| # taz.de -- Endlager in Finnland: Atommüll, ja bitte | |
| > Auf der westfinnischen Insel Olkiluoto wird das weltweit erste Endlager | |
| > für hochradioaktiven Müll gebaut. Ein Ortsbesuch. | |
| Bild: Im Tunnel von Onkalo, etwa 420 Meter unter der Erde | |
| Bevor Johanna Hansen singt, öffnet sie mit einer schnellen Bewegung den | |
| Kragen ihrer Schutzjacke. Sie hat etwas über Sickerwasser erzählt und | |
| Bentonit, über die Gesteinsart Gneis und Vorrichtungen, die zylindrische | |
| Container heben und senken. Es ist längst nicht so kalt wie gedacht und der | |
| feste, leuchtend gelbe Parka würde sie am Hals stören. Johanna Hansen, | |
| Geologin, seit 1997 bei der Firma angestellt, die [1][in Finnland ein | |
| Endlager für hochradioaktiven Atommüll baut], singt: Kann Perfektion in | |
| irgendeiner Form existieren? / Natürlich unter anderem in Olkiluoto / | |
| Nichts ist so weise wie ein Ingenieur / perfekt sind jeder Nippel und jedes | |
| Rohr. | |
| Ringsherum ist alles Ingenieur*innenkunst, geologische Berechnung, | |
| Sicherheitsbau. Hansens Stimme hallt von unverputzten Wänden. In den hohen | |
| Raum wird bald ein komplizierter Aufzug eingebaut, Roboter sollen hier | |
| arbeiten. Dann wird Hansen seltener herkommen. Aber noch öffnet sich ein | |
| eckiger Schacht zu einer Rampe aus Kies, provisorische Gitter schützen vor | |
| groben Stürzen, weiter vorn fahren Lastwagen durch Pfützen und Schlamm. | |
| Fahles Arbeitslicht hüllt alles in unwirklichen Glanz. Wir stehen in einem | |
| Tunnelstumpf, fast 440 Meter unter einer westfinnischen Insel, eine Etage | |
| über der Talsohle von Onkalo – dem ersten Endlager für hochradioaktiven | |
| Atommüll auf der Welt. | |
| Auch deshalb ist das Lied eine kuriose Wahl, 1980 erschienen, eine | |
| Persiflage auf Ingenieursgläubigkeit und die beschwichtigende Litanei, die | |
| sich in Finnland immer etwa so anhört: Wenn unsere Experten das sagen, | |
| stimmt das so. Unklar, ob Johanna Hansen, deren Arbeitgeber Posiva OY die | |
| Tunnel auf der Insel Olkiluoto in den Fels gräbt, die Ironie der Band | |
| EppuNormaali mitmeint. Oder ob sie mit der Zeit und auf dem Weg hinab | |
| verloren ging. | |
| Eineinhalb Stunden zuvor hat Pasi Tuohimaa, blaues Hemd, graues Sakko, | |
| weiße Schläfen, in einem holzvertäfelten Konferenzraum auf Fernbedienungen | |
| gedrückt: Animationsfilme, Zahlen, Bilder, auf denen Sonne durch grüne | |
| Wälder scheint. Tuohimaa ist der Pressechef von Posiva OY, er erklärt | |
| geduldig, dass der Firmenname keinen Ursprung in der finnischen Sprache, | |
| sondern in all dem Positiven hat, das das Unternehmen anstellt. | |
| Zwischendurch klingelt sein Telefon. „Oh, das Repair Desk“, sagt er, „die | |
| versuchen es schon zum fünften Mal.“ Müssen wir uns Sorgen machen? Immerhin | |
| sitzen wir in Sichtweite der beiden Kernreaktoren von Olkiluoto. Der dritte | |
| sollte endlich angeschlossen werden, etwa vierzehn Jahre zu spät, die | |
| Baukosten für die Anlage liegen mittlerweile bei 11 Milliarden Euro. Am | |
| Eingang steht schon „We did it“ in großen Lettern – aber sie mussten die | |
