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# taz.de -- Sir Simon Rattle beim Musikfest Berlin: Mal tief, mal spöttisch
> Auf dem Musikfest Berlin verabschiedete sich Simon Rattle als
> Chefdirigent des London Symphony Orchestra. Gespielt wurde Mahlers Neunte
> Sinfonie.
Bild: Zum Abschied dirigierte Simon Rattle passenderweise Mahlers Abschiedssinf…
Im ausverkauften großen Saal der Berliner Philharmonie summt es. Die mit
einhundert [1][Musiker*innen des London Symphony Orchestra] voll
besetzte Bühne ist in Bewegung, die Saiten der Celli, Bässe, Violinen,
Bratschen und Harfen werden ein letztes Mal gestimmt, bis der, auf den hier
alle gewartet haben, das Pult betritt: [2][Sir Simon Rattle, seit 2002
Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, bis er 2018 das LSO übernahm].
Jetzt verabschiedet sich der 68-jährige Liverpooler aus London mit Mahlers
Neunter, bevor er in der kommenden Spielzeit das Sinfonieorchester des
Bayerischen Rundfunks übernehmen wird. Auch mit diesem hat er die Neunte
bereits gespielt, die Live-Aufnahme erschien 2022.
Die Neunte gilt als Mahlers Abschiedssinfonie. Sie ist sein letztes
vollendetes Werk, komponiert im Sommer 1909 im Pustertal bei Toblach. Als
langjähriger Leiter der Wiener Philharmoniker galt Mahler als
Dirigentengenie, hatte sich jedoch 1907 aufgrund antisemitischer
Anfeindungen und Ablehnung seiner als zu modern empfundenen Inszenierungen
mit diesen überworfen und ab Januar 1908 das Orchester der Metropolitan
Opera in New York übernommen.
Auch mit der „Met“ gab es Auseinandersetzungen wegen Mahlers Neuerungen und
so wurde 1909 für ihn von einer Gruppe von New Yorker Mäzen*innen ein
eigenes Orchester zusammengestellt, die New Yorker Philharmoniker, die er
bis zu seinem Tod 1911 leitete.
## Mit Innigkeit und Tiefe
Der mit nur 51 Jahren an einem Herzleiden verstorbene Mahler hat die
Uraufführung seiner 9. Sinfonie im Juni 1912 in Wien nicht mehr erlebt, die
aufgrund ihrer Loslösung von traditionellen kompositorischen Vorgaben als
Schlüsselwerk für den Übergang zur Moderne gilt. Adorno nannte sie „das
erste der neuen Musik“ und auch Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton
Webern bezogen sich auf deren radikale strukturelle und harmonische Brüche
als maßgeblich für die Entwicklung der Zweiten Wiener Schule.
Beinahe modular wirken bei Mahler die Klangblöcke des Orchesters, die er
mal polyphon zusammensetzt, mal hintereinanderlegt oder
übereinanderschichtet. Seine Klangarchitektur ist variabel, analog dem sich
durch die Sinfonie ziehenden Hauptthema in immer neuen, teils nur minimal
verschobenen Wiederholungen und Variationen.
Rattle dirigiert den 1. Satz der Neunten auswendig und mit einer Innigkeit
und Tiefe, die sich auf den gesamten Saal überträgt, während das Orchester
ihm in höchster Konzentration und Präzision folgt. Der Satz beginnt mit
einer heiteren Leichtigkeit, wie die Erinnerung an einen unbeschwerten
Sommertag, bis sie von dramatischem Drängen und tonalem Abfallen
überschattet wird. Verschiedene Versatzstücke legen sich über die, sich
immer wieder neu verzweigenden, Variationen des Ausgangsthemas, das sich
vergeblich zu behaupten versucht.
## Abgang mit Wehmut und Spott
In der Entstehungszeit der Neunten zerfiel das Vielvölker-Reich der [3][k.
u. k. Monarchie] und damit das „alte“ Österreich. Mahlers Musik ist ein
Abgesang mit Wehmut, aber auch Spott, wie im folgenden Scherzo des 2.
Satzes, der überschrieben ist mit „im Tempo eines gemäßigten Ländlers.
Etwas täppisch und sehr derb“.
Ein langsamer, stampfender Bauerntanz wird angedeutet, ein Wiener Walzer
und ein höfisches Menuett kommen dazu. Die Tänze überlagern sich in ihren
Drehungen im Dreivierteltakt, teilweise hölzern und unbeholfen, wie von
Marionetten getanzt, als überspitzte Parodie. Zuletzt ist eine einzelne
Flöte zu hören und, leiser werdend, noch vereinzelte Klangfragmente, die
sich in losen Enden auflösen.
Während Rattle das Publikum im 1. Satz noch in einen Rausch versetzte,
lässt die Konzentration im Saal während des 2. Satzes deutlich nach. Das
spöttisch Groteske der Tanzfiguren wird kaum herausgearbeitet, anders als
in seiner Aufnahme mit dem BRSO.
## Komponierte Stille
Auch im 3. Satz, einem als trotzige Burleske angelegten Rondo, das auf die
schwindelnd schneller werdenden Drehungen der Tänze verweist, fehlt das
Derbe der sich polyphon gegeneinander wälzenden Klangbrocken, zwischen
denen sich eine zarte Melodie erhebt wie [4][ein Shakespeare’scher Faun aus
dem „Sommernachtstraum]“, der bei Mahler zum Alptraum wird.
Der 4. Satz ist laut Mahler betont langsam zu spielen, adagio bis
adagissimo. Hier wird das Eingangsthema zu einem Schemen, zu einer bloß
noch schattenhaften Erinnerung.
Wie über ein verwaistes Trümmerfeld legen sich nach und nach die
Klangschichten der Streicher und Bläser, immer langsamer und leiser, mit
immer größeren Intervallen, zuletzt klanglos verstummend. Komponierte
Stille, wie später bei John Cage. Rattle hält den Moment fest als gefrorene
Zeit, bis er die Stille aufhebt und sich die Spannung im Schlussapplaus
löst, wie auch, nach anfänglichem Zögern, in Standing Ovations für den ab
jetzt „Conductor Emeritus“ des LSO.
31 Aug 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Maxi Broecking
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