# taz.de -- Nicaragua schiebt politische Gefangene ab: Überraschende Massenfre… | |
> Die autoritäre Regierung Nicaraguas hat 222 Oppositionelle in ein | |
> Flugzeug Richtung USA setzen lassen. Es handelt sich um inhaftierte | |
> Menschenrechtler. | |
Bild: Unterstützer empfangen nicaraguanische politische Gefangene bei ihrer An… | |
WIEN taz | Es war eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Donnerstag 5 Uhr Früh wurden | |
über 220 politische Gefangene aus ihren Zellen in Nicaraguas Hauptstadt | |
Managua und anderen Gefängnissen geholt. Mit Polizeikonvoi transportierte | |
man sie zum Flughafen Augusto C. Sandino und verfrachtete sie in eine | |
Chartermaschine, die wenige Stunden später in Washington landete. | |
Noch bevor die Oppositionellen in den USA eintrafen, trat [1][die von | |
Machthaber Daniel Ortega] gegängelte Nationalversammlung zusammen, entzog | |
mit 89 von 91 Stimmen den Freigelassenen auf Lebenszeit die politischen | |
Rechte und sprach ihnen die Staatsangehörigkeit ab. Die gesetzliche | |
Grundlage in Gestalt einer Verfassungsänderung, die es erlaubt | |
„Vaterlandsverrätern“ die Staatsbürgerschaft zu entziehen, wurde | |
nachgereicht. [2][„Parlament deportiert 222 Vaterlandsverräter“ titelte die | |
Online-Nachrichtenwebsite des Regimes El 19 digital]. | |
Unter den Befreiten finden sich ehemalige Weggefährten Daniel Ortegas aus | |
dem Guerillakampf der 1970er Jahre und der Revolutionsdekade wie [3][Dora | |
María Téllez und Víctor Hugo Tinoco, Oppositionelle wie Suyén Barahona und | |
Támara Dávila] von der linksliberalen Partei Unamos, Unternehmer, | |
Geistliche, Universitätsprofessoren, Presseleute und Vertreter des eher | |
rechten politischen Spektrums. Auch die aussichtsreichste | |
Präsidentschaftskandidatin Cristiana Chamorro wurde aus dem Hausarrest | |
entlassen. [4][Bischof Rolando Álvarez], der seit August im Hausarrest | |
interniert war und nächste Woche wegen „Verschwörung und Verbreitung von | |
falschen Nachrichten“ abgeurteilt werden soll, lehnte den Deal Freiheit | |
gegen Exil ab und weigerte sich, das Flugzeug zu besteigen. Statt im | |
Hausarrest sitzt er jetzt im Gefängnis. Zwei weitere Geistliche sollen die | |
Ausreise verweigert haben. | |
## Wegen eines kritischen Tweets mehr als zehn Jahre Haft | |
Die meisten Gewissensgefangenen wurden vor mehr als anderthalb Jahren, | |
wenige Monate vor den [5][Wahlen vom November 2021], festgenommen. | |
Verurteilt wurden sie nach eigens geschaffenen Gesetzen voller | |
Gummiparagraphen, nach denen man für die Teilnahme an einer Demonstration | |
oder einen kritischen Tweet [6][wegen Vaterlandsverrats oder „Schädigung | |
der staatlichen Souveränität“ zu mehr als zehnjährigen Haftstrafen] | |
verurteilt werden kann. | |
Viele von ihnen waren während der Haft permanenter Folter ausgesetzt: durch | |
Einzelhaft in finsteren oder grell erleuchteten Zellen, willkürliche | |
Verhöre mitten in der Nacht, schlechte Ernährung und Verweigerung | |
medizinischer Behandlung. General Hugo Torres, der einst Daniel Ortega aus | |
dem Gefängnis befreit hatte, starb vor einem Jahr an den Folgen der | |
Misshandlungen. Fast alle waren blass und wirkten stark abgemagert. | |
Weder die Appelle von [7][Amnesty International] oder der Vereinigung von | |
Angehörigen der politischen Gefangenen noch Vermittlungsversuche | |
lateinamerikanischer Präsidenten hatten Ortega und seine zwielichtige | |
Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo zum Erfüllen der minimalen | |
humanitären Bedingungen bewegen können. Letzten Endes dürfte es ein Deal | |
mit den USA gewesen sein, der die Befreiung erwirkte, obwohl die Regierung | |
Joe Bidens laut [8][New York Times] dem Kongress gegenüber von einer | |
„einseitigen Entscheidung“ Managuas gesprochen hat. | |
## Medizinische und psychologische Hilfe in den USA | |
Die USA haben mehr als 40 hochrangige Funktionäre und Mitglieder der | |
nicaraguanischen Präsidentenfamilie mit Sanktionen belegt. Deren Aufhebung, | |
so gab man Ortega zu verstehen, hänge vom Verhalten seiner Regierung ab. | |
Die bisher größte Gefangenenbefreiung, die die USA bisher erwirkt haben, | |
könnte als erster Schritt zur Normalisierung der Beziehungen verstanden | |
werden. | |
Laut New York Times schickte Washington das Flugzeug und stellte 224 Visa | |
aus. Die USA offerieren auch medizinische und psychologische Betreuung | |
sowie die Übernahme der Lebenshaltungskosten für die Opfer des Regimes, die | |
zunächst in einem Hotel in Washington untergebracht wurden. Die | |
Abgeschobenen wollen ihre Ausbürgerung juristisch bekämpfen. Und [9][die | |
NGO Urnas Abiertas] wies darauf hin, dass die Verbannung zu den | |
international definierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählt. | |
Kuriosität am Rande: Vor 18 Jahren hatten die USA Dora María Téllez, die | |
für eine einsemestrige Vorlesung über Religion und Gesellschaft nach | |
Harvard geladen war, wegen „terroristischer Aktivitäten“ – nämlich ihrer | |
Teilnahme am Befreiungskampf – das Visum verweigert. | |
10 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Menschenrechte-in-Nicaragua/!5893941 | |
[2] https://www.el19digital.com/articulos/ver/titulo:136779-nicaragua-ordena-la… | |
[3] /Politische-Gefangene-in-Nicaragua/!5893142 | |
[4] /Bedrohte-Religionsfreiheit-in-Nicaragua/!5875565 | |
[5] /Wahlen-in-Nicaragua/!5810607 | |
[6] /Gesetz-gegen-Opposition-in-Nicaragua/!5740185 | |
[7] https://www.amnesty.de/informieren/laender/nicaragua | |
[8] https://www.nytimes.com/2023/02/09/world/americas/nicaragua-prisoner-releas… | |
[9] https://urnasabiertas.com/ | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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