| # taz.de -- Nach den Wahlen in Berlin: Schwarzer Rand um die Stadt | |
| > Innen Grün, außen Schwarz und Rot verschwindet fast ganz – so sieht | |
| > Berlins politische Landkarte nach der Wahl aus. Ist die Stadt wirklich | |
| > gespalten? | |
| Bild: Politik für Geflüchtete: in Pankow nicht erwünscht. Elke Breitenbach (… | |
| Im Wahlkreis Neukölln 3 zeigt sich viel von dem, was die Berlinwahl geprägt | |
| hat. Auf der Sonnenallee, jenseits des S-Bahn-Rings, wo die Außenbezirke | |
| beginnen, gräbt sich die Baustelle der asphaltschwarzen A100 durch | |
| Neukölln. Weiter, Richtung stadtauswärts, tauchen graue Häuser auf, bunt | |
| mit Grafftit besprüht – „unser Zuhause“ steht da in grellem Pink. | |
| Und fast am Ende der Straße liegt die High-Deck-Siedlung. Ein Komplex aus | |
| Wohnhäusern, Rampen und hochgelagerten Pflasterwegen. Hier hat [1][an | |
| Silvester] ein Reisebus in einer Unterführung gebrannt, die Fassade der | |
| Häuser darüber ist noch immer geschwärzt vom Rauch. Verkehr, Wohnen, | |
| Sicherheit – Themen, die die Berliner*innen im Wahlkampf bewegt haben. | |
| Die Wahl selbst fiel dann [2][recht deutlich] aus. Die Oppositionspartei | |
| CDU erreichte mit 28,2 Prozent gut 10 mehr als bei der Wahl 2021. Die | |
| regierende SPD wiederum gab mit 18,4 Prozent ganze 3 Prozent ab. Die Grünen | |
| verloren hingegen nur ein halbes Prozent und kamen gleichauf mit der | |
| Koalitionspartnerin SPD. Und die Dritte im Bündnis, die Linke, verlor knapp | |
| 2 Prozent und kam auf 12,2 Prozent. | |
| Noch deutlicher wird das Ergebnis, wenn man die geografische Verteilung der | |
| Zweitstimmen auf einer Karte von Berlin betrachtet: Innerhalb des | |
| S-Bahn-Rings sind die Grünen stärkste Kraft, außerhalb des S-Bahn-Rings die | |
| CDU. Bei der vergangenen Wahl sah man dort noch einen schwarz-roten | |
| Flickenteppich, besonders verloren hat hier also die SPD. Der | |
| Spitzenkandidat der CDU, Kai Wegner, sagte dem Tagesspiegel, Berlin sei | |
| gespalten. | |
| ## Wahlkampf kommt von Kampf | |
| Der Wahlkreis Neukölln 3 liegt am S-Bahn-Ring – ein Zipfel des Wahlkreises | |
| liegt innen, ein Großteil außen. Zwischen der A100 und der | |
| High-Deck-Siedlung befindet sich ein Café. Dort gibt es Börek und belegte | |
| Brötchen, türkischen Tee und Kaffee. In der Ecke steht ein Tischchen auf | |
| einem roten gemusterten Teppich. | |
| Für Derya Çağlar von der SPD war das Café ein Rückzugsort im Wahlkampf. | |
| „Wahlkampf heißt ja nicht umsonst Kampf“, sagt sie heute, knapp eineinhalb | |
| Wochen nach der Wahl. Und dieses Mal sei der besonders anstrengend gewesen. | |
| Die zweite Wahl innerhalb kürzester Zeit, noch dazu im Winter. Sie sei eine | |
| „Frostbeule“. Ihr roter Wintermantel, ihr „Markenzeichen“ im Wahlkampf, | |
| liegt neben ihr. Çağlar wusste, „dass es nicht so wird wie 2021“. An den | |
| Wahlkampfständen habe sie das gespürt. | |
| Für sie hat es knapp gereicht, sie holte das Direktmandat im Wahlkreis. Mit | |
| 2,5 Prozent Vorsprung auf ihren Konkurrenten von der CDU. Viele | |
| SPD-Kandidat:innen schafften es nicht bei dieser Wahl. „Eine Zitterpartie“, | |
| sagt Çağlar. | |
| [3][Warum wählen Menschen die CDU?] „Das weiß ich doch auch nicht“, sagt | |
| Çağlar lachend. Sie verweist auf die Erfolge der Regierung, auf die Krisen, | |
| unter denen sie arbeiten musste, aber auch auf die Probleme, die sie nicht | |
