# taz.de -- Verkehrswende in den Niederlanden: Auf der Suche nach Konsens | |
> Autofrei light: Die Niederlande setzen zunehmend auf verkehrsberuhigte | |
> Städte. Kann so ein friedliches Miteinander auf der Straße entstehen? | |
Bild: Früher Hupkonzert, heute Fahrradklingeln: Terrasse eines Cafés in der I… | |
Amsterdam/Haarlem taz | Bürger*innen und Unternehmer im Norden des | |
Amsterdamer Quartiers Jordaan bekamen Ende November Post von der Stadt. Es | |
ging um die „Verbesserung des öffentlichen Raums“, indem man mehr Platz | |
schafft „für Fußgänger, Radfahrer, Grün, spielende Kinder und Begegnungen | |
auf der Straße“. Zentrales Element: eine unterirdische Garage, die 2024 | |
eröffnet werden und 800 Plätze vornehmlich für Anwohner*innen liefern | |
soll. „Dadurch sind auf der Straße weniger Parkplätze nötig.“ Ab 2023 wi… | |
man die ersten 400 davon abschaffen, insgesamt 800 Parkplätze sollen von | |
der Straße verschwinden. | |
Die Pläne, an denen seit ein paar Jahren gearbeitet wird, sind ein | |
klassisches Beispiel für eine Stadt- und Mobilitätsplanung, die in den | |
Niederlanden hoch im Kurs steht. In der Hauptstadt hat man ihr gleich ein | |
ganzes Programm gewidmet, das passend „Amsterdam autoluw“ betitelt ist. Das | |
Zauberwort autoluw lässt sich in etwa mit verkehrsberuhigt übersetzen und | |
hat in den Niederlanden Konjunktur: Seit die Universitätsstadt Groningen | |
vor 45 Jahren mit dem damals revolutionären „Verkehrszirkulationsplans“ das | |
Durchfahren des Zentrums mit dem Auto verhinderte, sind zahlreiche Städte | |
im In- und Ausland dem Beispiel gefolgt. | |
Der Unterschied zu vollständig autofreien Gebieten ist simpel: | |
motorisierter Verkehr ist nicht verboten, wird aber durch indirekte | |
Maßnahmen unattraktiv gemacht, während man andere Nutzungen des | |
öffentlichen Raums stimuliert. Im Amsterdamer Jordaan etwa wurden in der | |
schnurgeraden und von zahlreichen Geschäften gesäumten Westerstraat schon | |
vor Jahren ein erheblicher Teil der Parkplätze zu Freiluftbereichen der | |
lokalen Gastronomie umgewandelt. Statt suchender Autos, die früher hier | |
frustriert Runden drehen, sind Teile der Straße nun ein Flanier- und | |
Ausgangsgebiet. | |
In den umliegenden Gassen bis zu den nahen Grachten springt ein weiterer | |
Aspekt des Autoluw-Konzepts ins Auge: die Kleinwagen der | |
Carsharing-Anbieter, farblich auffallend und räumlich verlässlich am Anfang | |
oder Ende der meisten verbliebenen Parkstreifen platziert. Noch attraktiver | |
wird der Griff zum Share-Auto, wenn man erst mal die Preise auf den | |
Parkautomaten gesehen hat: 7,50 Euro kostet hier die Stunde für | |
Nicht-Anwohner – das ist nicht bloß teures Amsterdam, das ist | |
Steuerungspolitik aus dem Rathaus. Mit dem Ziel: Autos weitgehend aus dem | |
Zentrum halten, um dieses lebenswerter zu machen. | |
## Kernelement des Autoluw-Konzepts | |
Autoluw bedeutet: Statt auf ein kategorisches Verbot setzt man auf | |
Maßarbeit. Nicht nur in Amsterdam, auch im benachbarten Haarlem, das mit | |
rund 160.000 etwa ein Fünftel der Bewohner*innen der Hauptstadt hat. | |
Besonders gilt dies für das vijfhoek (Fünfeck), ein Altstadtviertel am Rand | |
des Einkaufsgebiets im Zentrum. Letzteres ist schon seit Jahren autoluw, | |
