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# taz.de -- Von Schweinen und Menschen: Du bist, was frisst, was du isst
> Das Havelländer Apfelschwein lebt von Apfelresten. Längst ist der Name
> zur Marke geworden. Doch die Zeiten sind nicht gut für edle Schweine.
Bild: Die Havelländer Apfelschweine haben erfreulich viel Auslauf
Katerbow taz | Wer das Apfelschwein besucht, den schickt das Navi hinterm
Autobahnkreuz Havelland eine Ausfahrt runter, nach einer scharfen
Linkskurve geht es schnurgerade durch den Wald, auf einer Straße aus zwei
schmalen Teerbahnen mit einer Lücke dazwischen, ausgewiesen „ohne
Winterdienst“. Bitte nur 50 fahren. Ostprignitz Highway.
Am Straßenende liegt die [1][Farm Katerbow], eine ehemalige LPG, grau,
pragmatisch, charmant. Den Eingang markiert ein Bungalow, an die Tür tritt
ein Rheinländer im grünen Overall. Mit seinem zurückfallenden grauen Haar
und der runden Brille wirkt der Mann wie ein Intendant, nicht wie ein
Schweinebauer. Doch Winfried Koch hat das Havelländer Apfelschwein
erfunden.
„Havelländer Apfelschwein“. Der Wechsel von betonten und unbetonten Silben,
offene Vokale von A bis Ä, und das „-schwein“, das sie zum Ende schließt,
machen den Namen so ungemein wohlklingend. Und so prangt das „Havelländer
Apfelschwein“ seit 2009 auf den Menüs von Orten, an denen die Kundschaft
gutes und nachhaltiges Essen schätzt, von Sarah Wiener bis zum japanese
influenced brunch café in Berlin-Mitte, vom Grand Hyatt übers Curry 36 bis
zur taz Kantine. Das Apfelschwein ist das Kobe-Rind von Berlin.
„Das Havelländer Apfelschwein ist eine Erfolgsgeschichte“, sagt Winfried
Koch. Er ist stolz auf alles, was seine Schweine von herkömmlichen
Schweinen unterscheidet. Aber er sagt auch: „Seit diesem Jahr ist es keine
Erfolgsgeschichte mehr.“
Bevor wir dazu kommen, räumen wir mit einem Missverständnis auf: Das
Apfelschwein isst keine Äpfel. Zumindest nicht im engeren Sinn. Das
Apfelschwein frisst Futter mit Apfeltrester, der Masse, die nach dem
Pressen von Apfelsaft bleibt.
Ohne den Apfeltrester kein Apfelschwein. Mitte der 2000er war Winfried Koch
noch selbstständiger Produktentwickler. Als solcher sollte er etwas
Sinnvolles mit Apfeltrester anstellen, der voll ist von Ballaststoffen mit
ein wenig Pektin – laut Koch „gut für die Darmflora“. Ursprünglich woll…
er den Trester an Menschen verfüttern, aber er experimentierte auch mit
Schweinen, Ergebnis: gutes Futter, aber nicht wirtschaftlich. Dennoch
entschied sich Koch bald, auf einem Hof nahe der Havelquelle seine eigenen
Tiere mit Apfeltrester zu füttern. Denn die Schweine aus dem Experiment
schmeckten zu gut.
Der Name entstand bei einer Autofahrt mit einem Kollegen. Seit 2009 ist das
„Havelländer Apfelschwein“ als Patent eingetragen. Du bist, was frisst, was
du isst.
Im Jahr 2013 übernahm die Bio Company den Hof, Winfried Koch zog um nach
Katerbow. Im Havelland liegt das nur noch nach sehr großzügiger
Grenzziehung. Aber die Haltung sei die gleiche, sagt Koch, er will zeigen,
was seine Schweine von quasi allen anderen unterscheidet, und führt in
Richtung Schweinestall. Raus aus dem Bungalow geht der Weg an einem
Außengehege vorbei, groß wie ein schmal geratener Tennisplatz. Drei
Schweine hüpfen weg. Eine Schrecksekunde später laufen sie zu uns, zum
Gitter. „Wenn Sie mal auf einem anderen Hof sind, sehen Sie: Die Schweine
rennen vor Ihnen davon“, sagt Koch. „Meine aber sind neugierig, wollen
einen kennenlernen.“
Dutzende Tiere laufen nun raus ins Gehege – es ist zum Stall hin offen, wie
in einem Bad, wo man von drinnen nach draußen schwimmen kann. Sie drängen
ans Gitter, springen auf ihre Kumpanen, um besser zu sehen. Koch: „Das ist
der Unterschied: Andere müssen die Schweine vor sich hertreiben, ich kann
sie einfach rufen. Selbst an der Schlachtbank.“
## Ab hundert herrscht Anarchie
Im Stall grunzen und tollen über 400 rosa Schweine in mehreren Buchten, von
denen einige größer sind als eine Gründerzeitwohnung. Alle Buchten sind
offen.