| lösen konnten. Vor allem die Themen Wohnen und Verwaltung hätten die | |
| Menschen beschäftigt. „Wir haben es in diesem einen Jahr – und auch in den | |
| Jahren zuvor – scheinbar nicht geschafft, den Ansprüchen der Menschen | |
| gerecht zu werden“, sagt sie. Sie glaubt aber auch: „Dem aktuellen Senat | |
| hat die Zeit gefehlt.“ | |
| ## Geschlossen in der Unzufriedenheit | |
| Julia Reuschenbach ist Politikwissenschaftlerin an der FU Berlin. Auch sie | |
| bescheinigt dem Senat in einigen Punkten gute Arbeit: die Unterbringung der | |
| ukrainischen Geflüchteten, das Wärmenetzwerk, also Anlaufstellen für | |
| einsame und frierende Berliner*innen, und Hilfspakte, wie Zuschüsse zu | |
| Heizungskosten. „Da ist vieles gut und zügig auf den Weg gebracht worden“, | |
| sagt sie. | |
| Aber in Krisenzeiten gehen andere Themen unter. Die Wähler*innen seien | |
| sich relativ einig, sagt Reuschenbach, und zwar darin, dass es eine große | |
| Unzufriedenheit mit dem Senat gebe. „In diesem Punkt ist Berlin recht | |
| geschlossen.“ | |
| Das haben auch Çağlars Genoss*innen in Neukölln zu spüren bekommen. Bis | |
| auf Çağlar hat die SPD hier all ihre Direktmandate verloren, auch im | |
| Wahlkreis Neukölln 6. Hier trat Franziska Giffey selbst an, letztes Jahr | |
| holte sie noch über 40 Prozent, diesmal reichte es nicht einmal für 30. Und | |
| auch bei den Zweitstimmen liegt die SPD in allen Neuköllner Wahlkreisen | |
| entweder hinter den Grünen oder der CDU. Vergangenes Jahr holte man in den | |
| drei äußeren Wahlkreisen noch die meisten Zweitstimmen. | |
| In ganz Berlin verlor die SPD rund 60.000 Wähler*innen an die CDU, | |
| 78.000 gingen gar nicht wieder zur Wahl. Çağlar glaubt, dass nicht nur der | |
| Frust über und der Protest gegen den aktuellen Senat eine Rolle gespielt | |
| hat, sondern auch, dass viele Wähler*innen das letzte Mal auf eine | |
| Koalition von SPD und CDU gehofft hatten. „Die waren dann enttäuscht.“ | |
| ## Regieren – notfalls mit der CDU | |
| Vielleicht gibt es so eine Koalition ja im zweiten Anlauf. Die SPD sondiert | |
| zwar mit den Grünen und der Linken – denn Rot-Grün-Rot hat noch immer eine | |
| Mehrheit –, aber auch mit der CDU. Wer gestalten will, muss auch regieren, | |
| sagt Çağlar – aber „nicht um jeden Preis“. Auch mit der CDU. | |
| Und das, obwohl sie [4][die Vornamenabfrage], mit der die Partei nach den | |
| Ausschreitungen in der Silvesternacht herausfinden wollte, ob die | |
| Tatverdächtigen eine Migrationsgeschichte haben, „rassistisch“ und den | |
| Wahlkampf der CDU „populistisch“ nennt. „Egal was passiert, es wird vielen | |
| nicht gefallen. Ob Rot-Grün-Rot, Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün, es wird | |
| nicht jeden Wählerwillen widerspiegeln.“ | |
| „Wenn das jetzige Bündnis weitermacht, dann muss es liefern“, sagt | |
| Reuschenbach. Corona, Krieg, Energie – auch im Dauerkrisenmodus müssten | |
| Themen wie Wohnen und Verkehr nachhaltig bearbeitet werden, sonst werde der | |
| Unmut bei der nächsten Wahl noch mal größer und „vielleicht nicht mehr | |
| 'nur’ bei der CDU landen“, sagt sie in Anspielung auf die AfD, die ihr | |
| Wahlergebnis gegenüber 2021 nur leicht von 8 auf 9,1 Prozent steigern | |
| konnte. Diesmal. | |
| Laut Umfragen von Infratest dimap waren für die Wähler*innen Sicherheit | |
