# taz.de -- Brief an das eigene Baby: „Ich denke jetzt oft an Alan Kurdi“ | |
> Unser Autor schreibt einen Brief an seine neun Monate alte Tochter. Es | |
> ist ein trauriger und wütender Brief – aber ohne Hoffnung ist er nicht. | |
Bild: Ich singe Dir Kinderlieder vor, in den deutschen ist viel von Tieren die … | |
Neun Monate bist Du jetzt alt, noch geht für Dich das Leben von hier bis | |
zur Tür. Du trainierst schon fleißig aufzustehen, ich halte meine Hand vor | |
jede Möbelkante: damit Du Dir nicht weh tust, falls Du umfällst. Jeden Tag | |
tue ich so, als wäre diese Welt nicht kaputt, und jeden Tag dankst Du es | |
mir mit diesem Deinem beinah zahnlosen, herzlichen, befreiten Lachen. | |
Du stöhnst, wenn Du Dinge versuchst, die Du noch nicht beherrschst, aber | |
nicht angestrengt, sondern voller Freude; es erinnert mich daran, dass | |
Anstrengung etwas Schönes sein kann. Dass es sich lohnt, sich zu strecken. | |
Ich hoffe, Du kannst Dir das lange erhalten; dass das Gefühl von | |
Vergeblichkeit, dass mich bisweilen befällt, nicht auch Dich überwältigt. | |
Manchmal sehe ich mir Modellrechnungen an, wie die Welt in 40 Jahren | |
aussehen wird; wo ist dann noch Leben möglich? Wie hoch steigt der | |
Meeresspiegel, wo ist dann wahrscheinlich Wüste, was bedeutet es, wenn der | |
Golfstrom abbricht? | |
Ich esse Schokolade dabei. Falls Du das liest, wenn Du so alt bist wie ich | |
jetzt, wird sie sehr wahrscheinlich [1][ein Luxusgut] sein. Ich esse sie | |
nicht einmal genussvoll, ich stopfe sie in mich hinein. Es ist erbärmlich. | |
## Wir leben auf 50 Quadratmetern | |
Wenn wir beide Glück haben, wird es mich in 40 Jahren noch geben. Na ja, | |
wenn ich Glück habe. [2][Es gab einmal einen Virus,] der tötete Menschen | |
wie mich und Deine Mutter; man nannte uns Risikogruppe. Am Anfang haben sie | |
noch beschlossen, uns zu schützen, irgendwann wurde es ihnen zu viel. | |
Es war für sie bequemer, keine Maske zu tragen, als dass Du Eltern hast. | |
Kaum warst Du auf der Welt, warst Du ihnen schon egal. Es ist halt auch | |
Pech, wenn beide Eltern kaputt sind. Der Rest hat so getan, als wäre er | |
ganz, bis er merkte, dass er es nicht ist. Bei manchen dauert es länger, | |
bis die Selbstlüge sich auflöst. | |
Wie soll ich Dir das vermitteln? Ich hoffe, die Gesellschaft lässt mich alt | |
genug werden, damit ich Dir das noch nach der Pubertät auseinandersetzen | |
darf. Bis dahin machen wir es so: Wir leben auf 50 Quadratmetern, [3][die | |
Wände zerfressen] von Mäusen. | |
## Dich stört es nicht, du bist fröhlich | |
Der Investor, der das Haus gekauft hat vor bald 10 Jahren, weigert sich, es | |
instand zu halten. Neulich hat er den Hausflur streichen lassen, und zwar | |
nur den Hausflur, nicht die Aufgänge, vielleicht wird das Gebäude also bald | |
wieder veräußert. Dich stört es nicht, Du fasstest fröhlich in Mausefallen, | |
wenn man Dich ließe. | |
Seit einem Jahrzehnt folgt Krise auf Krise in immer kürzeren Abständen. Als | |
ich Teenager war, sprach man vom Ende der Geschichte, so als sei alles ins | |
Lot gekommen. Jetzt reicht ein feststeckendes Schiff im Suezkanal, und die | |
Weltwirtschaft erzittert. Und immer ist eine Krise erst dann überwunden, | |
wenn man wieder auf Vorkrisenniveau gekommen ist. Es ist, als wäre der | |
Fortschritt dazu da, die Welt in Gelee einzulegen. | |
Ich wünschte, das würde klappen, aber ich sehe es so, wie Stephan Lessenich | |
es in [4][„Nicht mehr normal“ konstatiert:] „Die alte Normalität hat Ris… | |
bekommen, sie ist brüchig geworden.“ Erstaunlich und frustrierend aber ist | |
die Unfähigkeit dieser Zeit, aus Krisen zu lernen. Es ist, als wäre die | |
gesamte Gesellschaft altersstarrsinnig. In den Rezensionen zu Lessenichs | |
Buch wird oft moniert, dass er keine Lösungen anbiete. | |
Gibt es denn Lösungen? Ich habe angefangen, Prepper zu verstehen und Leute, | |
die sich riesige SUVs kaufen. Intellektuell weiß ich, dass das keine | |
Lösungen sind, aber emotional kann ich nachvollziehen, was sie damit | |
wollen: Sie panzern sich gegen eine feindliche Welt. Wenn es einen | |
Soundtrack zu dieser Gesellschaft gibt, scheint mir, dann ist es dieses | |
Stoßgebet, das Deine Urgroßmutter immer gern zitierte: „Heiliger Sankt | |
Florian, verschone mein Haus, zünd’ andre an.“ | |
## Eine Politik, die den Tod will | |
Ich denke neuerdings oft an [5][Alan Kurdi]. Wie kann das sein, dass Alan | |
Kurdi ertrunken ist? Und wenn er ertrunken ist, wie kann es sein, dass | |