In gewöhnlicher Mast teilt sich ein Dutzend Schweine eine Bucht, denn bei
größeren Gruppen kommt es schnell zu Rangeleien. In Katerbow aber: keine
Parzellen, keine vorgegebenen Essenszeiten, kein Kastenstand. Für Koch ist
es das Ergebnis einer sozialen Feldstudie, und zu der liefert er eine
Gesellschaftstheorie: „In Gruppen bis etwa achtzig Tiere bilden sich
Hierarchien, das führt zum Bandenkrieg. Aber ab hundert herrscht Anarchie.“
„Und Anarchie ist wünschenswert?“
„Ja.“
Eine schwarz glänzende Ratte rennt am Gitter entlang, Koch ruft: „Das ist
Natur!“ Ihren Rhythmus würden die Schweine selbst entwickeln: wühlen,
suhlen, fressen, wann sie wollen. Nach Lust und Schweinelaune mit anderen
abhängen oder chillen. Im Ergebnis gebe es leckeres, kerniges Fett, wie
„Marzipan“, sagt Koch. Und eben kein „auf hundert Kilo hochgezüchtetes
Wassertier“.
Das ging lange Zeit sehr gut, da war das „Havelländer“ in den Restaurants
meist aus gewesen, erzählt Koch. Seit Beginn kommt das Apfelschwein
ausschließlich in Berlin auf den Teller und an die Theke: 100 Gramm Salami
für 3,65 Euro. Im Monat sind es gut hundert Schweine, so ist in Berlin nur
etwa jedes zweitausendste Schwein aus Katerbow. Der Begriff „Echt
Havelländer“ ist trotzdem zur Marke geworden.
In [2][Zeiten von Inflation] und Multikrise aber würden die Leute zuerst
beim Apfelschwein sparen, sagt Koch. Es laufe schlecht. Koch teilt aus in
alle Richtungen und setzt in jede doch ein bisschen Hoffnung: In
Discounter-Deutschland solle Essen zwar ein Erlebnis sein, dabei aber
lieber billig als gut.
Gleichzeitig meint Koch: „Der Verbraucher ist noch immer auf der Suche nach
sich selbst.“ Die Agrargesetzgebung wiederum ziele komplett auf
Massentierhaltung; demnach würde die Farm Katerbow „alles falsch machen,
was man falsch machen kann“. Doch das Veterinäramt erkenne, dass es den
Schweinen gut geht. Koch sieht seine Farm als Vorbild für die Zeit nach dem
Kastenstand, irgendwann ab 2030.
Das Apfelschwein soll eine Alternative bieten zur industriellen
Schweineproduktion und pikst dabei in deren historisches Zentrum. Denn ohne
Schwein wäre Berlin nicht Berlin.
„Das Schweinefleisch ist auf Berlin zugeschnitten“, schreibt der
Kulturwissenschaftler Christian Kassung in seinem Buch „Fleisch“. Da
zeichnet er nach, wie neben der Dampfmaschine eben das Schweinefleisch
Berlin erst zur Stadt machte, nach Jahrhunderten, in denen das Schwein
kulinarisch kaum eine Rolle gespielt hat. 1883 wurde in Friedrichshain der
Centralvieh- und Schlachthof fertiggestellt, mit direkter Anbindung an die
ebenso neue Ringbahn, über die Schweine aus Vorpommern anrollten, 1904
erstmals über eine Million.
Das Schwein ließ sich einfacher auf die neuen Bedürfnisse zuschneiden als
das Rind, das hieß konkret: mehr Fett. Der Energieerhaltungssatz war um die
Jahrhundertwende noch recht jung und prägte das Denken. Für hohe Leistung
bräuchten die Berliner Arbeitenden möglichst viel Brennwert, und am meisten
davon ist nun mal im Speck. Kassung analysiert: „Nur wenn Fleisch zu einem
Preis angeboten wurde, der es für den Arbeiter gerade noch erschwinglich
machte, konnte dieser die für seine Tätigkeit notwendige Energie
aufbringen.“
Schwein war der Energy-Ball der Arbeitenden – mageres Muskelfleisch fand
erst später Fans, als „agiles, beschleunigendes, geradezu nervöses
Nahrungsmittel“ der Städterinnen und deren „Denkfreudigkeit“.
Mit dem Apfelschwein setzt Winfried Koch weder auf Brennwert noch auf
Denkanregung, sondern auf den Genuss möglichst autonomer Lebewesen. Das
taugte jahrelang als Distinktionsmerkmal von gehobener Gastronomie bis zur
Currywurstbude. Aber Lifestyle allein zieht nicht mehr, jetzt ist Koch
darauf angewiesen, dass seine Alternative zur konventionellen Haltung
politisch gewollt ist. Winfried Koch verabschiedet sich und entschuldigt
sich für die knappe Zeit, er muss nach Berlin.
Der Autor fährt bald auch dorthin, legt aber auf halber Strecke einen Stopp
ein, kauft beim Katerbow-Metzger eine Scheibe Apfelschweinebraten und
verputzt sie noch im Auto. Die Fasern sind fest. Am Steuer lutscht er die
kernige Schwarte.
29 Jan 2023
## LINKS
[1] https://www.farm-katerbow.de/havellaender-apfelschwein
[2] /Inflation/!t5009102
## AUTOREN
Fabian Stark
## TAGS
Genuss
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Schwerpunkt Klimawandel
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