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# taz.de -- Politische Gefangene über ihre Haft: „Nicaragua braucht eine Dem…
> Dora María Téllez war mal sandinistische Guerillakämpferin, später
> Ministerin und saß unter Daniel Ortegas Regime bis Februar in
> Isolationshaft. Ein Gespräch.
Bild: Dora María Téllez wird im August 2022 zum Gericht in der nicaraguanisch…
taz: 605 Tage waren Sie in Dunkelhaft allein in einer Zelle. Wie überlebt
man das, ohne verrückt zu werden?
Dora María Téllez: Das ist gar nicht leicht. Man muss einen
Überlebensmechanismus entwickeln. Eine Zeit lang bin ich um 4.00 Uhr
aufgestanden und habe eine Stunde Gymnastik gemacht. Dann bin ich eine
Stunde im Kreis gegangen und habe auf das Frühstück gewartet. Dann bin ich
wieder eine Stunde gegangen und habe bis zum Mittagessen Gymnastik gemacht.
Der Nachmittag war immer lang und schwierig. Da lässt man sich Ereignisse
und Szenen aus der Vergangenheit durch den Kopf gehen: das Verhältnis zu
den Eltern und Geschwistern. Manchmal habe ich an bestimmte Bücher gedacht
oder mir Gedichte in Erinnerung gerufen. Das hilft, das Gehirn zu
trainieren. Einige Mitgefangene haben versucht zu schlafen. Ich kann am
Nachmittag aber nicht schlafen. Um 5.00 Uhr bin ich dann aufgestanden und
habe mit dem Bewegungsprogramm begonnen. In der Dunkelheit habe ich mir
dabei das Knie und die Füße verletzt. Ich hatte ja keine Schuhe, nur
Flipflops.
Sie wurden zu acht Jahren verurteilt. Wie geht man damit um?
Das sind Grenzerfahrungen, es bedeutet eine ständige Unsicherheit. Ich
fühlte mich tot. Vor allem die ersten drei Monate, bevor wir erstmals
Familienbesuch empfangen und einen Anwalt sehen durften, das war wie in
einer Gruft. Es ist eine Art der Nichtexistenz, was man empfindet. Wir
durften ja weder lesen noch schreiben, mit niemandem reden, keine
Mitgefangenen sehen, keinen Sport betreiben, absolut nichts. Das Einzige,
was wir machen konnten, war essen, schlafen, die Notdurft verrichten und
und ein wenig bewegen.
Wie wichtig ist es, das Gefühl für die Zeit nicht zu verlieren?
Sehr wichtig. Aber es ist fast unvermeidlich, dass das passiert. Du zählst
die Tage, aber es kommt vor, dass dir ein Tag im Monat mal fehlt. Ich habe
mir immer vorgesagt: Heute ist Montag, der 23. Januar. Aber ich wusste
nicht, wie spät es war. Man orientiert sich an den Mahlzeiten. Diejenigen,
die ihre Zellen näher am Innenhof hatten, sahen ein bisschen Tageslicht.
Bei mir war es Tag und Nacht dunkel. Die Tage zogen sich endlos hin. Und
die Wärter mussten vor Dienstantritt Uhr und Telefon ablegen, damit wir
nichts sehen konnten. Wir wussten nur ungefähr, wie lange die Schichten
dauerten und dass der Dienst um 8 Uhr begann.
Vor über 40 Jahren beim Training für die Guerilla gab es Hinweise darüber,
wie man die Haft am besten überstehen könnte?
Das nicht, wir wurden jedoch auf die Verhöre vorbereitet. Das war nützlich.