niemand dafür verantwortlich ist? Er liegt an diesem Strand, an dem heute | |
wieder Leute Urlaub machen, als würde er gleich aufstehen; und er ist tot. | |
Ein Kind, kaum älter als Du, kopfüber, als würde es Raupe spielen. | |
Auch Du liegst häufig auf diese Art, wenn Du versuchst aufzustehen. Und es | |
ist ja kein bedauerlicher Unfall; es gibt eine Politik, die diesen Tod so | |
genau will. Die Bilder dazu, die wollen sie nicht. Was ist mit all den | |
anderen Kindern, die an Außengrenzen erfrieren, die lautlos zum Grund des | |
Mittelmeers sinken? Wie kann man überhaupt noch baden darin, wenn man das | |
weiß? | |
Das ist kein Vorwurf. Ich weiß es schlicht nicht. Ich weiß, dass viele es | |
können, sonst wäre nicht Friedrich Merz CDU-Vorsitzender. Friedrich Merz | |
ist die Galionsfigur des moralischen Revanchismus, jemand, der anderen übel | |
nimmt, dass sie sind. Das gab’s doch früher nicht, sagen sie, und wenn | |
Lehrer*innen überfordert sind, suchen sie die Schuld bei den | |
Schüler*innen und nennen sie Pascha. | |
Gleichzeitig machen die Merzer sich lustig über alles, was ihre | |
Gewohnheiten auch nur tangiert. Warum muss etwas, das vegan ist, Wurst | |
heißen?, rufen sie. Ihre Gender-Witze verstopfen jede Kommentarspalte. Auch | |
sie, erfahre ich über Facebook, haben Kinder, ältere zwar, und die sich | |
nicht melden. | |
Regeln sind Makulatur. Regeln sind für die Armen, damit man sie bestrafen | |
kann. Irgendein Arschloch hat von sich behauptet, den Welthunger beenden zu | |
können, aber dann doch von dem Geld lieber Twitter gekauft, um Nazis und | |
Antisemit*innen Reichweite zu verschaffen. | |
## Auserzählte Menschen | |
Twitter, das muss ich Dir vielleicht erklären, war eine Möglichkeit des | |
Austausches, in dessen Rahmen Liberale sich selbst ihrem Zynismus geopfert | |
haben. Immerhin war das unterhaltsam, weil sie sich stets für intelligenter | |
hielten, als sie sind. Es gab tatsächlich Leute, die sich „Chefreporterin | |
Freiheit“ genannt haben, als wären sie CEO der Foundation für Recht und | |
Verfassung. | |
Sie wurden zu Fernsehdiskussionen eingeladen und haben da einen Haufen Kram | |
gesagt. Man hat oft den Niedergang der Romanliteratur zu dieser meiner Zeit | |
beklagt, aber was will man auch schreiben über solche Menschen. Sie zeigen | |
ihre Visitenkarte und sind auserzählt. | |
Ich singe Dir Kinderlieder vor; in den deutschen ist viel von Tieren die | |
Rede. Ich selbst weiß nicht mehr, wie ein Wiedehopf in freier Wildbahn | |
aussieht. Ich erschlage [6][jedes Jahr weniger Mücken], ich bin schon lange | |
nicht mehr versehentlich auf einen Grashüpfer getreten. | |
Was wird noch übrig sein von diesen Viechern, wenn Du alt genug bist, um | |
über sie zu lernen? Wir haben Meisenknödel aufgehängt auf dem Balkon diesen | |
Winter, gekommen sind nur Tauben. Wenn ich Dir von Rotkehlchen erzähle, | |
wirst Du denken, dass ich mir diese Tiere ausgedacht habe. | |
Es gibt nur eine Sache, die ich Dir ausreden wollen würde; solltest Du je | |
einen sozialen Beruf ergreifen wollen, mach es nicht. Sie saugen Dich aus | |
bis auf die Knochen und spucken Dich dann gegen die Wand. Du wirst | |
vielleicht acht, zehn oder zwölf Jahre den Eindruck haben, das Richtige zu | |
tun, wenn Du Boomern, die auf alles geschissen haben, den Arsch abwischst; | |
dann kommt der Burn-out und für Dich ist niemand mehr da. Mach das nicht. | |
## Naiv ist besser als gemein | |
Sollen sie verrecken in ihrem Dreck und sich [7][weiter über Gendersterne | |
lustig machen]; niemand wird Dir danken, ihnen geholfen zu haben. Vor allen | |
nicht die Politik. In der größten Pflegekrise seit ’45 hat [8][die SPD | |
einen Gesundheitsökonomen zum Minister] gemacht, und das ist nicht das, | |
wofür er angegriffen wird. | |
Was ich denke, ist: Es ist doch schöner, naiv zu sein statt gemein. Ich | |
denke auch, dass es Hoffnung gibt. Die Teenager, die ich kenne, sind | |
gefestigter und klüger, als ich es in ihrem Alter war; jemanden wie Greta | |
Thunberg hatten wir in unserer Generation nicht. Zumindest erinnere ich | |
mich nicht. | |
Es hat sich nicht viel geändert, es ist nur alles intensiver. Der Schmerz, | |
die Traurigkeit, aber auch das Glück. So sehr gemocht zu werden, wie Du | |
mich magst, das habe ich eigentlich gar nicht verdient. Das ist ein | |
Geschenk. Diesem Geschenk gerecht zu werden, das ist seit Deiner Geburt | |
meine Aufgabe; eine sinnvolle, eine erfüllende auch. | |
15 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
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