# taz.de -- Letztes Buch von F.C. Delius: A wie Azzurro | |
> Spät entdeckte Friedrich Christian Delius sein eigenes Leben. „Darling, | |
> it’s Dilius!“ ist ein lebhafter Streifzug durch die frühe BRD. | |
Bild: 2018: Friedrich Christian Delius zieht seinen Hut. Vor wem? Den eigenen P… | |
[1][Friedrich Christian Delius hat erst spät sein eigenes Leben] entdeckt. | |
Berühmt wurde er durch dokumentarische Texte und politische Gedichte [2][im | |
Umfeld der 68er-Bewegung] („Wenn wir, bei Rot“). Als er 1994 mit „Der | |
Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ einen viel gelobten Bestseller | |
landete, schien er aber auch vom Potenzial seines autobiografischen | |
Materials überzeugt worden zu sein. | |
Immer selbstbewusster sprach er von seinem Ich, und sein letztes Buch | |
spitzt das alles zu. [3][Delius, der am 30. Mai 2022 im Alter von 79 | |
Jahren gestorben] ist, hält noch einmal auf pointierte Weise fest, welche | |
Erinnerungen ihm am wichtigsten waren. | |
Er hat sich dafür eine verblüffende Form einfallen lassen: kurze | |
Abschnitte, als Lexikonartikel getarnt, und jeder steht unter einem | |
Stichwort, das mit dem Buchstaben „A“ anfängt. Der erste und kürzeste | |
Eintrag heißt bloß „A“ und besteht aus „Blutgruppe A, Rhesus-positiv“… | |
letzte „Azzurro“ – er bündelt in einem schönen Bild die italienischen | |
Aspekte von Delius' Leben. | |
Dass das gesamte Buch unter dem Zeichen eines großen „A“ steht, hat etwas | |
Beiläufiges und Augenzwinkerndes. Immerhin könnten noch etliche weitere | |
Bücher folgen, die das ganze Alphabet durchbuchstabieren würden. Der Autor | |
spielt mit dem Fragmentarischen und Zufälligen, aber er schafft es | |
natürlich, die ihm wichtigen Momente seiner Biografie immer einem | |
Schlagwort mit dem Anfangsbuchstaben „A“ zuzuordnen. Die witzigen und | |
erhellenden Umwege, auf denen das geschieht, sind dabei das Entscheidende. | |
## Verweis auf die Internationalität | |
Seinen Freund Jürgen Theobaldy skizziert Delius etwa unter dem Stichwort | |
„Aare“. Das ist der nicht ganz harmlose Fluss, in dem der in Bern lebende | |
Theobaldy oft schwimmt. Dieses scheinbar nebensächliche Detail erscheint | |
als ein Symbol dafür, was die Eigenart dieses unterschätzten und nur noch | |
in Kleinverlagen veröffentlichenden Dichters ausmacht. Mit Theobaldy, so | |
erfährt man außerdem, hat Delius über die Jahrzehnte hinweg den | |
umfangreichsten und intensivsten Briefwechsel geführt. | |
Bei Namen hingegen, die mit einem „A“ beginnen, kann der Autor ohne | |
Umschweife sofort zur Sache kommen. Die Frau von Walter Abish habe, durch | |
das Telefon vernehmbar, nach Abnahme des Hörers laut „Darling, it’s | |
Dilius!“ gerufen – das führte nicht nur zum Titel für das vorliegende Buc… | |
der ins allgemeinere Rezeptionsverhalten zielt, sondern verweist auch auf | |
die Internationalität des hier Schreibenden. | |
Und die greift in einem späteren Abschnitt bis zum griechischen Gott des | |
Lichts und der Künste aus, Apollon: Bei Horaz und bei Kleist wird dieser, | |
seiner Herkunft von der Kykladeninsel Delos wegen, auch „Delius“ genannt. | |
So etwas lässt den Dichter nicht unberührt. | |
Dreh- und Angelpunkt der Selbsterkundungen [4][des Autors ist jedoch die | |
68er-Bewegung], der er immer zugerechnet wurde. Es fällt auf, wie sehr sich | |
Delius dabei gegen allzu eindeutige Zuweisungen wehrt. Wenn, dann würde er | |
sich viel eher mit einer 66er-Bewegung identifizieren, als alles noch | |
spielerisch und offen gewesen sei. | |
## 68er-Revolte und Freundschaft zu Wagenbach | |
Auch für seine frühen Texte, die zu zentralen Dokumenten der 68er-Revolte | |
wurden, reklamiert er in erster Linie Leichtigkeit und Wortwitz – so bei | |
der satirischen Festschrift „Unsere Siemens-Welt“ oder der O-Ton-Collage | |
„Wir Unternehmer“, die einen Wirtschaftsparteitag der CDU von 1965 zur | |
Kenntlichkeit entstellt. | |
Wie frei Delius in all dem politischen Getümmel von damals gewesen ist, das | |