| Anlage wieder herunterfahren, fragen sich jetzt, wieso alle vier | |
| Wasserpumpen Risse haben. | |
| Dann aber sagt Tuohimaa mit brennender Überzeugung Sätze, die gar nicht zu | |
| all dem Aufwand passen: „Wenn Sie alles vergessen, was ich Ihnen heute | |
| erzählt habe, ist das nicht schlimm. Solange Sie nur eines erinnern: Wir | |
| haben die Lösung.“ Er wird sie haargenau so noch zweimal wiederholen. | |
| ## Bis 2120 soll das Endlager gefüllt werden | |
| Die Lösung [2][heißt Onkalo], übersetzt „kleine Höhle“: Ein bis in 455 | |
| Meter Tiefe gegrabenes geologisches Endlager, vertikale Schächte für | |
| Personal, für Atommüll in Kapseln und zwei zur Belüftung. Außerdem ein fast | |
| fünf Meter hoher Zufahrtstunnel, der sich ausholend in den Fels schraubt. | |
| Von den Schächten gehen Stollen ab, greifen wie Fischgräten ins Gestein. | |
| Fünf sind bereits fertig. Auf den Boden haben Geolog*innen etwa alle 10 | |
| Meter ein leuchtend pinkfarbenes Kreuz gesprüht: Hier sollen senkrechte | |
| Löcher gebohrt werden, Roboter werden Kapseln mit abgeklungenen Brennstäben | |
| in dem Boden deponieren. Immer 30 Kapseln pro Stollen. | |
| Wie die Kapseln aussehen, zeigt ein kleines Museum im Besucherzentrum: | |
| Kanister aus Borstahl und Kugelgrafit werden in ein fünf Zentimeter dickes | |
| Kupferrohr geschoben. Aber erst, nachdem die Kernbrennelemente vorn an der | |
| Bucht vierzig Jahre lang in Abklingbecken so weit heruntergekühlt wurden, | |
| dass die Behälter dann nur noch etwa 90 Grad Celsius abgeben. Für Finnland | |
| ist das eine gute Orientierung: Ungefähr der Mittelwert der | |
| Saunatemperatur. | |
| Bis ins Jahr 2120 soll Onkalo Brennstäbe aufnehmen, das errechnet sich | |
| durch die Laufzeiten der Reaktoren und das 1994 verabschiedete | |
| Nuklearenergiegesetz. „Um die Nutzung der Kernenergie im Einklang mit dem | |
| gesamtgesellschaftlichen Wohl zu halten“ fängt der Gesetzestext feierlich | |
| an und legt unter anderem fest, dass abgebranntes Uran weder exportiert | |
| noch eingeführt werden darf. Etwa 3,5 Milliarden Euro wird Onkalo kosten, | |
| bis es voll ist. | |
| ## Das Kraftwerk nebenan | |
| Die Idee ist in der Region und überhaupt in Finnland ziemlich gut gelitten. | |
| Die Ortsauswahl dauerte nicht viel länger als ein durchschnittliches | |
| Genehmigungsverfahren für Windräder in Deutschland. Entscheidend dafür war | |
| die Stimmung in der Bevölkerung. Hier, in der Gemeinde Eurajoki, waren | |
| besonders viele Anwohner*innen von dem Projekt überzeugt. Das liegt | |
| auch daran, dass ihnen Atomkraft vertraut ist. Seit Ende der 1970er Jahre | |
| gibt es hier ein Atomkraftwerk, etwa 20 Millionen Euro Gewerbesteuern im | |
| Jahr fördern die Beliebtheit. Und Pragmatismus spielt mit hinein: So heikle | |
| Fracht durchs Land zu karren, schien vielen unnötig. | |
| Politisch gab es keinen Widerstand. In der Region hält die | |
| agrarisch-konservative Zentrumspartei die Zügel fest in der Hand, gemeinsam | |
| mit den Sozialdemokraten waren sie immer für Atomkraft. Bei der jährlichen | |
| Umfrage des Wirtschaftsverbands der finnischen Energieindustrie wurden | |
