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# taz.de -- Weihnachtsmarkt im Gefängnis: Flaschenöffner in Handschellenform
> Deutschlands älteste Justizvollzugsanstalt lädt zum Weihnachtsmarkt nach
> Celle. Gleichzeitig feiert sie 301 Jahre Seelsorge hinter Gittern.
Bild: Weihnachtsstimmung? Geht auch hinter Gefängnismauern
Nein, [1][Sträflinge] stehen keine am Würstchengrill oder dem
Glühwein-Ausschank. Sie verkaufen auch keine hölzernen Vogelhäuschen,
Feuertonnen oder Edelstahl-Flaschenöffner in Handschellenform ([2][4,99
Euro das Stück]). Aber Menschen in Justizvollzugsdienstkleidung sind
auffällig viele zugange an diesem dritten Adventswochenende.
Nach zwei coronabedingten Jahren ohne hält die Justizvollzugsanstalt im
niedersächsischen Celle wieder ihren Weihnachtsmarkt ab. Und weil im
Vorjahr ein ganz besonderes Jubiläum ebenfalls unter die Räder der
Pandemiebekämpung gekommen war, wird es gleich mit nachgeholt.
Ein „sehr schönes Gebäude“ sei es, [3][schreibt im Internet ein Nutzer] d…
Reisenden-Plattform Tripadvisor, „welches von vielen Touristen beim Besuch
von Celle fälschlich für [4][das Schloss] gehalten wird“. Von der richtigen
Seite aus gesehen, wirkt Niedersachsens lange Zeit als sicherstes geltendes
Gefängnis ein wenig wie eine Theaterkulisse, oder als hätte sich Fürst
Potemkin hier verwirklicht. Die schmuck-repräsentative Architektur ließ ab
1710 der herzogliche Oberbaumeister [5][Johann Caspar Borchmann] errichten,
„im französischen Schlossbaustil“, so informiert eine Plakette am
historischen Torhaus.
## Kirche hinter Gittern
Hinter Putz und Schnörkeln aber zeigt sich dann doch hie und da der Beton
und der Stacheldraht, den man erwarten würde, wo männliche Erwachsene
langjährige Freiheitsstrafen absitzen, also fünf Jahre bis lebenslang.
Beinahe von Anfang an gab es in Celle eine Anstaltskirche. Im Juni 1721
wurde sie geweiht, und das hätte eigentlich im vergangenen Jahr gefeiert
werden sollen: 300 Jahre Kirche hinter Gittern, das hat der amtierende
Gefängnisseelsorger Jan Postel [6][gesagt], „stehen für einen Freiheitsraum
inmitten der Mauern, den Gottes Liebe und Vergebung ermöglichen“. Um einen
Brückenschlag sollte es gehen zwischen denen drinnen und denen draußen –
und eine Form des Feierns sollte gefunden werden, von der beide Seiten auch
etwas haben sollten.
Die Anstaltsleitung und das Celler Kunstmuseum beauftragten den
Berliner/Weilheimer [7][Lichtkünstler Philipp Geist] mit einer
Lichtinstallation, der auch am [8][Celler „Lichtkunstbahnhof“] beteiligt
ist. Geist brachte die Idee ins Spiel, Schulkinder mitmachen zu lassen.
Sechs Elftklässler*innen eines Celler Gymnasiums trafen sich mit dem
Künstler und dem Gefängnispastor, aber auch mehreren Gefangenen und
diskutierten über ein denkbar großes Thema: Die Freiheit und deren –
gefühlte – Abwesenheit waren in Zeiten der Pandemie ja außerhalb der
Anstaltsmauern eine sehr aufgeladene Sache.
Mit Einbruch der Dunkelheit – dieser Tage also schon am Nachmittag – war
nun zwei Mal jeweils für ein paar Stunden zu sehen und zu hören, was Geist
aus dem Input der Jugendlichen und der Inhaftierten gemacht hat: Vom
Torhaus aus projiziert er eine Videoinstallation auf die schlossartige
Fassade des alten Anstaltsteils: Sterne und pixelige Schneeflocken, dann
wieder Farbklecksartiges, das sich in Feuerwerksexplosionen verwandelt oder
doch gerade umgekehrt? An Gebatiktes Erinnerndes, vergrößerte
Fingerabdrücke, ein hochkant stehendes Rechteck, darin ein weißes Kreuz auf
blauem Grund – ist das nicht die schottische Fahne? Immer wieder sind auch
Worte zu lesen, „Grenzenlosigkeit“ könnte ein Kind geschrieben haben,
„Freiheit“ sieht dagegen aus wie gedruckt.
## Dissonante Tonspur
Dazu erklingt eine Tonspur: Aus flächigem, auch mal dissonantem Klang
schälen sich Worte heraus, Menschen erzählen, was für sie Freiheit
bedeutet: „keine Angst vor der Zukunft zu haben“, zum Beispiel; „mit mein…
Familie zusammen zu sein“ – aber auch, „dass jeder Mensch an jedem Ort der
Welt leben kann“. Irgendwann singt eine Mädchenstimme „Die Gedanken sind
frei“, und eine andere „Über den Wolken …“.
Und nochmal später, merkwürdig dissonant, als würde sie überlagert von
etwas ganz anderem, erklingt eine Coverversion von „Wind of Change“ von den
Scorpions. Nach Hannover ist es ja auch gar nicht weit, von Celle aus.
20 Dec 2022
## LINKS
[1] /Gefangene/!t5014132
[2] https://jva-shop.de/JVA-Celle/flaschenoffner-handschelle.html
[3] https://www.tripadvisor.de/Attraction_Review-g198426-d10490007-Reviews-Just…
[4] https://www.celle.de/index.php?&object=tx%2C2727.308&ModID=7&FI…
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Caspar_Borchmann
[6] https://www.kirche-celle.de/news/veranstaltungen/event77
[7] http://www.videogeist.de/start.html
[8] https://kunst.celle.de/Lichtkunstbahnhof/
## AUTOREN
Alexander Diehl
## TAGS
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