# taz.de -- Berliner Wahlwiederholung am Sonntag: Wenn ganz viel an ganz wenig … | |
> Die CDU dürfte die Abgeordnetenhauswahl gewinnen. Wer aber danach | |
> regiert, ist völlig offen – wenige Prozent entscheiden. Die taz gibt den | |
> Überblick. | |
Bild: Sechs Spitzenkandidaten für den einen Spitzenposten im Roten Rathaus –… | |
BERLIN taz | Wenige Tage vor der Abgeordnetenhauswahl am Sonntag scheint | |
zwar der Wahlsieg an die CDU vergeben – wer aber künftig regiert, ist | |
weiter völlig offen. Denn Chef oder Chefin einer Regierung wird nicht | |
automatisch, wer am Wahlabend vorne liegt, sondern danach im Parlament eine | |
Mehrheit hinter sich bekommt. Da mag CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner andere | |
Ansprüche erheben und von demokratischen Gepflogenheiten reden: Dieses | |
Wahlverfahren steht so in [1][Artikel 56 der Landesverfassung], und das | |
mussten auf Bundesebene schon gleich drei vorne liegende | |
Unions-Kanzlerkandidaten akzeptieren: Kiesinger 1969, Kohl 1976 und Strauß | |
1980. Die taz stellt die wahrscheinlichsten Varianten dar, die sich nach | |
der Wahl ergeben könnten. | |
26 zu 18 zu 17 – das war [2][in der Sonntag veröffentlichten Wahlumfrage] | |
die Situation der drei größten Parteien: die CDU klar vor den nah | |
beieinander liegenden Grünen und Sozialdemokraten. Das aktuelle links-grüne | |
Bündnis erreicht dabei zwar weiter eine Mehrheit der Sitze im | |
Abgeordnetenhaus. Aber die ist so gering wie noch nie. Bei der [3][Wahl im | |
September 2021], die nun [4][gemäß Verfassungsgerichtsurteil] wiederholt | |
wird, kamen SPD, Grüne und Linkspartei noch auf 54,4 Prozent. Am | |
vergangenen Sonntag waren es in einer Umfrage nur noch 47. | |
Dass das überhaupt für eine Mehrheit im Parlament reicht, hat folgenden | |
Grund: 10 bis 12 Prozent der Stimmen gehen in den jüngsten Umfragen an | |
Kleinparteien, die höchstwahrscheinlich jeweils unter 5 Prozent bleiben | |
werden. Diese 5 Prozent – auch [5][„Fünf-Prozent-Hürde“] genannt – si… | |
aber nötig, um ins Parlament zu kommen. Das soll eine Zersplitterung des | |
Parlaments wie in der Weimarer Republik verhindern. | |
## 44 Prozent der Stimmen reichen für die Mehrheit | |
Wer an dieser Hürde scheitert, dessen Stimmen fallen unter den Tisch. | |
Relevant für die Sitzverteilung im Parlament sind dann etwa in der | |
genannten Umfrage nur 88 Prozent. Für eine Mehrheit im Parlament braucht es | |
dann folglich nicht 50,1 Prozent, sondern nur knapp über 44. Genau auf so | |
viele Prozent und damit erstmals auf eine Mehrheit kommen in der Umfrage | |
CDU und Grüne zusammen, für Rot-Schwarz reicht es knapp (noch) nicht. | |
CDU-Spitzenkandidat Wegner hat damit erstmals zumindest die rechnerische | |
Chance, mit einem von ihm seit langem angestrebten schwarz-grünen Bündnis | |
erster Regierender Bürgermeister der CDU seit 2001 zu werden. Damals musste | |
sich [6][Eberhard Diepgen] nach dem Bankenskandal aus dem Roten Rathaus | |
verabschieden, wo dann Klaus Wowereit (SPD) regierte. Im Senat waren die | |
Christdemokraten seither nur einmal vertreten, von 2011 bis 2016 als | |
