| # taz.de -- Expertin zu Russland-Sanktionen: „Sie beenden den Krieg nicht“ | |
| > Russland ist ein sehr schwieriges Sanktionsziel, sagt die Forscherin | |
| > Julia Grauvogel. Maßnahmen wie ein Preisdeckel für russisches Öl seien | |
| > dennoch nicht zu unterschätzen. | |
| Bild: Alltag im Krieg: Ältere Frauen verkaufen Blumen in den Straßen von Mosk… | |
| taz: Frau Grauvogel, seit Montag gilt in der [1][EU ein Preisdeckel] für | |
| den Import von russischem Erdöl. Was bedeutet das für Russland? | |
| Julia Grauvogel: Ziel der Preisobergrenze und auch der Einfuhrbeschränkung | |
| ist, die russischen Handelsgewinne aus dem Ölgeschäft deutlich zu | |
| reduzieren und dadurch die Finanzierung des Kriegs gegen die Ukraine zu | |
| erschweren. Diese Maßnahmen können einen großen Einfluss haben, da die | |
| Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf in der Vergangenheit bis zu 45 Prozent | |
| des Staatshaushaltes ausmachten. | |
| Ob dies gelingt, hängt auch von der Reaktion von Ländern wie Indien oder | |
| China ab, die momentan einen Großteil des russischen Erdöls kaufen. Zwar | |
| sollen westliche Reedereien und Banken den Export in Drittländer nur noch | |
| ermöglichen, wenn der Preisdeckel eingehalten wird. Doch es bleiben | |
| Umgehungsstrategien denkbar. | |
| Können Sanktionen den Angriffskrieg von Russland beenden? | |
| Sanktionen wirken grundsätzlich auf drei Arten: Sie können ein Regime zu | |
| etwas zwingen, die Handlungsfähigkeit von einem Land einschränken oder eine | |
| Signalwirkung haben. Im Fall von Russland ist es nicht gelungen, den Krieg | |
| mit Sanktionen zu beenden und das wird auch in Zukunft nicht passieren. | |
| Doch der Spielraum Russlands wurde durch die Exportbeschränkungen von | |
| Technologien, die fürs Militär wichtig sind – etwa Mikrochips – | |
| eingeschränkt. Zudem haben die Sanktionen eine wichtige Signalwirkung auf | |
| potenzielle Nachahmer. | |
| Was macht ein Land verletzlich für Sanktionen? | |
| Es gibt eine Reihe relativ gesicherter Faktoren für die | |
| [2][Erfolgswahrscheinlichkeit von Sanktionen]. Zuerst einmal die | |
| wirtschaftliche Asymmetrie. Dann sind Demokratien anfälliger als autoritäre | |
| Regime, weil dort die Bevölkerung sehr viel schneller nicht mehr bereit | |
| ist, wirtschaftlichen Abschwung mitzutragen, und dann über Wahlen die | |
| Herrschenden abstraft. | |
| Kleine Volkswirtschaften sind anfälliger als große und Sanktionen sind | |
| erfolgreicher, wenn sie durch große Koalitionen von Staaten oder sogar | |
| durch multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen verhängt | |
| werden. Und es hilft auch, wenn die Forderungen klar und eingeschränkt | |
| sind: zum Beispiel die Untersuchung eines Massakers und nicht eine | |
| umfassende Demokratisierung. | |
| Alles nicht der Fall in Russland … | |
| Genau. Russland ist ein extrem schwieriges Sanktionsziel. | |
| Und doch ist Russland nun offiziell in einer Rezession. Wegen der | |
| Sanktionen? | |
| Insgesamt ist es die Folge der Gemengelage aus Sanktionen, Krieg und dem | |
| Rückzug westlicher Firmen. Spannend ist, dass die Rezession weniger stark | |
| ausgefallen ist, als Leute aufgrund der Sanktionen direkt nach dem Beginn | |
| des Angriffskriegs vorhergesagt haben. Die Erwartung an das Instrument | |
| waren überhöht, Sanktionen wirken immer nur mittel- bis langfristig. | |
| Welche Sanktionen waren denn schon wirksam? | |
| Die Exportbeschränkungen von Technologien haben sich schon bemerkbar | |
| gemacht. So standen zum Beispiel in der russischen Automobilindustrie über | |
| längere Zeit die Bänder still, weil es keinen ausreichenden Nachschub | |
| diverser Bauteile gab. Und jetzt werden Autos mit fehlenden Teilen, etwa | |
| ohne Airbags, produziert. Auch zivile Flugzeuge fliegen mit kaputten | |
| Funktionen, da keine Ersatzteile importiert werden können. | |
| Und sonst? | |
| Die EU und die USA haben auch ausländische Devisen eingefroren, immerhin | |
| fast 300 Milliarden US-Dollar. Doch da scheint Russland die Situation dank | |
