | |
| [2][„Tár“, der im vergangenen Jahr im Wettbewerb der Filmfestspiele von | |
| Venedig lief, wo Blanchett den Preis als beste Darstellerin erhielt], lebt | |
| zuallererst von ihrer magischen Fähigkeit, die Leinwand zu vereinnahmen. | |
| Was Todd Field dazu ermuntert haben könnte, seine Hauptdarstellerin in | |
| jeder Szene des Films zu zeigen. Für die zweieinhalb Stunden, die er | |
| dauert, geht diese Entscheidung hervorragend auf. Man sieht eine große | |
| Künstlerin, nicht unbedingt sympathisch, dafür umso einnehmender in ihrer | |
| Leidenschaft für die Musik. | |
| Der Alltag rund um die Proben ist eine der Ebenen des Films. Tár am Pult, | |
| die mit dem, was man „natürliche Autorität“ nennt, die Musiker der Berlin… | |
| Philharmoniker dazu bringt, das zu tun, was sie will. Bei Mahlers 5. | |
| Symphonie insbesondere, die sie für das nächste Konzert probt. Mit einem | |
| Livemitschnitt will Tár ihren Mahler-Zyklus an der Spitze der Berliner | |
| Philharmoniker vollenden. | |
| Lustigerweise stammen die Orchesterklänge, die man im Film hört, von den | |
| Dresdner Philharmonikern, die im Film zugleich die Berliner Kollegen mimen. | |
| Zur weiteren Verwirrung trägt bei, dass der Film, der zu großen Teilen in | |
| Berlin spielt und für den einige Szenen dort ebenfalls gedreht wurden, bei | |
| den Orchesterproben das Innere des Dresdner Kulturpalasts zeigt. | |
| ## Begrenztes Verständnis für woke Ansichten | |
| An anderer Stelle ist Tár in New York zu erleben, wie sie sich mit | |
| Sponsoren eines von ihr ausgelobten Künstlerstipendiums trifft oder eine | |
| Klasse in der Juillard School of Music abhält. Im Umgang mit den Studenten | |
| zeigt sich eine weitere Facette der von Field komplex angelegten Figur. | |
| Tár, die sich beruflich in einer Männerdomäne behauptet und privat in einer | |
| lesbischen Beziehung mit ihrer Konzertmeisterin Sharon (wunderbar trocken: | |
| Nina Hoss) plus Tochter lebt, hat für die woken Ansichten der jüngeren | |
| Generation begrenztes Verständnis. Sie selbst würde sich lieber mit | |
| „maestro“ ansprechen lassen als mit „maestra“ – so wie es im | |
| englischsprachigen Raum unter einigen Schauspielerinnen etwa die Haltung | |
| gibt, dass sie lieber „actor“ als „actress“ sein wollen, um sich nicht | |
| gegenüber Schauspielern männlichen Geschlechts diskriminiert zu fühlen. | |
| Als Tár einen der Studenten fragt, was er von Bach hält, entgegnet dieser, | |
| dass er Bach, einen Familienvater mit 20 Kindern, sexistisch finde. Ihm als | |
| pansexueller BIPoC habe dieser heterosexuelle Cis-Mann nichts zu sagen. | |
| Worauf Tár zum Klavier schreitet, um eines der vermeintlich abgenudeltsten | |
| Werke Bachs, das Präludium in C-Dur aus dem ersten Teil des | |
| „Wohltemperierten Klaviers“, zu spielen und die Qualitäten des Stücks dur… | |
| unterschiedliche Interpretationsweisen auszuloten. Dabei konfrontiert sie | |
| den Studenten mit der Frage, was er dabei fühle. Blanchett spielt in dieser | |
| Szene das Instrument übrigens selbst. | |
| ## Ambivalenz als Faszination der Figur | |
| Im Stil übergriffig und verletzend, stellt Tár eine gleichwohl berechtigte | |
| Frage: Welche Musik kann heute welches Publikum erreichen? Und ist | |
| Identität das wichtigste Kriterium, das man für die Antwort berücksichtigen | |
| sollte? Diese Ambivalenz von Tár macht einen gut Teil der Faszination der | |
| Figur aus. | |
| Wäre „Tár“ ein reiner Porträtfilm dieser fiktiven Künstlerin, wäre er | |
| reizvoll genug. Todd Field hat aber noch eine weitere Erzählung in diesen | |
| Hauptstrang eingeflochten, die für die Handlung in der zweiten Hälfte | |
| bestimmend sein wird. Hinweise auf einen möglichen Konflikt streut Field | |
| schon früh, wenn Társ Assistentin Francesca (gekränkt dienstfertig: Noémie | |
| Merlant) diese auf E-Mails einer früheren künstlerischen Protegée hinweist, | |
| die Francesca beunruhigend findet. Tár fordert sie lediglich auf, den | |
| Schriftverkehr mit der Musikerin zu löschen. | |
| Was genau vorgefallen ist, offenbart der Film in knappen Hinweisen, es | |
| läuft auf eine Art #MeToo-Skandal hinaus, in dem Tár ihre Macht missbraucht | |