sodass der konstante Fluss von Fahrrädern und Passant*innen nur von | |
gelegentlichen Lieferwagen unterbrochen wird. | |
Die Breestraat bildet einen der Eingänge zum Fünfeck. Ihr Beginn wird von | |
einem Schild markiert, das auf ein „bewegliches Hindernis“ hinweist. Mitten | |
auf der schmalen Straße steht ein kniehoher, dicker Pfahl, an dessen Ende | |
rote Signalfarbe aufleuchtet. „Bei Grün ein Fahrzeug“, erklärt das Schild | |
den Zugang, darunter eine Nummer für Störungen. Wer sie wählt, bekommt | |
einen Mitarbeiter der Kommune zu sprechen. Die beweglichen Pfähle, erklärt | |
der, sind ein Kernelement des hiesigen Autoluw-Konzepts. Bedient werden | |
können sie, indem man eine spezielle Karte vor den Laser hält. Anzufordern | |
ist diese bei der Stadtverwaltung. Für Anwohner*innen oder | |
Lieferverkehr gibt es Ausnahmen, ebenso für Menschen mit Behinderung – oder | |
in diesen Tagen solche, die auf dem nahen Weihnachtsmarkt beschäftigt sind. | |
Mitten in besagtem Gebiet liegt das Café Vijfhoek auf einem pittoresken, | |
gepflasterten Platz mit Bäumen und kleinen Häusern. Im Straßenbild fallen | |
nur wenige geparkte Autos auf, Fahrräder passieren dafür alle naselang. | |
Mitarbeiter Ruben van der Horst schließt soeben die Tür auf. Was er von | |
autoluw hält? „Ich bin sehr zufrieden damit. Abends gab es hier doch | |
einigen Verkehr, und manchmal fuhren die Autos auch schnell. Jetzt sind es | |
viel weniger, die diesen idyllischen Ort stören.“ | |
## Vorbild in Oslo gesucht | |
Warum dann aber nicht gleich ein Komplettverbot? Gerade in Deutschland | |
entspinnt sich die hitzige Diskussion oft an der Frage, ob einzelne | |
Straßen, Innenstädte oder auch mal ganz Berlin autofrei sein sollen. Um zu | |
verstehen, warum sich die fahrradliebenden Niederlande herzlich wenig für | |
kategorische Autoverbote interessieren, muss man sich Oslo anschauen. Die | |
norwegische Hauptstadt machte sich nämlich 2018 als erste in Europa daran, | |
ein autofreies Zentrum zu realisieren. Auch aus Amsterdam reiste damals | |
eine interessierte Delegation an und nahm das Projekt in Augenschein. Man | |
stellte fest, dass der Anwohnerinnen- sowie der Lieferverkehr lokaler | |
Unternehmer in Oslo auf diese Weise vor ungelösten Problemen stehen – und | |
die Frage der besten Raumnutzung in stark wachsenden Städten mit einem | |
Autoverbot alleine nicht beantwortet ist. | |
In Amsterdam wählte man daher einen behutsameren Plan, den man „mit Hilfe | |
der Bewohnerinnen und Unternehmer Schritt für Schritt ausführen“ will, sagt | |
Sharon Dijksma, ehemalige städtische Beigeordnete für Verkehr, Transport | |
und Luftqualität. Die eingangs erwähnte transparente Kommunikation mit den | |
Menschen im Viertel ist Teil dieses Ansatzes. Denn selbst im vermeintlich | |
ultraprogressiven Amsterdam schlägt der linken Stadtregierung nicht selten | |
reine Wut entgegen, weil innerhalb von acht Jahren 10.000 der 265.000 | |
Parkplätze auf Straßen verschwinden sollen. | |
Kritik am allseits gefeierten Autoluw-Ansatz gibt es allerdings auch aus | |
fachkundigem Mund. Maarten Woolthuis ist Mitbegründer der Amsterdamer NGO | |
Bycs, die sich weltweit für städtische Entwicklung durch Fahrradverkehr | |
einsetzt. „Das Gute in den Niederlanden ist, dass man hier, anders als in | |