| restriktiver Kapitalmarktkontrollen aktuell im Griff zu haben. Von den | |
| 1.200 durch die EU sanktionierten Individuen haben sich ein paar schon | |
| vorsichtig vom Regime distanziert. | |
| Gibt es überhaupt noch [3][weitere Sanktionsmöglichkeiten]? | |
| Ja. Es können noch weitere Banken aus dem internationalen | |
| Bankentransfersystem Swift ausgeschlossen werden. Der Preisdeckel für die | |
| Ölimporte könnte gesenkt oder ein vollständiges Ölembargo verhängt werden. | |
| Und es gibt immer noch Individuen, die zusätzlich auf die Sanktionslisten | |
| genommen werden können. | |
| Ist das mehr als Symbolpolitik? | |
| Allein schon die Tatsache, dass innerhalb der EU immer noch sehr kontrovers | |
| diskutiert wird, zeigt, dass es noch Maßnahmen von erheblichem | |
| wirtschaftlichem Ausmaß gibt, die nicht nur Russland, sondern eben auch | |
| einzelne EU-Mitgliedstaaten treffen würden. Wenn das nur noch symbolische | |
| Verschärfungen wären, dann gäbe es diese Debatten nicht. Also da ist man | |
| noch nicht am Ende der Fahnenstange. | |
| Aber Sanktionen haben auch Nebenwirkungen. | |
| Am schlimmsten sind ganz klar die humanitären Folgen. Diese haben sich | |
| beispielsweise bei den Sanktionen gegen die Taliban gezeigt: Die Vermögen | |
| der afghanischen Zentralbank wurden eingefroren und davon waren auch | |
| humanitäre Ausgaben betroffen. Und bis heute ist es für Hilfsorganisationen | |
| schwierig, gepanzerte Fahrzeuge zu importieren, da diese auch für | |
| militärische Zwecke verwendet werden könnten. | |
| Gibt es auch in Russland [4][humanitäre Nebenwirkungen]? | |
| Ja. Doch es stellt sich die Frage, wo die Grenze zwischen Wirkung und | |
| Nebenwirkung liegt. Wenn bei Automobilherstellern die Bänder stillstehen, | |
| dann führt das zu mehr Arbeitslosigkeit. Ist das wirklich so gewollt oder | |
| ist das schon eine Nebenwirkung? Ich glaube, da befindet man sich sehr | |
| stark in der Grauzone, weil die Hoffnung besteht, dass, wenn das Land in | |
| eine Rezession rutscht, die Bevölkerung unzufrieden ist und es dadurch mehr | |
| Proteste gibt. | |
| Gibt es Beispiele für Proteste, die durch Sanktionen befeuert wurden? | |
| In Simbabwe beispielsweise habe ich selbst Interviews geführt über die | |
| Sanktionen der EU und der USA, die diese Anfang der Nullerjahre aufgrund | |
| gravierender Menschenrechtsverletzungen bei den Wahlen verhängt hatten. Die | |
| Opposition konnte recht erfolgreich argumentieren: „Mit uns an der Macht | |
| und mit einer demokratischen Regierung könnten wir wieder stärker in die | |
| internationale Gemeinschaft integriert werden, dann könnten wir auch unsere | |
| Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen wiederbeleben.“ | |
| Und in Russland? | |
| Dort ist die Repression so stark, dass es kaum nennenswerte Proteste gibt, | |
| selbst wenn die wirtschaftliche Situation sich verschlechtert. Im | |
| Gegenteil: Das Regime appelliert erfolgreich an die Solidarität der | |
| Bevölkerung und stellt die Sanktionen als Angriff von außen dar. Als | |
| Beweis, dass der Westen schon immer gegen Russland war. | |
| Wir spüren auch hier Nebenwirkungen der Sanktionen: Energie wird teurer, | |
| die Inflation steigt. Sind die Kosten der Sanktionen noch tragbar? | |
| Die Sanktionen haben Kosten für die EU, ganz klar. Die sind jedoch nicht | |
| höher als umgekehrt. Als die ersten Sanktionen der EU verhängt wurden, | |
| standen die Leute in Russland zum Teil vor Bankautomaten, wo sie kein Geld | |
| mehr abheben konnten. Das ist ja weit entfernt von unserer Situation, die | |
| wir hier haben. Das Schwierige an der Situation ist, dass die Kosten hier | |
| mittelfristig steigen werden und man gleichzeitig im Februar und März | |
| unrealistische Erwartungen an die Sanktionen geschürt hat, diese könnten | |
| den Krieg beenden. Dadurch kann die Bereitschaft sinken, die Sanktionen | |
| mitzutragen. | |
| Werden eigentlich immer mehr Sanktionen verhängt? | |
| In den Neunzigern wurden sehr viele, sehr umfassende Sanktionen verhängt – | |