| eintausend Finninn*en befragt, in welche Richtung die Energieerzeugung | |
| entwickelt werden sollte. Das Ergebnis: 27 halten den Stand der | |
| Nuklearenergie für angemessen, 65 Prozent wollen sie weiter ausbauen. Die | |
| Grünen, die auf nationaler Ebene zweimal eine Regierungskoalition | |
| verließen, weil sie mehr Atomenergie ablehnten, bekamen bei der letzten | |
| Kommunalwahl in Eurajoki 1,4 Prozent. Exakt 58 Stimmen. Atomkraft ist der | |
| wichtigste Energieträger in Finnland, mehr als 30 Prozent des Strommixes | |
| werden so produziert. | |
| Jetzt aber hinab mit Johanna Hansen, sie kann viel über den großen Vorteil | |
| Finnlands erklären. Genau genommen über die Svekofenniden, eine tektonische | |
| Einheit, die weite Teile von Finnland und Schweden umfasst, etwa 1,8 | |
| Milliarden Jahre alt. Hansen zählt auf; Glimmerschiefer, Arkosite, hat die | |
| Hand auf den schwarz glänzenden Fels gelegt, durch den sich helle Adern | |
| ziehen. Die größte zusammenhängende Fläche von magmatischem Gestein in | |
| Europa. Nirgendwo ist der Zugang zum Grundgebirge leichter. | |
| Allerdings ist es nasses Gestein, und es hat Risse. Hansen zeigt auf | |
| Stellen in der Wand, pro Minute drückt bis zu 5 Milliliter Wasser hindurch. | |
| Ein Dilemma: Weiter oben könnte eine neue Eiszeit gefährlich werden, der | |
| Permafrostboden reichte bis in 170 Meter Tiefe. Hätten sie tiefer gegraben, | |
| wären sie in durchlässigere Schichten geraten. Hier könne man das Wasser | |
| einbinden: Das Tongestein Bentonit soll Bohrlöcher und Stollen abdichten. | |
| Es quillt mit Wasser auf. | |
| ## Kritik von Geolog*innen | |
| Nicht nur deshalb gibt es Kritik. Die letzte Eiszeit türmte zwei Kilometer | |
| Gletscher über dem Land auf, noch immer hebt es sich aus dem Wasser. | |
| Geologen warnen, was das für die Risse bedeute, könne niemand genau | |
| beantworten. Außerdem, Verklappung sei konzeptionell überholt, Atommüll | |
| müsse kontinuierlich überwacht werden, dürfe nicht einfach nur eingraben | |
| werden. Onkalo ist auf 100.000 Jahre angelegt. Das ist so weit entfernt, | |
| dass sie die Kanister nicht einmal beschriften, niemand kann sagen, mit | |
| welchen Zeichen Menschen dann Gefahren assoziieren. | |
| Ach nein, sagt Pasi Tuohimaa, wie schade: Die Stelle, an der Rafael Grossi | |
| im Herbst stand, ist von Baumaschinen blockiert. Grossi, Direktor der | |
| Atomenergiebehörde IAEA, hatte dort gesagt: „Onkalo ist ein Game Changer.“ | |
| Und: „Alle wussten von der Idee eines geologischen Endlagers für | |
| hochradioaktiven Atommüll, aber Finnland hat sie umgesetzt.“ Damit wedelt | |
| Tuohimaa Einwände weg, ja, ja, die Deutschen und die Österreicher, sagt er, | |
| seien bekanntlich gegen alles. „Wir forschen seit 40 Jahren und haben die | |
| Dinge berechnet.“ | |
| Johanna Hansen hat eine schöne Stimme. Sie singt: Uran zerfällt, erzeugt | |
| weißes Lampenlicht / aber in keinem anderen Land ist das so risikofrei wie | |
| in Finnland.Das Lied heißt „Das Finnland-Syndrom“. | |
| 15 Jan 2023 | |
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| Lennart Laberenz | |
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