| und Ordnung die wichtigsten Themen bei der Entscheidung. 23 Prozent gaben | |
| das an. Gleichzeitig glauben 87 Prozent der CDU-Wähler*innen, dass ihre | |
| Partei für Recht und Ordnung sorgen kann. Das glaubt auch die CDU selbst | |
| und will Taser, Videoüberwachung, mehr Polizist*innen, eine Sondereinheit | |
| für „Clankriminalität“ und eine Gefährderdatei für linke Gewalttäter. | |
| ## In Pankow sogar hinter der AfD | |
| „Silvester hat eine große Rolle gespielt“, sagt Çağlar. Aber der Diskurs | |
| danach sei entgleist. „Das sind unsere Jungs.“ Natürlich brauche es | |
| Strafen, sagt sie, aber auch Perspektiven. Und es gebe viele Jugendliche in | |
| Neukölln, die vernünftig seien. Sie erzählt von einem 14-jährigen | |
| Neu-Genossen aus der High-Deck-Siedlung, der sie im Wahlkampf unterstützt | |
| hat. Und auch der Gipfel gegen Jugendgewalt sei ein Erfolg gewesen. „Wir | |
| sind das Thema angegangen. Wichtig ist, dass daraus konkrete Taten folgen.“ | |
| Für Elke Breitenbach von der Linken war die Wahl keine Zitterpartie. | |
| Zumindest nicht in ihrem Wahlkreis Pankow 1 – sie hat hier, ganz im Norden | |
| von Berlin, noch nie das Direktmandat gewonnen. Dieses Mal holte es die CDU | |
| mit 41,6 Prozent. Auch bei den Zweitstimmen liegt die Union vorne, letztes | |
| Jahr gewann noch knapp die SPD. Die landet jetzt sogar noch hinter der AfD, | |
| die 17 Prozent der Zweitstimmen holt. | |
| Insgesamt haben die Grünen die meisten Zweitstimmen in Pankow geholt, mit | |
| einem Prozentpünktchen vor der CDU, dahinter liegen SPD und Linke. Pankow | |
| ist groß, es reicht vom hippen Prenzlauer Berg bis hoch an die Grenze von | |
| Brandenburg. Dort liegt auch der Wahlkreis Pankow 1, der die Gebiete Buch, | |
| Karow und einen Teil von Französisch Buchholz umfasst. Rund 34.000 | |
| Wahlberechtigte leben in diesem Wahlkreis – in Einfamilienhäusern und | |
| Plattenbauten, zwischen Wald, Einkaufspassagen und einem großen | |
| biomedizinischem Forschungskomplex. | |
| Hier in Buch sei in den letzten Jahren viel gebaut worden, sagt | |
| Breitenbach. Auch viel „soziale Infrastruktur“. Ein Jugendzentrum, eine | |
| Bibliothek und das Bucher Bürgerhaus. Und die Schulen seien renoviert | |
| worden. Trotzdem hätten die Menschen am Stadtrand das Gefühl, man würde | |
| sich nicht um sie kümmern. | |
| ## Erst die Nazis, dann Sahra Wagenknecht | |
| Vom Bucher Bürgerhaus, einem dreistöckigen gelben Flachbau, führt eine | |
| Straße zu einer Unterkunft für Geflüchtete. Weiß, blau, gelb und rot | |
| stapeln sich Container übereinander, aus einem Tor rennen Kinder mit einem | |
| Ball über die Straße, zwei Jungen posieren hinter Breitenbach, als ein Foto | |
| geschossen wird. | |
| Als Senatorin hatte Breitenbach versprochen, solche Containerunterkünfte | |
| aufzulösen und die Geflüchteten in vernünftigen Wohnungen unterzubringen, | |
| erzählt sie. Das tat sie auch, doch dann suchten wieder mehr Menschen Asyl | |
| in Deutschland und man erinnerte sich an die Container in Buch. „Ich bin | |
| wortbrüchig geworden“, sagt Breitenbach. Aber sie habe keine andere | |
| Möglichkeit gehabt. Es ist nicht die einzige Unterkunft für Geflüchtete in | |
| ihrem Wahlkreis und immer wieder gibt es darüber Streit. | |
| So ist es nicht immer leicht für die Linke im Norden Pankows – früher, | |
| erzählt Breitenbach, hätten Linke und SPD sogar Wahlstände in nächster Nähe | |