Juniorpartner der SPD. Dass sie direkt vor einer Berlin-Wahl die Umfragen | |
anführen, passierte bis jetzt nie wieder. | |
[7][An Schwarz-Grün bastelt Wegner seit Langem] und ist mit | |
Grünen-Fraktionschef Werner Graf im Gespräch. „Werner und ich sprechen | |
nicht nur über Hertha“, sagte Fußballfan Wegner [8][im taz-Interview]. Von | |
grüner Seite heißt es dazu oft, Wegner suche diese Zusammenarbeit nicht aus | |
Überzeugung, sondern allein aus strategischen Gründen, um nicht auf die SPD | |
als Koalitionspartner angewiesen zu sein. Inhaltlich sei Wegner | |
inkompatibel. | |
Der aber hat schon manches Mal überrascht. 2015 etwa war es nicht die stets | |
als weit liberaler eingestufte prominente Kulturstaatsministerin Monika | |
Grütters, die eine Foto-Aktion der Berliner CDU zur „Ehe für alle“ | |
anführte, sondern Wegner als Generalsekretär des Landesverbands. Und die | |
Grünen beschweren sich seit Langem über eine angebliche „Uns gehört die | |
Stadt“-Haltung der SPD, die seit 2001 alle Senate angeführt hat. | |
## Bleibt die SPD stärkste Kraft im linken Lager? | |
Die [9][aktuelle Regierungschefin Franziska Giffey (SPD)] wird sich nur im | |
Amt halten können, wenn der aktuelle Trend zugunsten der CDU bis Sonntag | |
knapp vor dem Verlust der rot-grün-roten Mehrheit stoppt – und ihre SPD | |
stärkste Kraft im linken Lager bleibt. Fällt sie hinter die Grünen zurück, | |
wird Giffeys Zeit als SPD-Landeschefin mutmaßlich am Sonntagabend vorüber | |
sein. Mit Grünen und FDP als drittem Partner anstelle der Linkspartei zu | |
koalieren und ein Ampelbündnis wie auf Bundesebene zu bilden dürfte allein | |
schon wegen einer fehlenden Mehrheit nicht anstehen: Die FDP kämpft mit der | |
oben erwähnten 5-Prozent-Hürde, weit weg von der Linkspartei, die konstant | |
bei 11 bis 12 Prozent liegt. | |
Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch hat ebenfalls nur eine Option, ins | |
Rote Rathaus zu kommen, nämlich Grün-Rot-Rot. Die Chance dazu ist weiter da | |
und aktuell ähnlich groß wie die, dass Giffey Regierungschefin bleibt. | |
Landen die Grünen erneut hinter der SPD und verfehlen damit wiederum ihr | |
Wahlziel, bleibt abzuwarten, was das für Jarasch heißt. „Ich werde diese | |
zweite Chance nutzen“, [10][versprach sie in der taz], als sich im Herbst | |
die Wahlwiederholung deutlich abzeichnete. | |
Innerhalb des Grünen-Landesverbands hat die lange als Reala eingestufte | |
Jarasch, als praktizierende Katholikin und langjährige Vorsitzende des | |
[11][Pfarrgemeinderats von St. Marien-Liebfrauen] dort ohnehin eine Exotin, | |
keine Hausmacht. Wenn der dominierende linke Flügel meint, sie nicht mehr | |
zu benötigen, könnte ihr Posten als Verkehrssenatorin auch bei einer | |
fortgesetzten rot-grün-roten Koalition in Frage stehen. Dass Dankbarkeit | |
für langjährige Kärrnerarbeit keine Kategorie bei den Grünen ist, erfuhr | |
Jarasch schon, als sie sich nach fünf Jahren als Landesvorsitzende 2017 | |
[12][vergeblich um die Berliner Bundestagsspitzenkandidatur bewarb]. | |
Kai Wegner mag zwar auch darauf hoffen, die mit der SPD unzufriedenen | |
Grünen aus einem möglichen, aber absehbar weiter – [13][etwa über | |
