| # taz.de -- Roman von F. C. Delius über die 68er: Weg vom Dreck | |
| > Der Schriftsteller erzählt in „Die Zukunft der Schönheit“ von einem | |
| > Free-Jazz-Erlebnis in New York und dem gesellschaftlichen Aufbruch vor | |
| > 68. | |
| Bild: New York, 1968 | |
| 1. Mai 1966, Lower East Side, New York. Ein junger Mann aus der hessischen | |
| Provinz betritt mit zwei Freunden den „Slugs’ Saloon“, eine der hipsten | |
| Jazzbars jener Zeit. Vorne auf der Bühne steht kein Geringerer als Albert | |
| Ayler – Saxofonist, Free-Jazz-Pionier, Traditionszertrümmerer. Ein Musiker, | |
| den man als Europäer nicht alle Tage zu sehen bekommt und auf dessen | |
| Auftritt die beiden Begleiter des Erzählers hingefiebert hatten. Aber er | |
| selbst, der junge Student, der erstmals in Amerika ist, fremdelt mit den | |
| Klängen, er hört „Getröte, Gezirpe, Gehämmer, Gejaule“ – was soll das… | |
| sein? Ist das überhaupt Musik? | |
| Der vom freien Jazz verstörte junge Mann ist das Alter Ego des | |
| Schriftstellers Friedrich Christian Delius. Für Delius, Autor zahlreicher | |
| Romane und Gedichtbände und einer der bedeutendsten 68er-Chronisten, ist | |
| der Konzertbesuch der Bezugspunkt für seine autobiografisch angelegte | |
| Erzählung „Die Zukunft der Schönheit“. Sein Ich-Erzähler befindet sich im | |
| Rahmen der berühmt gewordenen Princeton-Tagung 66 in New York. Im Laufe des | |
| Abends soll er nicht nur das assoziative Spiel der Free Jazzer begreifen | |
| lernen, sondern ihm erschließt sich nach und nach auch seine bisherige | |
| Biografie, sein ganzes In-der-Welt-Sein. Denn „neben dieser Vorstellung | |
| liefen auf einer zweiten Spur im Gehirn Filme an, setzten sich Bilder in | |
| Bewegung“. | |
| In diesen Gedankenströmen lässt der Erzähler die politische Geschichte | |
| sowie seine eigene Geschichte Revue passieren. Er denkt an den ermordeten | |
| John F. Kennedy zurück und an die „wechselnden Winde“, von denen dieser | |
| gesprochen hatte; er sinniert über die Schlachtfelder der damaligen | |
| Gegenwart von Vietnam bis zum Amerika-Haus in Westberlin, auf das Eier | |
| geworfen werden. Er landet mit Pauken und Trompeten gedanklich im | |
| heimischen Jugendzimmer; erinnert sich, wie er erstmals aufbegehrt und wie | |
| der hilflose Vater Kissen nach ihm wirft, ehe dieser wenige Wochen später | |
| sterben soll. Und er denkt an das Kleinstadtleben der Nachkriegszeit, als | |
| aus dem Eichmann-Stellvertreter wieder ein einfacher Drogist wird und aus | |
| dem hohen Tier im SS-Amt für Rassenhygiene der Amtsarzt des Landkreises. | |
| Angesichts all dieser Schlagworte wird die Analogie dieses Buches recht | |
| schnell klar: Der Jazz befreit sich von den kompositorischen Regeln, der | |
| Erzähler befreit sich von seinem Elternhaus, seine ganze Generation von dem | |
| Autoritarismus der Zeit. Es gelingt Delius durchweg hervorragend, diesen | |
| Prä-68er-Aufbruchsgeist der Jugend und deren Opponieren gegen das | |
| Nachkriegsschweigen in Worte zu fassen. Er skizziert etwa eine Bewegung | |
| „weg vom Vergangenheitsdreck in die Zukunft, hin zum Erfreulichen, zum | |
| amerikanischen Frühling“, denn „was war schon die Herkunft gegen die | |
| Zukunft“. Sein Erzähler grenzt sich ab „gegen Vaterdiktate, Muttergebote, | |
| Lehrernormen“. Er wird zum autonomen Subjekt („Wer ich bin, bestimme ich | |
| allein, nicht ihr – “), und er wird dies dank des Schreibens, durch das er | |
| überhaupt zu einer eigenen Sprache findet. | |
| Stark ist dieses kleine Büchlein – es hat gut 90 Seiten – auch deshalb, | |
| weil es den Free Jazz zwar sprachlich aufgreift, dabei aber nicht | |
| übertreibt. Es gibt immer mal wieder hübsche Neologismen und Wortspiele, | |
| die Sprache darf hier ähnlich viel wie der Solist auf der Bühne, aber sie | |
| wird auch wieder eingefangen vom Konstrukt der Erzählung. Hinter jedem | |
| Absatz steht sinnbildlich ein Gedankenstrich, und es gibt die thematischen | |
| Sprünge auch – aber man kann diesem Entwicklungsroman in Länge eines | |
| Free-Jazz-Konzerts gut folgen. | |
| Schließlich freut man sich, dass der Erzähler „die rauen Widersprüche“, … | |
| er in den Klängen findet, auch in sich selbst erkennt, wenn er sich gegen | |
| Ende beim „Gedanken der Milde gegenüber dem Vater, dem Werfer des Kissens“, | |
| erwischt. Da erweist sich der potenzielle Vatermörder als weitsichtig; in | |
| der Fiktion ist er aber ohnehin um einiges klüger als zum Zeitpunkt der | |
| Erzählung. Denn als Albert Ayler damals das Finale auf dem Saxofon | |
| einläutet, weiß der junge Student noch nicht, dass dies erst das | |
| Startsignal für viel größere Traditionsbrüche ist. | |
| 22 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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