| hat. Dieser Aspekt des Drehbuchs sorgte für einige Kritik. | |
| Dass ein Film, der mit seiner Protagonistin Neuland betritt und als | |
| Plädoyer für Gleichberechtigung verstanden werden kann, seiner Figur | |
| zugleich ein Bein stellt, ist unter anderem der US-amerikanischen | |
| Stardirigentin Marin Alsop sauer aufgestoßen, die sich in einem Interview | |
| mit der Sunday Times persönlich beleidigt zeigte. So als solle die eine | |
| Kunstfigur stellvertretend den ohnehin benachteiligten Berufsstand der | |
| Dirigentinnen desavouieren. | |
| ## Feministische Liebeserklärung an die Musik | |
| Man kann den Film aus dieser Perspektive kritisieren. Doch scheint er bei | |
| näherer Betrachtung zwei Geschichten zu verfolgen, die sich nicht | |
| zwangsläufig in der einen Person vereinen. Dass jemand eine große Musikerin | |
| ist, heißt weder, dass sie ein netter Mensch sein muss, noch, dass sie | |
| durch Macht nicht korrumpierbar wäre. Dirigentinnen mit seinem Film zu | |
| entmutigen, scheint jedenfalls nicht die Absicht Fields gewesen zu sein. | |
| Akzeptiert man diese Abgründe des Films, bleibt eine durchaus feministische | |
| Liebeserklärung an die Musik, die nicht allein im Bild, sondern ebenso mit | |
| einer vielschichtigen Tonspur begeistert, in der Alltagsgeräusche mitunter | |
| bedrohliche Dimensionen annehmen. Zusätzlich zur Probenmusik von Mahler und | |
| Edward Elgar hat die isländische Filmkomponistin Hildur Guðnadóttir Klänge | |
| beigesteuert, mit denen sie die Unstimmigkeiten von Társ Charakter | |
| suggestiv hervorhebt. | |
| In den USA scheint es der Film, der immerhin für sechs Oscars nominiert | |
| ist, an der Kasse nicht leicht zu haben. Er macht es einem auch nicht | |
| leicht. Das macht er dafür auf hinreißende Art. | |
| 2 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /US-Kino/!5199741 | |
| [2] /Goldener-Loewe-fuer-Laura-Poitras/!5877801 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
| ## TAGS | |
| Spielfilm | |
| Klassische Musik | |
| Musik | |
| Cate Blanchett | |
| Berliner Philharmoniker | |
| Schwerpunkt #metoo | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
| Thriller | |
| Musik | |
| Filmbranche | |
| taz Plan | |
| Film | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
| Surrealismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Serie „Disclaimer“ mit Cate Blanchett: Heiße Affäre, ungeklärte Fragen | |
| Hinter dem Glamour einer erfolgreichen TV-Journalistin stehen unangenehme | |
| Wahrheiten. Aber welche genau? Und für wen? Das ist auch eine Klassenfrage. | |
| Sir Simon Rattle beim Musikfest Berlin: Mal tief, mal spöttisch | |
| Auf dem Musikfest Berlin verabschiedete sich Simon Rattle als Chefdirigent | |
| des London Symphony Orchestra. Gespielt wurde Mahlers Neunte Sinfonie. | |
| Filmfestspiele Cannes 2023: Der Egozentriker | |
| Regisseur Nanni Moretti spielt in „Il sol dell’avvenire“ selbstironisch | |
| einen Regisseur als Kontrollfreak. Auch in Echt gilt der Mann als | |
| schwierig. | |
| Konzertempfehlungen für Berlin: Am Abend, da es kühle war | |
| Ostern ohne Matthäus-Passion ist möglich, aber man verpasst etwas. Vor | |
| allem beim RIAS Kammerchor. Das Trio KUF bringt derweil Samples zum | |
| Grooven. | |
| Kino-Film „65“ mit Adam Driver: Weltraummission in der Kreidezeit | |
| Früher war eben nicht alles besser: Adam Driver muss sich in „65“ als | |
| Außerirdischer gegen Dinosaurier und größeres Ungemach auf der Erde | |
| behaupten. | |
| Goldener Löwe für Laura Poitras: Filmen für die Toten | |
| Bei den 79. Filmfestspielen von Venedig hat Laura Poitras mit einem | |
| Dokumentarfilm über die Fotografin Nan Goldin gewonnen. Eine gute Wahl. | |
| Cate Blanchett als Dirigentin in Venedig: Zwei gequälte Seelen | |
| Lidokino 3: In Todd Fields Film „Tar“ ist Cate Blanchett eine erfolgreiche | |
| Dirigentin. Alejandro González Iñárritu rechnet mit Mexiko und den USA ab. | |
| US-Kino: Schwimmbad der menschlichen Abgründe | |
| In seinem Film "Little Children" betrachtet Regisseur Todd Field das Leben | |
| in einer amerikanischen Vorstadt mit viel Nachsicht. |