Enteignung] – streitenden Dreierbündnis in eine schwarz-grüne Koalition zu | |
ziehen. Ein Argument dafür: Darin gäbe es deutlich mehr Senatsposten für | |
die Grünen als im bisherigen Bündnis. Aber zumindest gegen Ende des | |
Wahlkampfs schienen die Positionen so verhärtet, dass sich die Grünen kaum | |
ohne Not der CDU annähern dürften. | |
Für die SPD gilt das nur mit Abstrichen. Kleiner Partner unter den dann | |
triumphierenden Grünen, weiter mit der Linkspartei? Da könnte ein | |
Zweierbündnis mit der CDU lukrativer erscheinen. Umso mehr, als die SPD | |
zumindest in bisheriger Besetzung im Senat an vielen Stellen nicht weit weg | |
von der CDU ist. Eine Innensenatorin, die eine [14][Polizeiwache am | |
Kottbusser Tor] einrichten lässt, sich wann immer möglich schützend vor die | |
Polizei stellt und gegen den Willen der Linkspartei Bodycams in Massen | |
kaufen will, kann die CDU kaum überbieten. | |
Gleiches gilt für die Bereiche Wohnungsbau und teilweise im Verkehr. Auch | |
die SPD lehnt die von den Grünen angestrebte Parkplatzhalbierung und ein | |
hartes Zurückdrängen des Autos ab. Allein beim von der CDU unterstützten | |
Weiterbau der A 100 tun sich Gräben auf: Giffey gilt da zwar als offen, | |
aber sie würde bei einer SPD-Juniorpartnerschaft keine Rolle mehr spielen – | |
eine Ministerpräsidentin als einfache Ministerin im nächsten Kabinett ist | |
nicht vorstellbar. Der SPD-Landesverband hingegen hat einen A100-Weiterbau | |
über die Spree hinaus im Sommer 2022 [15][bei einem Parteitag abgelehnt]. | |
Kurzum: Sehr viel hängt an sehr wenigen Prozentpunkten. Setzt sich der | |
aktuelle Trend fort und vergeht die noch bestehende rot-grün-rote Mehrheit, | |
bekommt Berlin seinen ersten CDU-Regierungschef seit 22 Jahren. Wenn nicht, | |
hängt es vom jeweils Zweitplatzierten im linken Drei-Parteien-Lager ab, als | |
Juniorpartner Giffey oder Jarasch zur Chefin zu machen – oder lieber in | |
einer überschaubareren Zweierkoalition Wegner zu stützen. | |
10 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.berlin.de/rbmskzl/regierende-buergermeisterin/verfassung/artike… | |
[2] https://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/berlin.htm | |
[3] https://wahlen-berlin.de/Historie/wahldatenbank/Tabellen/2021agh2p.asp | |
[4] https://www.berlin.de/gerichte/sonstige-gerichte/verfassungsgerichtshof/pre… | |
[5] https://www.bundestag.de/services/glossar/glossar/F/fuenfprozenthuerde-8570… | |
[6] /Montagsinterview-mit-Berlins-Ex-Buergermeister-Eberhard-Diepgen-CDU/!51310… | |
[7] /Wahlen-in-Berlin/!5911077 | |
[8] /Kai-Wegner-CDU-zur-Wahlwiederholung/!5911539 | |
[9] /Letzte-Parlamentssitzung-vor-der-Wahl/!5911142 | |
[10] /Bettina-Jarasch-zum-Klima-Volksentscheid/!5910708 | |
[11] https://www.bernhard-lichtenberg.berlin/st-marien-liebfrauen | |
[12] /Gruene-kueren-Spitzenkandidatin/!5392194 | |
[13] /Debatte-um-Giffey-und-DW-Enteignen/!5906340 | |
[14] /Drogenszene-am-Kottbusser-Tor/!5907956 | |
[15] /Streit-um-A-100-in-Berlin/!5861933 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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