# taz.de -- Buch von Friedrich Christian Delius: Unter den Autoren der Stillste | |
> Intubiert, überfordert, ehrfürchtig: „Die sieben Sprachen des Schweigens�… | |
> von Friedrich Christian Delius umfasst drei autobiografische Erzählungen. | |
Bild: Übt gern die Lust am Schweigen, wenn es nicht oktroyiert ist: Friedrich … | |
Literatur ermöglicht, unter anderem, den Zugang zu besonderen individuellen | |
Erfahrungen. Eher ungewöhnlich ist freilich, wenn das erzählte Besondere | |
zum Erscheinungszeitpunkt des Textes zur quasikollektiven Erfahrung | |
geworden ist. 2008, einen Tag vor seinem 65. Geburtstag, fing sich | |
Friedrich Christian Delius ein mysteriöses Virus ein. Um Atem ringend | |
suchte er die Notaufnahme auf; wenig später musste er über zwei Wochen lang | |
dem Tode nah künstlich beatmet werden, teils im Koma, teils im Delirium. | |
In einer „Lebensanzeige oder die Stimmlosigkeit der Stimmbänder“ betitelten | |
essayistischen Erzählung berichtet der heute 78-jährige Schriftsteller nun | |
davon, wie nach einer ersten Phase der „bildlosen uhrlosen zeitlosen | |
konturlosen Bewusstlosigkeit“ sein Gehirn, vielleicht aus Langeweile, | |
irgendwann damit anfing, ihm eine bizarre Gaunerkomödie in Fortsetzungen | |
vorzugaukeln, mit Geldfälschern, russischen Mafiosi und unheimlichen | |
Pflegern im „Kleinsten Hotel der Welt“. | |
Vor allem aber erzählt er eindringlich von der Ohnmacht und Wut desjenigen, | |
der während des allmählichen Wieder-zur-Welt-Kommens feststellen muss, dass | |
ihm die Beatmungsmaschine die Stimme geraubt hat. Dass er also gleichsam | |
zum Schweigen verurteilt worden ist und das Sprechen erst mühsam wieder | |
erlernen muss. | |
## Schweiger vom Dienst | |
Damit setzt die letzte der drei autobiografischen Erzählungen, die Delius | |
unter dem schönen Titel „Die sieben Sprachen des Schweigens“ versammelt | |
hat, eine Art (selbst-)ironischen Schlusspunkt. Denn in den ersten beiden | |
Texten des Bandes pflegt der Schriftsteller das sympathische Selbstbild des | |
schüchternen „Schweigers vom Dienst“. Seit Studententagen sei ihm Schweigen | |
zum „Markenzeichen“ geworden, so Delius; auch und gerade auf Treffen von | |
Autor:innen trete er regelmäßig als „der Stillste“ auf und beschränke | |
sich aufs Zuhören. | |
Dass Selbst- und Fremdbild vielleicht auch in diesem Fall nicht | |
hundertprozentig übereinstimmen, kann man aus dem ebenfalls in diesen Tagen | |
erschienenen Buch von Helmut Böttiger über die Literatur der Siebziger | |
erfahren, zu deren [1][maßgeblichen Protagonist:innen Friedrich | |
Christian Delius] gehörte. | |
Damals habe sich der in seiner Anfangszeit als „FC Delius“ firmierende | |
Autor nämlich unter all den politischen Krawallschachteln und Querköpfen | |
jener Jahre seinem Markenzeichen zum Trotz den „Ruf des größten | |
Revoluzzers“ erarbeitet, erinnert Böttiger mit spöttischem Unterton. Doch | |
das nur nebenbei. | |
## Das Leiden am Vater | |
Wie auch immer: Wer Delius’ Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister | |
wurde“ (1994) kennt, weiß, dass sich die biografischen Ursprünge von | |
Delius’ Schweigelust in der Kindheit des Autors finden lassen, nämlich im | |
Leiden an einem autoritären, vom Krieg traumatisierten Vater, der nach | |
seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft als Dorfpfarrer den Sohn in Angst | |
und Schrecken versetzte und zum Stotterer und eben Schweiger werden ließ. | |
Gleich die erste Erzählung des Bandes, „Die Jerusalemer Krawatte“, erzählt | |
nun davon, wie der Autor kurz nach Erscheinen dieser Erzählung überraschend | |
von seinem identitätsprägenden Konflikt mit dem Vater geheilt wurde. 1994 | |
wird Delius zu einer israelisch-deutschen Schriftsteller:innentagung | |
in Jerusalem eingeladen, einem Ort, wo er sich als Deutscher und Sohn eines | |
Wehrmachtsoldaten erst recht Zurückhaltung auferlegt: „Als einfacher | |
Beobachter vor den Strudeln der Geschichte fühlte ich mich angenehm | |
überfordert und nicht kompetent für irgendwelche nützlichen Überlegungen zu | |