| zueinander aufgebaut, nachdem Nazis angegriffen hätten. Das sei aber besser | |
| geworden. Dieses Jahr hatte die Linke ganz andere Probleme: Sahra | |
| Wagenknecht und die unterschiedlichen Positionen der Partei zu Russlands | |
| Angriffskrieg auf die Ukraine. | |
| „Ich habe deshalb befürchtet, dass uns die Bundespartei und vor allem die | |
| Bundestagsfraktion in den Abgrund reißt“, sagt Breitenbach, die das Recht | |
| der Ukraine auf Selbstbestimmung und Selbstverteidigung betont. Vor diesem | |
| Hintergrund sei sie ganz zufrieden mit dem Wahlergebnis der Berliner | |
| Linken. | |
| ## Teure Mieten trotz Bauboom im Norden | |
| In der Nähe der Flüchtlingsunterkunft stehen auch ein paar | |
| Einfamilienhäuser. Wand an Wand in Gelb und Weiß bilden sie eine kleine | |
| Allee. Eine Bewohnerin habe Breitenbach erzählt, dass hier in der DDR viele | |
| Ärzt*innen aus dem nahen Klinikum gewohnt hätten. Und die hätten damals | |
| über den Plattenbau geklagt. „Weil sie weiter ins Grüne gucken wollten.“ | |
| Das Problem gibt es bis heute. | |
| [5][Bei Buch liegt die Moorlinse]. Ein Feuchtgebiet mit viel Schilf | |
| außenrum und einem Aussichtsplattförmchen, von dem aus man über das Wasser | |
| blicken kann. Ganz in der Nähe soll ein Quartier mit 2.700 Wohnungen gebaut | |
| werden – Bewohner*innen und der Naturschutzbund Nabu wollten weniger. | |
| Auch Breitenbach sieht das so. „Hier kann gebaut werden. Aber weniger | |
| Wohnungen als geplant und mit Rücksicht auf die Natur, vor allem darf die | |
| Moorlinse nicht gefährdet werden.“ | |
| 410.000 Menschen leben hier im Bezirk, seit den 1990ern sind rund 90.000 | |
| weitere hierher gezogen – das ist in etwa so viel, wie die Stadt Flensburg | |
| Einwohner*innen hat. Bis 2030 rechnet man mit weiteren 30.000. | |
| ## Unterschiede sind noch keine Spaltung | |
| Die Linke fordert einen bundesweiten Mietendeckel oder zumindest die | |
| Möglichkeiten, einen Mietendeckel in Berlin einzuführen. Die CDU will | |
| weiter bauen, 300.000 neue Wohnungen bis 2035 und ein Mieter*innengeld | |
| für mittlere Einkommen einführen. Doch das ganze Bauen hat bisher auch | |
| keine günstigen Wohnungen geschaffen, sagt Breitenbach. | |
| An einer Baustelle liegt noch ein letztes CDU-Wahlplakat im Matsch. „Beste | |
| Bildung, in modernen Schulen“ steht darauf. „Klingt erst mal gut“, sagt | |
| Breitenbach. Den Erfolg der CDU kann sie aber auch nicht ganz erklären. | |
| „Mir ist das ein Rätsel“, sagt sie. Sie findet nicht, dass die CDU die | |
| richtigen Antworten auf die Probleme der Stadt hat. | |
| Die Politikwissenschaftlerin Reuschenbach glaubt, dass Berlin ein Brennglas | |
| für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ist und hier Antworten auf große | |
| soziale Fragen gefunden werden müssen: Sicherheit, Wohnen, Mobilität. Das | |
| habe die Berlinwahl gezeigt. Und die Begegnung mit dem Problem sei, je | |
| nachdem ob man in der Innenstadt oder am Stadtrand wohnt, eine andere. | |
| Für beides brauche es politische Antworten. Wohnen zum Beispiel: In der | |
| erweiterten Innenstadt würden die Menschen steigende Mieten und | |
| Gentrifizierung erleben, am Stadtrand sei noch Platz zum Bauen und die | |
| Menschen drängen raus, dort brauche es mehr Infrastruktur und bessere | |
| Anbindung. Was wiederum Druck ausübe. Ein Problem werde so unterschiedlich | |