| vorher war das wegen der Blockade im Sicherheitsrat nicht möglich. Eine | |
| Folge dieser Sanktionseuphorie waren sehr umfassende Sanktionsregime mit | |
| zum Teil gravierenden humanitären Folgen. Nachdem 1990 der Irak Kuwait | |
| überfallen hatte, wurde ein komplettes Wirtschaftsembargo gegen das Land | |
| verhängt, welches massive medizinische Versorgungsprobleme nach sich zog. | |
| Zusammen mit dem Krieg führten die Sanktionen einem starken Anstieg der | |
| Säuglings- und Kindersterblichkeit. Nach diesen Erfahrungen setzte eine | |
| Sanktionsmüdigkeit ein und es gab eine Fokussierung auf sogenannte | |
| „intelligente“ Sanktionen, also Instrumente, die sich gezielt gegen | |
| Individuen, einzelne Sektoren oder einzelne Rohstoffe richten. In den | |
| letzten Jahren stiegen die Fälle wieder an und es werden zunehmend wieder | |
| umfassendere Maßnahmen verhängt. | |
| Zu viele? | |
| Eigentlich nicht. Problematisch finde ich abgesehen von den überhöhten | |
| Erwartungen an das Instrument eine oft nicht ausreichende Ausgestaltung. Es | |
| werden zum Teil sehr schnell Sanktionen verhängt, ohne Exitstrategie. Aus | |
| der Forschung wissen wir jedoch, dass Sanktionen erfolgreicher sind, wenn | |
| ein mögliches Ende schon von Anfang an mitgedacht wird. Auch mangelt es oft | |
| an einem ausreichenden Plan zur Durchsetzung. In Deutschland etwa wurde | |
| deshalb jüngst das Sanktionsdurchsetzungsgesetz beschlossen. | |
| Wie ist das im Fall von Russland? | |
| Schwierig, da die Forderungen sehr umfassend sind. Schaut man auf die | |
| Entwicklung seit der Annexion der Krim 2014, fällt auf, dass sich die Ziele | |
| der Sanktionen im Verlauf der Zeit verändert haben. Anfangs stand die | |
| Rückgabe der Krim im Vordergrund, später wurden die Sanktionen jedoch | |
| zunehmend auch mit der Umsetzung der Minsker Abkommen verknüpft. Das hat | |
| damit zu tun, dass Sanktionen verschiedene Funktionen erfüllen. | |
| Welche? | |
| Einerseits sind sie ein wichtiges Signal, um völkerrechtliche Normen zu | |
| bekräftigen. Gleichzeitig sind Sanktionen auch ein Faustpfand in | |
| Verhandlungen. Und je stärker man in die Phase von Verhandlungen kommt, | |
| desto klarer wird, dass ein zunächst formuliertes Ziel vielleicht nicht | |
| vollumfänglich erreicht werden kann. | |
| Viele Unternehmen ziehen sich ohne Zwang aus sanktionierten Ländern zurück. | |
| Diese „freiwilligen Sanktionen“ erfüllen die Funktion als Faustpfand nicht… | |
| Im Fall von Russland war es drastisch. Mittlerweile sind mehr als 1000 | |
| Unternehmen freiwillig gegangen. Ich finde das aus normativen Gründen | |
| nachvollziehbar. Meist hat es jedoch beschränkte wirtschaftliche | |
| Auswirkungen, weil es sich dabei um Konsumgüter handelt. Es ist viel | |
| schwieriger, einen Halbleiterchip zu ersetzen, als aus McDonald's das | |
| „russische McDonald's“ zu machen. Es hat trotzdem eine Wirkung, weil es | |
| zeigt, wie international isoliert Russland ist. | |
| Aktuell werden von vielen Seiten mehr Sanktionen gegen das Regime in Iran | |
| gefordert. Können Sanktionen gegen Iran wirksam sein? | |
| In Iran haben Sanktionen in der Vergangenheit durchaus dazu beigetragen, | |
| innenpolitischen Druck aufzubauen. Die Sanktionen in Bezug auf das | |
| Atomprogramm haben bei der Wiederwahl Rohanis im Jahr 2017 eine große Rolle | |
| gespielt. Augenscheinlich ist es ein Land, wo mit Sanktionen Einfluss auf | |
| innenpolitische Auseinandersetzungen ausgeübt werden kann. | |
| Also sollte die EU jetzt schnell mehr Sanktionen beschließen? | |
| Die Erfahrungen zeigen, dass es nicht aussichtslos ist. Zudem: Sanktionen | |
| werden immer häufiger verhängt. Mittlerweile sind sie dermaßen etabliert | |
| als außenpolitisches Instrument, dass es in bestimmten Situationen – | |
| ebendieser massiven Repression jetzt in Iran oder dem Angriff auf die | |
| Ukraine – einer Legitimation des Verhaltens gleichkäme, keine Sanktionen zu | |
| verhängen. | |
| 5 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Clara Vuillemin | |
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