| # taz.de -- Berlin-Spandau: In Wegners Wohnzimmer | |
| > Mit Kai Wegner könnte ein gebürtiger Spandauer Berlins Bürgermeister | |
| > werden. Wie ticken dort die Wähler*innen? Auf Spurensuche in seinem altem | |
| > Kiez. | |
| Bild: Leihbikes ohne Aufpreis parken geht in Spandau nicht, mit dem Boot auf de… | |
| Kai Wegner ist eine Heimkuh. Der [1][Berliner CDU-Chef] kam im | |
| [2][Spandauer Ortsteil Hakenfelde] zur Welt, büffelte hier in der | |
| Hans-Carossa-Oberschule und ist dem Bezirk bis heute treu geblieben. Bei | |
| der Berlin-Wahl feierte er einen Heimsieg. | |
| In Westberlin überraschte Spandau mit einem eindeutigen Ergebnis. Fast jede | |
| zweite Wählerin machte am 12. Februar ihr Kreuz bei der CDU. Nur in | |
| Reinickendorf wählten mehr Berliner*innen konservativ. [3][Beide | |
| Bezirke stehen sinnbildlich für den Erfolg der Partei] in den äußeren | |
| Bezirken. | |
| Zynisch ziehen Beobachter*innen bereits die neue Berliner Mauer | |
| entlang des S-Bahn-Rings hoch. Zugegeben, auf den ersten Blick vermittelt | |
| die Wahl-Landkarte den Eindruck, Berlin sei eine geteilte Stadt, in der die | |
| Bezirke außerhalb des S-Bahn-Rings wenig gemein haben mit den inneren. Und | |
| dass Berlin bei diesen CDU-Ergebnissen doch nicht so „links-grün-versifft“ | |
| sein könnte, wie Kritiker*innen spotten und Zugezogene prahlen. | |
| Es lohnt sich ein genauer Blick: Eine Hochrechnung des Tagesspiegels ergab, | |
| dass in Anbetracht der Wahlbeteiligung und des Fakts, dass ein Drittel der | |
| Berliner*innen nicht wahlberechtig ist, insgesamt nur 11 Prozent der | |
| Bürger*innen die CDU wählten. Trotzdem gibt es sie, die Berliner | |
| Christdemokrat*innen, und sehr wahrscheinlich in Wegners Wohnzimmer | |
| Spandau. | |
| ## Über Politik reden will zunächst niemand | |
| Die Spurensuche beginnt vor dem Spandauer Bezirksamtsgebäude. Auf dem | |
| Wochenmarkt bieten Dutzende Stände ihre Kostbarkeiten an. Menschen sammeln | |
| sich an Imbissstehtischen, inspizieren T-Shirts, Jogginghosen, Wollpullover | |
| und wühlen in der Kartoffelkiste. Nebenan auf der achtspurigen Kreuzung | |
| warten die Autos auf die Grünphase, und unermüdlich spuckt der Spandauer | |
| Bahnhof Menschen aus. Doch über Politik will weder auf dem Wochenmarkt noch | |
| in der angrenzenden Altstadt zunächst niemand reden. | |
| Im Gemeinschaftsraum des Seniorenklubs „Lindenufer“ im Zentrum Spandaus | |
| sind die Menschen offener. Von der Decke hängen goldene und silberne | |
| Glitzersterne und Lametta, der Linoleoumboden quietscht unter den | |
| Turnschuhsohlen. Lässiger Lambada und Saxofonsoli tönen durch den Raum, in | |
| dem nur die Mandarinenschnitten in der Kuchenvitrine daran erinnern, dass | |
| hier auch gegessen wird. Heute ist Tanzeinheit, und die Tänzerinnen sind | |
| gesprächig. | |
| Johanna Schmidtchen steht an der Tür und sammelt Geld ein. Die Münzen | |
| klimpern in der kleinen Kasse, während die Tänzerinnen eintrudeln und ihre | |
| Namen in der Teilnehmerinnenliste eintragen. Schmidtchen hat kurze weiße | |
| Haare und trägt silberne Ohrringe. Auf dem T-Shirt der 82-Jährigen steht in | |
| Großbuchstaben „GIRLPOWER“. 1960 zog sie aus Ljubljana nach Berlin. „Ich | |
| mag die alle nicht von der CDU, den Kai Wegner auch nicht“, sagt | |
| Schmidtchen. Seitdem sie die deutsche Staatsbürgerschaft hat, wählt sie | |