dieser oder jener politischen Lage und Lösung, da sagte ich lieber gar | |
nichts, ich durfte hier zuhören und schweigen –.“ | |
## Kein Friede in der Wohnung | |
Zusätzlich angeknackst ist Delius’ Selbstvertrauen zu dieser Zeit durch den | |
Umstand, dass seine Ehe gerade dabei ist, in die Brüche zu gehen, so „dass | |
es doppelt absurd und arrogant gewesen wäre, als Autor über den Frieden | |
zwischen Israelis und Palästinensern zu sprechen, solange ich nicht einmal | |
Mittel wusste, den Frieden in der eigenen Wohnung herzustellen –“. | |
Immerhin trägt er auf der Tagung eine Passage seiner | |
„Weltmeister“-Erzählung vor, nämlich wie er als Kind erstmals die | |
Geschichte von Isaaks Beinaheopferung durch seinen Vater Abraham gelesen | |
und sich dabei umgehend voller Entsetzen mit dem vom Vater getäuschten, auf | |
einen willkürlichen Befehl Gottes hin ums Haar ermordeten Sohn | |
identifiziert hat. | |
Die Reaktion des Publikums fällt so überwältigend empathisch aus, dass die | |
Lesung nicht nur zum überraschenden Triumph des „Stillsten“ führt. Sie | |
setzt auch einen berührenden Heilungsprozess in Gang. Wie in allen Texten | |
des Bandes folgt auch hier auf jeden Absatz eine Leerzeile. Diese | |
Segmentierung des Textes zwingt zu einer Verlangsamung der Lektüre und | |
lässt das behutsame sprachliche Tasten und Reflektieren des sich | |
erinnernden Autors nacherleben. | |
## Nichtgespräch mit Kertész | |
Im Mittel- und Herzstück des Bandes, der titelgebenden Erzählung „Die | |
sieben Sprachen des Schweigens“, unterstützt der formale Kniff den Eindruck | |
einer extremen Zeitdehnung, den Gegensatz zwischen äußerer, realer Zeit und | |
der erlebten des Ich-Erzählers. Der Zufall will es, dass Delius bei der | |
Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2003 in | |
Jena auf dem Weg der Teilnehmer:innen von Schillers Gartenhaus zum | |
„Schwarzen Bären“ neben dem frisch gebackenen Literaturnobelpreisträger | |
Imre Kertész geht. | |
Allenfalls zehn, fünfzehn Minuten dauert der Fußweg durch die lärmende | |
Innenstadt. Das „Nachschreiben“ des, von wenigen Sätzen abgesehen, | |
„Nichtgesprächs“ der beiden füllt hingegen 70 Seiten, die man nur mit | |
angehaltenem Atem lesen kann. | |
Der Ich-Erzähler ist dabei ebenso sehr von Ehrfurcht gegenüber dem | |
verehrten älteren und erschöpft wirkenden Kollegen und | |
Holocaust-Überlebenden erfüllt, wie er sich zur Konversation verpflichtet | |
fühlt. Aber welches Thema wäre, zumal unter diesen Umständen, geeignet? Die | |
Frage, in welcher Weise sich die Ostdeutschen für Kertész seit dem Ende der | |
DDR verändert haben, vielleicht? Oder die offenbar unersättliche | |
Faszination des Publikums für das Böse und Täterfiguren? Aber würde er | |
Kertész damit nicht prompt unabsichtlich „wieder in den KZ-Abgrund stoßen, | |
in die Opferrolle stecken“? | |
## Rasiermesser und Badezusätze | |
Spätestens als Delius die ungeheuerliche Tatsache einfällt, dass er | |
aufgrund einer Laune des Zufalls einen von Kertész’ Nazi-Peinigern, nämlich | |
den „Gestiefelten“ aus „Roman eines Schicksallosen“, in seiner Jugend | |
nichtsahnend persönlich kennenlernte, ist die mentale Blockade perfekt, | |
fällt er endgültig in einen Abgrund des Schweigens. Erst 1957 wurde der | |
ehemalige SS-Obersturmbannführer Hermann Krumey, ein enger Mitarbeiter | |
Adolf Eichmanns bei der Deportation ungarischer Juden, in Delius’ | |
Heimatstadt Korbach festgenommen, wo er bis dahin als Drogerist | |
Rasiermesser und Badezusätze verkauft hatte. | |
Für den Autor wird sein „Nichtgespräch“ mit Kertész zum Beleg dafür, wie | |
sehr das Schweigen „der Ausgangspunkt und Angelpunkt aller Sprachen“ ist, | |
wobei man für „Sprachen“ wohl ebenso „Kommunikation“ wie „Literatur�… | |
einsetzen könnte. Keine Frage: Mit „Die sieben Sprachen des Schweigens“ ist | |
Friedrich Christian Delius ein berührendes Alterswerk geglückt. | |
2 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Oliver Pfohlmann | |
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