# taz.de -- Journalistin zu Repression in Nicaragua: „Physische und psychisch… | |
> Seit Juni 2021 ist Félix Maradiaga in Nicaragua in Haft – als politischer | |
> Gefangener. Journalistin Berta Valle Otero über ihren Mann und das | |
> Ortega-Regime. | |
Bild: Managua im August 2022: Ein Foto der Behörden zeigt Félix Maradiaga auf… | |
taz: Frau Valle Otero, Ihr Mann Félix Maradiaga ist Professor für | |
Politologie und wollte für die Präsidentschaftswahlen im vergangenen | |
November kandidieren. Warum sitzt er im Gefängnis? | |
Berta Valle Otero: Er gehörte immer schon zu den Akademikern, die | |
international darauf aufmerksam machten, was in Nicaragua passierte. Er | |
warb schon 2016 um internationale Solidarität, [1][als das Regime von | |
Daniel Ortega] in eine Diktatur abzugleiten drohte. Dann kam das Jahr 2018 | |
und das, was wir „zivile Revolution“ nennen. Sie wurde ausgelöst durch eine | |
Reform des Sozialversicherungswesens, die die Pensionen kürzte. Da gingen | |
Junge und Familien auf die Straße. Wir betrachten den 18. April 2018 als | |
Wendepunkt in unserer Geschichte, an dem erstmals ein gewaltfreier massiver | |
Kampf um demokratische Veränderungen auftrat. | |
Da wurde viel Blut vergossen. | |
Leider reagierte das Regime mit großer Gewalt. Zuerst mit Schlägertrupps, | |
die Demonstranten auseinandertreiben wollten. Das führte zur Ausweitung der | |
Proteste: Universitäten und Straßenkreuzungen wurden besetzt und nach | |
wenigen Wochen zählten wir 355 Tote – ermordet durch den Staat. Mehr als | |
1.500 Personen wurden verletzt. In diesem Jahr sind bereits mehr als 1.700 | |
Nichtregierungsorganisationen, die sich nach einem neuen Gesetz als | |
„ausländische Agenten“ deklarieren mussten, aufgelöst worden. | |
Ihr Mann wollte im November 2021 für die konservative Nationale Blau-Weiße | |
Einheit, eine Oppositionsallianz, antreten. In einer Vorwahl sollte ein | |
gemeinsamer Kandidat der Opposition ermittelt werden. Dazu ist es aber nie | |
gekommen. | |
Félix wurde am 8. Juni 2021 festgenommen. Zuerst lud ihn die | |
Staatsanwaltschaft zu einer Befragung vor. Die hat rund vier Stunden | |
gedauert. Danach stieg er in sein Auto und wollte nach Hause fahren. Die | |
Medien haben das live übertragen. Ich war mit unserer Tochter Alexandra | |
bereits in den USA und wir konnten vom Exil aus zusehen, wie sein Auto nach | |
wenigen Metern von der Polizei gestoppt wurde. Sie haben ihn mit Gewalt | |
herausgeholt, geschlagen und an einen unbekannten Ort verschleppt. 84 Tage | |
blieb er verschwunden. So lange wussten wir absolut nichts über seinen | |
Aufenthaltsort. Gemeinsam mit anderen Angehörigen, die in der gleichen | |
Situation waren, haben wir ein Lebenszeichen gefordert. Erst als sich | |
Amnesty International einschaltete und eine Kampagne gegen gewaltsames | |
Verschwindenlassen durchführte, reagierte das Regime. Eine Schwester durfte | |
ihn schließlich besuchen. Über sie wissen wir, dass Félix in Einzelhaft | |
sitzt und in den 84 Tagen ohne jeden Kontakt zur Außenwelt zwölf Kilo | |
abgenommen hat. | |
Soviel man weiß, befindet er sich im Chipote, dem berüchtigten | |
Polizeigefängnis, das man aus der Zeit der Somoza-Diktatur kennt. | |
Ja, wir haben uns daran gewöhnt, dass die Gefangenen dort hingebracht | |
werden. In den 465 Tagen seiner Gefangenschaft hat Félix nicht einen Anruf | |
von uns aus dem Exil entgegennehmen dürfen, er bekommt keine Briefe | |
zugestellt, nicht einmal eine Zeichnung unserer Tochter. Das steht im | |
Widerspruch zum nicaraguanischen Strafvollzugsgesetz. | |