| erlebt. „Das ist aber noch keine Spaltung“, sagt Reuschenbach. | |
| ## Vergleiche lieber mit 2016 | |
| Auch Breitenbach glaubt nicht an eine Spaltung. „Wir haben unterschiedliche | |
| Menschen in der Stadt: jung, alt, reich, arm, Menschen aus | |
| unterschiedlichen Ländern. Die haben unterschiedliche Probleme und | |
| Bedürfnisse.“ Es sei Aufgabe einer Regierung, die unterschiedlichen | |
| Interessen zusammenzubringen. | |
| Das versucht auch die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in Spandau im | |
| Westen Berlins. Dara Kossok-Spieß ist hier Fraktionsvorsitzende der Grünen | |
| und Landesvorständin der Partei. Unterschiedliche Interessen, sagt sie, | |
| brauchen eine „kunterbunte BVV“. | |
| Die BVV ist das Parlament in einem Bezirk, es kontrolliert die Bezirksämter | |
| und wählt die Bezirksbürgermeister*innen. Auch die BVV war von der | |
| Wahlwiederholung betroffen. In Spandau erhielt die CDU diesmal fast 40 | |
| Prozent, über 12 Prozent mehr als bei der letzten Wahl 2021. Die SPD kam | |
| auf 23,3 Prozent und verlor damit mehr als 4,4 Prozent, die Grünen kamen | |
| nur noch auf 9,9 Prozent, minus 2 Prozent. | |
| Das ist ein Sitz in der BVV weniger als 2021. Kossok-Spieß aber sagt: „Das | |
| war eine Wiederholungswahl, deshalb vergleiche ich es mit 2016. Dann haben | |
| wir zwei Sitze mehr.“ In Spandau leben rund 250.000 Menschen – die Grünen | |
| hätten hier rund 230 Mitglieder, sagt Kossok-Spieß. Dafür ist sie zufrieden | |
| mit dem Ergebnis. | |
| ## „Grüne Hure“, „Volksverräterin“ – Willkommen in Spandau | |
| Im Staakener Einkaufscenter am Rand von Spandau gibt es einen Woolworth, | |
| einen Edeka, ein paar Imbisse und Leerstand. Der Boden ist gefliest, an der | |
| Decke hängen ein paar Pflänzchen und aus Boxen dudelt Popmusik. „Oase in | |
| Spandau“ steht an einer Wand. Kossok-Spieß kennt diese Oase seit ihrer | |
| Jugend, inzwischen macht sie hier Wahlkampf. | |
| „Es war nicht schön, hier zu stehen“, sagt Kossok-Spieß. Sie sei beschimp… | |
| worden, als „grüne Hure“, als „Volksverräterin“. Aber sie sagt: „Wi… | |
| raus aus unserer Wohlfühlzone, nur dann kommen wir raus aus 19,4 Prozent in | |
| Berlin und 9,9 Prozent in Spandau.“ Und beschimpft werden die Grünen auch | |
| in Mitte, sagt sie. Hinter dem Staaken-Center ragen bunte Hochhäuser in den | |
| grauen Himmel über Spandau. Hier in der Obstalleesiedlung ist Kossok-Spieß | |
| groß geworden – ihre Mutter lebt bis heute in einem der Hochhäuser. | |
| Viele Leute würden hierher ziehen, sagt sie – auch weil sie sich die Mieten | |
| in der Innenstadt nicht mehr leisten könnten. In Spandau leben daher ganz | |
| unterschiedliche Menschen. 17 Prozent der Menschen in Spandau haben einen | |
| Migrationshintergrund, 21 Prozent haben keinen deutschen Pass. | |
| Rund ein Fünftel der Spandauer*innen ist älter als 65. 23,6 Prozent der | |
| Menschen haben ein Armutsrisiko. Warum erreichen die Grünen hier weniger | |
| Menschen als in den inneren Bezirken? „Das kennen wir auch aus anderen | |
| Großstädten, dass die Grünen in der Innenstadt sehr stark sind“, sagt | |
| Reuschenbach. | |
| ## Grünenfeindliche Klischees | |
| Kossok-Spieß fragt sich, wie die Grünen ihre Politik kommunizieren können. | |
| Denn bisher würden sie vor allem für Themen wahrgenommen, die in der | |