| SPD. Die Regierung um Franziska Giffey habe zu wenig Zeit gehabt, findet | |
| sie. „Sie wurden ins kalte Wasser geworden, was sollen die schon schaffen | |
| in einem Jahr?“ | |
| An Schmidtchens Seite steht im blauen Trikot und schwarzer Jogginghose | |
| Claudia Will. „Das ist meine Schwiegertochter“, sagt Schmidtchen und | |
| lächelt breit. Will leitet die Einheit und begrüßt die Teilnehmerinnen. | |
| Dann fällt der Satz. „Ich habe CDU gewählt“. Zum ersten Mal in ihrem Leben | |
| – in der Hoffnung, dass sich was ändere. Zu viel Kriminalität herrsche in | |
| Spandau, und die Parks seien dreckig. „Die CDU war die einzige Alternative. | |
| Die AfD wählen geht nicht und darunter auch nicht“, sagt Will. „Man weiß … | |
| Grunde nicht, was man tun soll, und nimmt einen Strohhalm.“ Die CDU als | |
| letzter Strohhalm also – Überzeugung klingt anders. | |
| Im Vorbeigehen mischt sich Siegrid ein. „Wenn die jetzt auf ihrem Sessel | |
| kleben bleiben, ist das nicht in Ordnung“, sagt sie und meint damit auch | |
| Carola Brückner. Die SPD-Politikerin ist seit 2021 Bezirksbürgermeisterin | |
| in Spandau. Damals holte sie 399 Stimmen mehr als ihr CDU-Konkurrent Frank | |
| Bewig. Anderthalb Jahre später muss sich Brückner mit 16 Prozent Stimmen | |
| weniger geschlagen geben. Ihr Amt als Bürgermeisterin darf sie dennoch bis | |
| 2026 behalten, wenn sie nicht freiwillig geht. | |
| Ohne Tasche und Mantel kommt Siegrid zurück. Ihren ganzen Namen möchte sie | |
| nicht in der Zeitung lesen. „Es wird böse in Berlin, wenn sich jetzt | |
| Parteien zusammentun, nur um an der Macht zu bleiben“, sagt Siegrid. Vor | |
| anderthalb Jahren wählte sie noch SPD, jetzt CDU. Damals ging es ihr um | |
| Franziska Giffey, eine tolle Frau, wie sie sagt. „Sie konnte sich aber | |
| nicht durchsetzen. In meinem Bekanntenkreis ist sie unbeliebt.“ Im | |
| Hintergrund stellen sich währenddessen die Teilnehmerinnen in zwei Reihen | |
| und mit Armbreite Abstand auf. Der Schlager „Kleine Annabelle“ von Ronny | |
| wummert aus der Stereoanlage, die ersten lockern ihre Beine und schwingen | |
| ihre Hüften. Auch Schmidtchen kommt zum Eingang. „So, wir machen jetzt die | |
| Tür zu.“ | |
| ## In der Grundschule mit Kai Wegner | |
| Zu einem der zentralen Wahlkampfthemen hat Schmidtchen eine klare Meinung. | |
| „Autos sind das Schlimmste“, sagt sie. Wer aus dem Zentrum Berlins mit den | |
| Öffis nach Spandau fahren will, dem wird als Verbindung auch eine ICE-Fahrt | |
| vorgeschlagen. Wer kein Fahrrad hat, der könnte sich auf ein NextBike | |
| setzen und den kostenpflichtigen Fahrradverleih nutzen – doch das Gebiet, | |
| in denen die Fahrräder ohne Aufpreis abgestellt werden können, endet noch | |
| vor Spandau. Das Straßenbahnnetz führt nicht bis hierher, S- und U-Bahn | |
| dagegen schon. Ob der Wunsch nach einer autofreien Stadt hier am Rande | |
| Berlins ebenfalls so groß ist? Wer ein Auto besitzt, hat es in Spandau | |
| jedenfalls einfacher. | |
| Kai Wegner lernte die Spielregeln konservativer Politik als | |
| Kreisvorsitzender der Jungen Union und der CDU Spandau, aber so ein hohes | |
| Ergebnis wie bei dieser Wahl erreichte er in seinem Geburtsort noch nie. | |
| Im Wahlbezirk Spandau 5 sammelte er 46,9 Prozent. | |
| „Die meisten sind mit Kai in die Schule gegangen“, sagt Andreas Engel. Er | |
| sitzt am Tresen vom Gasthaus Hakenfelde. Über Wegners Wahlerfolg in Spandau | |