Hat Félix Maradiaga schon seinen Prozess gehabt? | |
Ja, einen von völliger Willkür geprägten Prozess im März. Vom Gesetz her | |
sollte der öffentlich sein, wurde aber geheim geführt. Ein einziger | |
Familienangehöriger durfte dabei sein. Die Verteidiger hatten keinen Zugang | |
zu den Akten. Félix hatte vier Anwälte. Der erste musste ins Exil flüchten, | |
der zweite sitzt selbst im Chipote als Gefangener. Der dritte floh auch ins | |
Exil und der vierte wagt es nicht, vor Gericht aufzutreten, weil er auch | |
seine Festnahme befürchten muss. Es gibt also keinen Zugang zur | |
Verteidigung. Es gibt keinen Rechtsstaat, weil die Justiz völlig von der | |
Exekutive kontrolliert wird. | |
Was genau wirft man ihm denn vor? | |
Schädigung der nationalen Integrität. Er wurde zu 13 Jahren Gefängnis | |
verurteilt. | |
Also nach dem berühmten Gesetz 1055, das aus einem einzigen Paragrafen | |
besteht? | |
Richtig. Dieses und einige andere Gesetze, die eigens zur Verfolgung der | |
Opposition geschaffen wurden, sind illegal, weil sie von der | |
Nationalversammlung auf Zuruf des Präsidentenpaares abgesegnet wurden. Wir | |
haben alle Rechtsmittel ergriffen. Kürzlich wurden einige Gefangene dem | |
Richter vorgeführt. Im Rahmen einer „informativen Anhörung“, für die es | |
keine gesetzliche Grundlage gibt. Da wurde ihnen mitgeteilt, dass ein | |
Kassationsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof läuft. Wir hoffen | |
natürlich, dass da die Unschuld unserer Angehörigen festgestellt wird. Aber | |
so wie das Regime bisher agiert hat, ist die Unschuldsvermutung außer Kraft | |
gesetzt. | |
Die Zeugen, die vor Gericht auftraten, sind allesamt Polizisten, etwa 24 an | |
der Zahl. Die Verteidigung durfte keine eigenen Zeugen berufen. Alle | |
Gewissensgefangenen haben nichts anderes verbrochen, als von ihren | |
verfassungsmäßigen Rechten Gebrauch zu machen. Wir haben das Recht, uns zu | |
versammeln und unsere Meinung auszudrücken. Bei den Demonstrationen wurden | |
öffentliche Räume besetzt, was völlig legal ist. | |
Welche Beweise wurden da aufgeführt? | |
Im Fall von Juan Sebastián Chamorro behaupteten sie, sie hätten | |
Kriegswaffen gefunden. In Wahrheit hat er zu Hause ein zerschnittenes | |
Sturmgewehr, das an die Demobilisierung am Ende des bewaffneten Konflikts | |
erinnern soll. Bei Félix haben sie sich auf Postings auf Facebook berufen, | |
in denen er zur Teilnahme an einer friedlichen Demonstration aufgerufen | |
hat. | |
Was weiß man über die Haftbedingungen? | |
Unter den über 200 politischen Gefangenen gibt es drei Gruppen. Die erste | |
ist schon vor 2018 eingesperrt worden, die zweite im Zuge der Proteste | |
gegen die Regierung im Jahr 2018 und die dritte im Vorfeld der | |
Präsidentschaftswahlen vom November 2021. Letztere befinden sich nicht in | |
ordentlichen Justizvollzugsanstalten, sondern im Polizeigefängnis El | |
Chipote. Wie es Félix geht, wissen wir nicht mit Sicherheit. Er sitzt in | |
seiner Zelle in völliger Dunkelheit. Alle zehn Tage dürfen die Häftlinge | |
eine Viertelstunde ans Sonnenlicht. Sie schlafen auf einer dünnen Matratze | |
auf dem Betonboden. Diejenigen, die ihre Zelle mit einem anderen teilen, | |
dürfen nicht miteinander reden. Die Nahrung ist extrem spartanisch. Wir | |
sprechen von physischer Folter. Félix hat inzwischen 30 Kilo verloren, | |
andere Gefangene bis zu 35 Kilo. Sie haben keinen Zugang zu Lektüre, nicht | |
einmal die Bibel wird ihnen erlaubt. Sie bekommen keine Post, keine Anrufe, | |
sie dürfen ihre Kinder nicht sehen, auch die nicht, die noch im Lande sind. | |