Die ersten Monate wurden wir ja dreimal täglich zum Verhör aus der Zelle
geholt: am Morgen, am Nachmittag und um Mitternacht. Da wollten sie
Auskunft über bestimmte Personen, die Kirche, unsere Partei, NGOs, die
Medien, einzelne Journalisten, die Frauenbewegung, die Bauernbewegung und
andere. Mich haben sie absurde Dinge gefragt: wie viel ein Medium mir für
ein Interview gezahlt habe, wie ich es geschafft habe, von bestimmten
Medien interviewt zu werden, oder wie viele Seminare zur Ausbildung von
Führungskräften ich gegeben habe. Sie waren überzeugt, dass aus diesen
Kursen die Jugendlichen hervorgegangen sind, [1][die den zivilen Aufstand
2018] angeführt haben. Diese politische Polizei hat eine total repressive
Mentalität und will die Kontrolle über alles haben. Von 17 verschiedenen
Personen bin ich verhört worden.
Und immer ging es um den angeblichen Putschversuch vom April 2018?
Immer. Alle hatten sich das Narrativ vom nicaraguanischen Präsidenten
Daniel Ortega zu eigen gemacht, dass die USA damals einen Putsch inszeniert
hätten – die USA in Zusammenarbeit mit der Kirche und unserer Partei MRS,
die jetzt Unamos heißt.
Ortega verweist gerne darauf, dass er auch sieben Jahre im Gefängnis war.
Sind die Haftbedingungen damals unter dem Diktator Anastasio Somoza
vergleichbar mit den heutigen?
Ortega war nie in Isolationshaft. Wir hatten keines der Rechte, die die
politischen Gefangenen damals genossen. Sie durften jede Woche mit der
Familie telefonieren, Nachrichten im Fernsehen schauen, lesen, kochen, sich
in der Cafeteria treffen. Ich durfte nur gerade zwei Minuten vor
Prozessbeginn mit meiner Anwältin reden. Und die Prozesse waren absolut
abartig: Den Anwälten wurden keinerlei Beweise vorgelegt. In sämtlichen
Fällen hat die Polizei die „Beweise“ frei erfunden. Einem Freund aus La Paz
Centro hat man einen Facebook-Account eingerichtet, um dort verfängliche
Posts zu platzieren. Der Mann ist 78 Jahre alt und wusste nicht einmal, was
Facebook ist. Man hat sich also nicht einmal bemüht, die Formen zu wahren.
In Ihrem Fall, welche Beweise hat man da vorgelegt?
Das war sehr unterhaltsam. Die „Beweise“ waren drei Tweets, eigentlich
Re-Tweets, also Posts, die ich kommentarlos weitergeleitet habe. Das eine
bezog sich auf den Senat in Washington, der damals erwog, Nicaragua aus dem
Freihandelsabkommen auszuschließen – es war in der Zeit der „nicht
sauberen“ [2][Wahlen im November 2021]. In den anderen ging es um ähnliche
Dinge. Das hat gereicht, um mir vorzuwerfen, US-Sanktionen gegen Nicaragua
gefordert zu haben. Ich habe gesagt, dass ich Sanktionen gegen Ortega und
seine Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo befürworten würde. Beide
haben die nicaraguanischen Staatsinstitutionen korrumpiert und sollten
dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Prozesse waren wie ein
politisches Erschießungskommando.
[3][Nach Ihrer Freilassung und der der über 200 politischen Gefangenen im
vergangenen Februar] haben Sie gesagt, das sei ein Eingeständnis der
Niederlage Ortegas, weil keiner der Inhaftierten eingeknickt sei. Was
wollten Sie damit sagen?
Bei den Verhören wurden wir immer wieder gefragt, ob wir nicht nachgedacht
und unsere Meinung über die Regierung und die Regierungspartei geändert
hätten. Ich habe ihnen gesagt, ihr könnt mich hier 15 oder 20 Jahre
einsperren und ich werde immer noch der Meinung sein, dass Nicaragua eine
Demokratie braucht. Mir wurde sogar ein Posten im Staatsapparat angeboten.
Wie haben sich die Wärter verhalten?
Sehr professionell, manche richtiggehend freundlich. Die Menschen, die uns
das Essen brachten, die waren ganz anders als die Polizisten, die uns
verhörten und die strikt auf der Linie von Ortega und Murillo gedroht oder
geschmeichelt haben.
Wie geht es Ihnen gesundheitlich?