könnte vermutlich eine Fragestellung für interessante Doktorarbeiten sein. | |
Der zentrale Konflikt im Wagenbach-Verlag Anfang der 70er Jahre, der zur | |
Ausgründung des Rotbuch-Verlags führte, ist auf jeden Fall etwas, das | |
Delius bis zuletzt umtrieb. | |
[5][Klaus Wagenbach], der ihn entdeckte und mit dem er sich bei den | |
Verlagsauseinandersetzungen heftig zerstritt, taucht in einigen Einträgen | |
auf. Die Vorgeschichte ist hoch aufgeladen: In den großen autobiografischen | |
Büchern Wagenbachs von 2010 und von Delius 2012 spürt man, wie verletzend | |
der Streit damals gewesen sein muss und wie stark er nachwirkte. | |
Delius warf Wagenbach vor allem vor, gewisse Sympathien für die Rote Armee | |
Fraktion um Baader und Meinhof auch im Verlagsprogramm durchgesetzt zu | |
haben, Wagenbach hingegen wandte sich gegen Delius’ Vorstellungen von einem | |
„Kollektiv“ und dessen vermeintlichen Fanatismus. | |
Es ist eine merkwürdige Pointe der Kulturgeschichte, dass die Beerdigung | |
von Delius und die offizielle Trauerfeier für Wagenbach nur zwei Tage | |
auseinanderlagen, sie waren sich nah und kamen nie mehr zueinander. Von | |
daher berührt es sehr, wie souverän Delius zuletzt über Wagenbach schreibt | |
– über den Versöhnungsversuch 1995 in einem italienischen Lokal und über | |
seinen „Respekt“ vor Wagenbachs „Lebensleistung“, der „unverbrüchlic… | |
## „bottoms“ für Yoko Ono | |
Die vielleicht schönste Anekdote, die Delius mitteilt, bezieht sich auf | |
einen Abend 1967 im kultigen Londoner „Marquee Club“. Delius und sein | |
Freund Rainer Nitsche wurden „im heftigsten psychedelischen Musiklärm“ von | |
einer jungen Japanerin angesprochen, im Keller ihre „bottoms“, also ihre | |
Hinterteile filmen zu lassen. Sie fürchteten irgendeine Art von | |
Drogen-Falle und lehnten ab. | |
Wenige Wochen später wurde eine bis dahin unbekannte Künstlerin mit ihrem | |
Kurzfilm „Bottoms“ berühmt, und es begannen die [6][Karriere von Yoko Ono] | |
und ihre [7][Liaison mit John Lennon]. Delius setzt hinzu: „Wie anders wäre | |
die Popgeschichte verlaufen, wenn der Womanizer Rainer aus Eckernförde | |
damals im Marquee nachgegeben und Frau Ono an diesem Abend Gefallen an ihm | |
gefunden hätte …“ | |
Delius beleuchtet einige Szenen aus seiner Kindheit und Jugend im | |
oberhessischen Pfarrhaus, seine Schulerfahrungen und den frühen Erfolg als | |
Dichter, die Zeit damals war dafür ideal – bereits als 19-Jähriger wurde er | |
beim legendären V. O. Stomps genauso gedruckt wie in Horst Bingels | |
Anthologie „Zeitgedichte“ und in Klaus Wagenbachs vielbeachtetem Sammelband | |
„Atelier“. Sehr schön ist aber, dass er in derselben Zeit eine Stunde lang | |
von Korbach nach Bad Wildungen „pilgerte“, wo der neun Jahre ältere Uwe | |
Johnson eine Lesung hatte, und sich da zum ersten Mal ein Buch signieren | |
ließ. | |
Daneben weist der Autor mit einigem Nachdruck darauf hin, wie früh und | |
hellsichtig er die verfehlte Agrarpolitik der EU anprangerte. Oder dass | |
gerade die undogmatischen Linksliberalen wie er im Gegensatz zum | |
herrschenden Juste milieu von Anfang an die Dissidenten im Ostblock | |
unterstützten und damit die verheerende Verfälschung des Wortes | |
„Sozialismus“ dort zu bekämpfen versuchten. | |
Delius’ raffiniert komponierte Erinnerungsfragmente eignen sich sehr gut | |
dazu, die in Vergessenheit geratene oder oft falsch rezipierte [8][Zeit der | |
60er und 70er Jahre] ins richtige Licht zu rücken. Dazu gehört auch, was er | |
in seiner hier eingefügten Selbstvorstellung in der Darmstädter Akademie | |
sagte: Er stamme „aus einer Generation, die es so gut hatte wie keine vor | |
ihr und so gut, wie es keine nach ihr haben wird, und die dies Privileg | |
verdammt schlecht genutzt hat“. Mit seinem kritischen Blick auf die | |
Verhältnisse taugt Delius durchaus als Vorbild. | |
8 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Helmut Böttiger | |
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