Das ist psychische Folter. Die Gefangenen tragen bleibende Schäden davon. | |
Felix sagt: „Ich fühle, wie sie uns langsam auslöschen.“ Er hat | |
angekündigt, in Hungerstreik zu treten. Als er erstmals nach mehr als einem | |
Jahr der Presse vorgeführt wurde, hat ihn ein Regierungsjournalist | |
beschimpft: „Was jammerst du uns etwas vor? Du bist ja bei bester | |
Gesundheit und kannst noch auf eigenen Beinen gehen.“ | |
Was unternehmen die Angehörigen der politischen Gefangenen? | |
Wir setzen unsere Kampagne fort und informieren die internationale | |
Öffentlichkeit. Wir wollen verhindern, dass sich der Fall von Hugo Torres | |
wiederholt, der im Februar nach acht Monaten an den verheerenden | |
Haftbedingungen gestorben ist. Die Ärzte sagen uns, wenn die | |
Haftbedingungen nicht verbessert werden, tragen die Gefangenen bleibende | |
Schäden davon. Die fähigsten Leute unserer Gesellschaft sitzen ein: | |
Präsidentschaftskandidaten, die Spitze der feministischen Bewegung, | |
Bauernführer, Studentenführer, Journalisten. | |
Es gibt Berichte über Fälle von Sippenhaft. | |
Da gibt es zum Beispiel den Fall von Javier Álvarez, der im Vorstand der | |
Partei Unamos war. Er konnte ins Ausland flüchten. Deswegen haben sie seine | |
Frau und seine Tochter festgenommen. Sie ließen ihm ausrichten, wenn er | |
sich nicht stellt, würden seine Angehörigen im Chipote bleiben. Das ist | |
Terrorismus. | |
Es gibt eine internationale Kampagne zur Freilassung der politischen | |
Gefangenen, allen voran von Dora María Téllez, die im Ausland wohl die | |
bekannteste ist. Sie war führend am Kommando beteiligt, das im August 1978 | |
den Nationalpalast einnahm. Die erfolgreiche Geiselnahme im Parlament der | |
Diktatur wird ja als Anfang vom Ende des Somoza-Regimes betrachtet. | |
Dora María Téllez ist besonders wichtig, weil man meinen sollte, ihr | |
Schicksal läge [2][auch Daniel Ortega] und seiner Frau Rosario Murillo am | |
Herzen. Aber ihr Name wurde aus der Geschichte getilgt, als hätte es sie | |
nie gegeben. | |
Félix Maradiaga wird ja vorgeworfen, er hätte Geld von reaktionären | |
republikanischen Stiftungen in den USA genommen. | |
Alle Nichtregierungsorganisationen waren auf internationale Kooperation | |
angewiesen. Vor zehn Jahren hat das niemanden aufgeregt. Jetzt erhebt das | |
Innenministerium plötzlich den Vorwurf der Geldwäsche. Das ist so [3][im | |
Fall von Cristiana Chamorro] und der Stiftung Violeta Barrios de Chamorro, | |
die sie lange geleitet hat, und das war auch bei Félix so. Jetzt wurden | |
diese Gesetze geschaffen, die alle, die Geld aus dem Ausland nehmen, zu | |
ausländischen Agenten erklären. | |
Apropos ausländische Agenten. Wie macht sich der zunehmende russische | |
Einfluss in Nicaragua bemerkbar? | |
Ich bin seit vier Jahren nicht mehr im Land, kann also nicht aus eigener | |
Anschauung berichten. Aber vor Kurzem wurde mit Pauken und Trompeten ein | |
Kontingent russischer Soldaten begrüßt, das angeblich an Militärmanövern | |
teilnehmen soll. Letztes Jahr wurde eine Studie veröffentlicht, wonach | |
Nicaragua in der Region das Land ist, das im Verhältnis am meisten in | |
Rüstung investiert hat, mehr als alle anderen in Zentralamerika zusammen. | |
Wo werden diese Waffen und Panzer gekauft? In Russland und Iran. Nicaragua | |
hat als eines der wenigen Länder Russlands Invasion in der Ukraine begrüßt. | |
In Nicaragua wollen wir keinen neuen Krieg. | |
8 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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