| # taz.de -- Regierungsbildung in Berlin: Es fehlt ein kühner Schachzug | |
| > Die rot-grün-rote Koalition leidet weniger am Wahlergebnis als an | |
| > Franziska Giffey. Für die Nachfolge drängt sich ein Kandidat förmlich | |
| > auf. | |
| Bild: Wer in der SPD könnte Giffey nicht nur Blumen reichen, sondern einen Aus… | |
| Im Nachwahlberlin geht einiges durcheinander. Da ist zum Beispiel die CDU, | |
| die nicht müde wird, den Wahlausgang als Regierungsauftrag für sich zu | |
| reklamieren. Dass die Union das so macht – geschenkt. Doch wie viele in der | |
| Stadt da mitziehen, irritiert schon. | |
| Klar, die CDU hat zehn Prozentpunkte hinzugewonnen. Das liegt aber vor | |
| allem daran, dass sie in den letzten 20 Jahren so tief gesackt war, dass es | |
| kaum noch weiter runtergehen konnte. Von ihren glorreichen Zeiten bis zur | |
| Jahrtausendwende, als die Partei über Jahrzehnte hinweg in Berlin stabil um | |
| die 40 Prozent holte und daraus tatsächlich einen Regierungsanspruch | |
| ableiten konnte, bleibt sie meilenweit entfernt. Die Union ist ein | |
| Scheinriese. | |
| Tatsächlich weiterhin groß hingegen wäre eine rot-grün-rote Koalition. | |
| Klar, sie hat ein paar Prozentpunkte verloren. Aber insgesamt stimmten | |
| immer noch 49 Prozent der Berliner:innen für das amtierende | |
| Regierungsbündnis. Im Abgeordnetenhaus hätte es weiter eine stabile | |
| Mehrheit. | |
| Dass sie nicht automatisch als erneute Regierung gesehen wird, sondern als | |
| Verliererin, liegt aber nicht nur daran, dass sie 2021 noch stärker war. Es | |
| liegt vor allem an dem Bild, das Rot-Grün-Rot in den letzten anderthalb | |
| Jahren abgegeben hat. | |
| Und damit wären wir bei Franziska Giffey. Die SPD-Politikerin wäre die | |
| perfekte Regierende Bürgermeisterin – wenn sie denn eine Große Koalition | |
| führen würde. Als Chefin des linken Dreierbündnisses ist sie jedoch eine | |
| Fehlbesetzung. Sie steht für vieles, für eines aber bestimmt nicht: für | |
| eine progressive Politik, die die Probleme der Stadt mit links erledigt. | |
| Nun könnte der eigentlich als links geltende und somit für Rot-Grün-Rot | |
| stehende SPD-Landesverband ja das Wahlergebnis nutzen, um Giffey aus dem | |
| Fokus zu nehmen. Doch dafür müsste die SPD als kleine Partnerin der CDU ins | |
| Rote Rathaus verhelfen. Und was daran gut sein soll für Berlin, bleibt | |
| schleierhaft. | |
| Das wäre noch abstruser als eine schwarz-grüne Koalition, die von vielen | |
| Rechenkünstlern nun [1][als logische Brücke zwischen Innenstadt und | |
| Außenbezirken gepriesen] wird. Was bitte sollte diese Koalition der | |
| Gegensätze denn zustande bringen? Ein paar Radwege für die Innenstadt und | |
| Autobahnen für den Rest? Die Preisgabe der Stadt an die | |
| Immobilienverwerter, solange wenigstens hier und da eine Solarzelle auf den | |
| Dächern thront? Und als Gemeinschaftsprojekt kippen sie mit großem Elan | |
| soziale Errungenschaften wie die kostenlosen Kitas? | |
| Also doch weiter so mit Rot-Grün-Rot? Das ist, so absurd das klingt, die | |
| einzige Machtoption für Franziska Giffey – weil ihre SPD gut hundert | |
| Stimmen mehr als die Grünen bekommen hat. Aber wäre es gut, ein Bündnis | |
| fortsetzen, das offensichtlich so nicht harmoniert? Dann kann man die Idee | |
| R2G spätestens bei der nächsten Wahl im Jahr 2026 endgültig in die Tonne | |
| treten. | |
| Wenn es jedoch mehr als berechtigte Kritik an der Performance von | |
| Rot-Grün-Rot gibt, aber auch die sich rechnerisch anbietenden Alternativen | |
| alles andere als Besserung versprechen, was dann? Dann bleibt immer noch | |
| der Versuch, Rot-Grün-Rot mal als inspirierenden Pakt ernst zu nehmen. Mit | |
| einer Regierungschef:in, die nicht wie Giffey sichtlich mit dem Projekt | |
| fremdelt, sondern mit einer Person, die den Esprit eines solchen Trios | |
| ausstrahlen würde, weil Haltung und Projekt im Einklang sind. Der man | |
| abnimmt, dass sie [2][rote Socken als Auszeichnung sieht]. | |
| Der Witz daran ist: So jemand wäre gar nicht so schwer zu finden. Es gibt | |
| ihn sogar in der Berliner SPD. Er heißt: Kevin Kühnert. | |
| Einziges Problem: Der aktuelle SPD-Generalsekretär dürfte sich nicht mehr | |
| demonstrativ [3][hinter Giffey stellen], sich nicht mehr hinter ihrem | |
| Rücken verstecken. Er müsste mit der Chuzpe, die er einst als Juso-Chef an | |
| den Tag legte, die Chance beim Schopfe ergreifen und sich vor Giffey | |
| drängen. | |
| Kühnert hätte, anders als Giffey, keinen Amtsmalus. Er hätte auch nicht den | |
| Makel eines Wahlverlierers. Er könnte ein Bündnis führen, in dem Linke | |
| tatsächlich linke Politik machen könnten, Grüne mit grünen | |
| Fortschrittsprojekten punkten und Sozialdemokraten sozialdemokratische | |
| Akzente setzen könnten, ohne sich gegenseitig zu belauern. | |
| Selbstverständlich wäre der Kühnert-Move ein Wagnis. Nicht weil der Kevin | |
| zu unerfahren oder zu jung wäre. [4][In anderen Staaten führen Menschen | |
| seines Alters längst Landesregierungen]. Aber ein Rot-Grün-Rot unter | |
| Kühnert könnte scheitern, weil es tatsächlich etwas Neues wäre in | |
| Deutschland. Eine linke Regierung, die von einem Linken geführt wird, um | |
| linke Politik zu machen. Das könnte sogar Strahlkraft entwickeln, deutlich | |
| über Berlin hinaus. | |
| 18 Feb 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gereon Asmuth | |
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