| Innenstadt gut ankommen. „Die Friedrichstraße interessiert viele Spandauer | |
| nicht.“ Dafür hätte man hier eine eigene „Friedrichstraße“, die Neuend… | |
| Straße soll in einem Abschnitt gesperrt werden – in Absprache mit der BVG, | |
| weil die vollen Busse nicht mehr durchkommen. | |
| „Berlin ist für alle da. Auch für Autofahrer“ – damit hatte die CDU | |
| geworben. Und so schwappt die Debatte aus der Innenstadt dann doch an den | |
| Rand. „Das hat uns geframet: Die Grünen haben da gesperrt, die haben hier | |
| gesperrt, die sperren überall“, sagt Kossok-Spieß. „Aber wir sind mehr als | |
| das Klischee vom im Café am Laptop sitzenden Fahrradfahrer.“ | |
| Das Industriepapier der Grünen etwa sei kaum wahrgenommen worden, auch ist | |
| sie überzeugt von grüner Sozialpolitik. „Unser Service muss es sein, | |
| Politik so runterzubrechen, dass die Wähler*innen verstehen, wozu das im | |
| Alltag gut ist.“ Die 320 Seiten Wahlprogramm hätte sie gelesen, weil sie es | |
| als Landesvorständin tun musste. | |
| Und die CDU? „Ich glaube, dass die CDU es geschafft hat, die Ängste der | |
| Menschen zu spüren und zu benennen“, sagt sie. Sie verstehe die Angst, sie | |
| verstehe den Wunsch nach Stabilität, aber dass die CDU Lösungen hat, | |
| bezweifelt sie. „Der Wahlkampf war populistisch“, sagt sie. Die CDU hätte | |
| auf die Grünen eingedroschen. | |
| ## Am rechten Rand zu fischen zahlt sich nicht aus | |
| Auch Reuschenbach sagt: „Der Wahlkampf ist eine Zeit, in der zugespitzt | |
| werden muss.“ Eine Polarisierung mache Unterschiede zwischen Parteien | |
| deutlich und das sei „wünschenswert“ für den „parteipolitischen | |
| Wettbewerb“. Auch um Wähler*innen zu mobilisieren und dazu zu bringen, | |
| sich mit Parteiprogrammen auseinanderzusetzen. „Schwierig wird es, wenn | |
| populistische, stigmatisierende und rassistische Ressentiments geschürt | |
| werden“, sagt Reuschenbach. So wie bei der Vornamenabfrage. | |
| „Aus politikwissenschaftlicher Perspektive kann man auch nur davor warnen“, | |
| sagt sie. Denn das Andienen an rechtspopulistische Sprache würde | |
| begünstigen, dass Wähler*innen am Ende eher das Original wählen, also | |
| die AfD. Der Wahlsieg der CDU in Berlin würde das auch nicht widerlegen, | |
| denn viele Menschen hätten die CDU vor allem aus Protest und weniger aus | |
| Überzeugung gewählt. | |
| Trotz allem kann sich Kossok-Spieß eine Koalition mit der CDU vorstellen – | |
| etwas auszuschließen würde den Grünen nichts bringen. „Wir sind nicht die | |
| kleine Schwester der SPD und ewige Opposition können wir uns nicht | |
| leisten.“ Das klingt nicht nach Spaltung. Erst recht nicht in Spandau – wo | |
| auch der „Kai“ (Wegner) wohnt. In Spandau ist man per du – außer mit der | |
| AfD. | |
| Gute Voraussetzungen also für eine Zusammenarbeit über Lagergrenzen hinweg? | |
| „Das ist die Kunst der Politik“, sagt Kossok-Spieß. „Die verschiedenen | |
| Interessen übereinanderlegen und einen Kompromiss finden. | |
| 27 Feb 2023 | |
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| [1] /Gewalt-an-Silvester/!5903865 | |
| [2] https://www.berlin.de/wahlen/wahlen/wahlen-2023/ergebnisse/artikel.1293464.… | |
| [3] /Wahlen-in-Berlin/!5914630 | |
| [4] /Wiederholungswahl-in-Berlin/!5915176 | |
| [5] https://berlin.nabu.de/stadt-und-natur/projekte-nabu-berlin/moorlinse-buch/… | |
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