| wundert er sich nicht. Er deutet auf eine blonde Frau, die ebenfalls über | |
| dem Tresen hängt. „Wir waren zusammen in der Grundschule“, sagt sie. | |
| Im Gasthaus pumpt das Radio Achtziger-Discohits. Lichterketten reflektieren | |
| in der Ritterrüstung, die neben einem alten Gewehr an der Wand hängt. Wie | |
| Claudia Will wählte auch Engel die CDU zum ersten Mal in seinem Leben. „Der | |
| Kai hat gute Ansichten“, sagt er. Außerdem hätte er gegen Giffey gestimmt. | |
| „Sie hat nicht gehalten, was sie versprochen hat. Ob Wegner das tut, weiß | |
| man auch nicht. Aber es muss sich was ändern.“ | |
| Engel ist wie Wegner in Hakenfelde geboren und lebt mit seiner Frau hier. | |
| Während er erzählt, bewegen sich seine Augenbrauen lebhaft. Sein Pullover | |
| hat dasselbe Braun wie die Inneneinrichtung des Gasthauses, in dem Engel | |
| die Angestellten duzt. Vor einiger Zeit wollte er ein Solarpaneel auf | |
| seinem Balkon anbringen, das wurde ihm aber wegen der Statik verboten. Sein | |
| Bier rührt er während des 45-minütigen Gespräches nicht an. | |
| „Die AfD würde ich nie wählen, dann lieber die Biertrinkerpartei“, sagt | |
| Engel. Die AfD sei ihm zu radikal, er wolle keinen Hass gegen Ausländer | |
| unterstützen. Er sagt aber auch: „Wenn man Missstände anprangert, wird man | |
| gleich als Nazi abgestempelt.“ Und den Satz, den keine*r mehr hören kann: | |
| „Ich hab Ausländer als Freunde. Ich bin kein Nazi. Aber …“. | |
| Die CDU schlüpfte im Wahlkampf in das Gewand der Protestpartei. „Endlich | |
| sagt es mal jemand“, ist ein Satz, der üblicherweise mit der AfD in | |
| Verbindung gebracht wird und den die CDU nun dankend für sich beansprucht | |
| hat. Sorgen über fehlende Sicherheit oder darüber, dass Autofahren bald | |
| verboten wird, sind für die CDU der ideale Stoff für Märchen, in denen sie | |
| als großer Retter glänzen kann. Nicht nur im Bezirk Spandau, sondern | |
| bundesweit. | |
| ## Geruch von Döner, Urin und Teer | |
| Auf der Streitstraße, auf der das Gasthaus Hakenfelde liegt, sind die | |
| Fahrbahnen in beide Richtungen zweispurig und viel befahren. Der Fahrradweg | |
| ist dagegen eng und Wurzeln kämpfen sich sichtbar durch die Pflastersteine. | |
| Engels Meinung nach gibt es dennoch Sonderrechte für | |
| Fahrradfahrer*innen und ganz besonders für die neuen E-Scooter. „Es | |
| sind die kleinen Dinge, die den Bürger stören“, sagt er. „Mein Auto und i… | |
| haben auch Rechte.“ Es gebe außerdem zu wenig Parkplätze und es sei sowieso | |
| dreckig in Berlin. Überall liege Hundekot auf den Fußwegen. | |
| „So entstehen Bürgerkriege“, meldet sich plötzlich die Frau, die zusammen | |
| mit Wegner in der Grundschule gewesen sein will, vom Tresen aus zu Wort. | |
| „Das ist Bürgerkrieg.“ Engel ignoriert sie. Dass Berlin geteilt ist, sei | |
| dahergeredet. „Wir haben hier doch noch keine amerikanischen Verhältnisse.“ | |
| Zurück am Spandauer Bahnhof. Die ersten Verkäufer*innen schließen schon | |
| ihre Marktbuden, während der Feierabendverkehr auf der Kreuzung lärmt und | |
| sich sechs Linienbusse hintereinander an der Haltestelle stauen. Aus dem | |
| Eingang zur U-Bahn-Station steigt der Duft von Döner, Urin und Teer auf. | |
| Nach einer neuen Berliner Mauer sieht, riecht und hört sich das nicht an. | |
| 1 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anton Kämpf | |
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