Bei der Ankunft in Washington (USA) gab es einen kurzen Gesundheits-Check:
Sie maßen uns den Puls und die Blutzuckerwerte. Einige Kollegen sind darauf
gleich ins Krankenhaus gekommen. Durch den langen Entzug des Tageslichts
habe ich Augenprobleme, und das Lesen fällt mir schwerer. Dann komme ich
oft aus dem Gleichgewicht. Ich stoße manchmal gegen eine Wand oder ein
Möbelstück. Manchmal muss ich mich festhalten. Zum Glück schlafe ich gut,
aber am Nachmittag bin ich meist müde.
Wie sieht die Zukunft aus?
Das US State Department hat uns humanitären Aufenthalt für zwei Jahre
zuerkannt. Dann können wir Asyl beantragen. Eine Arbeitsgenehmigung sollen
wir wohl auch bekommen. Ich bin gerade dabei, die Unterlage einzureichen.
Mit 67 Jahren sind Sie ja im Pensionsalter. Aus Nicaragua werden Sie jedoch
keine Rente kommen. Wie werden Sie wirtschaftlich überleben?
Nicaragua hat mir die Pension gestrichen, als ich festgenommen wurde. Das
trifft auf uns alle zu, die wir in die Verbannung geschickt wurden. Unsere
Personaldaten wurden aus den Archiven der Standesämter gelöscht, als hätten
wir nie gelebt.
Sie haben ja zuletzt von Studien und Recherchen gelebt.
Immer weniger, denn ich stand ja schon auf einer schwarzen Liste von
Personen, die man meiden sollte. Das erfuhr ich, als ich bei keiner
Ausschreibung mehr zum Zug kam. Internationale Organisationen und NGOs
haben mir dann den Grund genannt. Ich höre mich jetzt um, ob es bei
irgendeiner Universität Möglichkeiten gibt. Davon hängt auch ab, ob ich in
den USA bleibe oder nicht. Momentan ist alles sehr unsicher.
Und wie sieht Ihre politische Zukunft aus?
Ich strebe keine politische Position mehr an, aber ich wünsche mir sehr,
dass das Land auf den demokratischen Pfad zurückkehrt. Ich bin ganz
zufrieden mit meinem Dasein als Rentnerin. Besser gesagt: Ich war
zufrieden.
Die Opposition in Nicaragua kann man heute mehrheitlich im Mitte-rechts-
bis Rechts-Lager verorten. Welche Chancen hat die demokratische Linke?
So würde ich das nicht sehen. Unter den politischen Gefangenen waren solche
und solche. Ich sehe in der Zukunft eher eine pluralistische
Repräsentation. Wenn es uns gelingt, diese breite Allianz zusammenzuhalten,
können wir es mit der Diktatur aufnehmen. Das ist derzeit unser Dilemma. In
einer demokratischen Übergangsphase wird die demokratische Linke eine
wichtige Rolle spielen. Deswegen werden die Mitglieder der Partei Unamos
überall im Land so verfolgt. Festnahmewellen gab es 2021 und neuerlich im
vergangenen November.
Unamos oder die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS), wie die Partei
früher hieß, hat auf nationaler Ebene nie mehr als 7 Prozent geholt. Warum
fürchtet das Regime euch so sehr?
Es wurden uns immer Stimmen geraubt. Zweimal wurde das MRS verboten, weil
da Wachstumspotenzial steckt. In den Verhören haben sie uns immer
vorgeworfen, den zivilen Aufstand von 2018 orchestriert zu haben. Und was
die Stärke betrifft, so waren wir in Managua und anderen Städten
mehrheitsfähig. [4][In Nicaragua hat es ja seit 2006 keine freien Wahlen
mehr gegeben.] Und auch jene Wahlen, die Ortega damals an die Macht
zurückgebracht haben, waren nicht transparent. 8 Prozent der Stimmen wurden
nie ausgezählt.
2 Mar 2023
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## AUTOREN
Ralf Leonhard
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Nicaragua
Daniel Ortega
politische Gefangene
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Schwerpunkt Pressefreiheit
Nicaragua
Kolumne Latin Affairs
Nicaragua
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