Deutschland, eher sagt: Jetzt wartest du mal hier mit deinem dicken Auto!“, | |
so Woolthuis, der teils in Köln aufwuchs. „Aber auch mit Tempo 30, das in | |
Autoluw-Gebieten gilt, kann man noch jemanden totfahren.“ | |
## Geschwindigkeit reduzieren | |
Aktive Mobilität in Städten sei darum am menschlichen Maßstab zu | |
orientieren. „Als Ausgangspunkt sollte man sich fragen: Wie wird die Stadt | |
lebenswert für alle, also auch für vierjährige Kinder oder Senior*innen | |
von 85 Jahren. Das bedeutet: Geschwindigkeit reduzieren. Je niedriger die | |
Geschwindigkeit, desto lebenswerter ist ein Gebiet.“ | |
Für Woolthuis ist autoluw „so eine typisch niederländische Polderlösung.“ | |
Poldern, das bezieht sich auf das sogenannte Poldermodell, also eine | |
ausgeprägte Neigung zur Konsenssuche unter Einbeziehung aller Perspektiven. | |
„Maßnahmen wie Tempo 30, unterirdische Parkplätze, fossilen Verkehr durch | |
elektrischen ersetzen: Dafür gibt es dann aber mehr Suchverkehr, der von | |
einem Ort zum anderen kommen will.“ Im Grunde begrüßt Woolthuis die | |
Verkehrsberuhigung, will das Prinzip aber viel konsequenter umsetzen. | |
„Besser wäre es, die Umgebung aller Grundschulen während der Zeit, in der | |
Kinder dort sind, komplett autofrei zu halten. Und dann sollten wir Kinder | |
stimulieren, selbst zu kommen, mit Rad, Skateboard oder zu Fuß.“ Kinder | |
lernten so, sich sicher und selbstbewusst auf dem Rad durch die Stadt zu | |
bewegen. „Es ist schön, wenn Erwachsene aufs Lastenrad steigen. Doch den | |
Kindern tun sie damit keinen Gefallen.“ | |
Ein Aspekt, der beim Thema autoluw als Standardargument auftaucht, ist, | |
dass die Städte schnell wachsen und dadurch die Frage urbanen Raums | |
dringend verhandelt werden muss. Beispielhaft zeigt dies die Tatsache, dass | |
in den Niederlanden derzeit 300.000 Wohneinheiten fehlen, die in den | |
nächsten Jahren gebaut werden müssen. An dieser Konstellation wird dann | |
auch deutlich, dass Verkehrsberuhigung weit über Aspekte wie Stadtdesign | |
oder urbanen Lifestyle hinausgeht. Manche Maßnahme, die in diesem Kontext | |
getroffen wird, spiegelt die Lage wider. So etwa entsteht derzeit in | |
Utrecht die Neubausiedlung Merwede, die 12.000 Menschen Platz bieten wird – | |
und autofrei sein soll. | |
15 Dec 2022 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
## TAGS | |
Tempo 30 | |
Verkehrswende | |
Autoverkehr | |
Verkehrspolitik | |
Niederlande | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Verkehrswende | |
Mieten | |
Verkehrswende | |
Wochenkommentar | |
Verkehrswende | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Klimaschädlicher Tourismus: Weg mit den Kreuzfahrtschiffen | |
Amsterdam ist beliebter Anlageort für Ozeanriesen, doch die Stadt will sie | |
künftig verbannen. Sie brächten zu viele Touristen und schadeten dem Klima. | |
Abc auf Motordeutsch: Für die Verkehrswende im Kopf | |
Autos haben erst Städte, dann die Sprache okkupiert. Wir tanken Energie auf | |
der Überholspur und schalten bisweilen einen Gang runter. Ein kleines Abc. | |
Forderungen einer Schülerin für 2023: Was alles besser werden muss | |
Eine Schülerin schreibt uns, was sie sich dieses Jahr von Politik und | |
Gesellschaft wünscht. Und was ihre Wünsche so dringend macht. | |
Fahrradstadt als Zukunft: Gent macht „autofrei“ vor | |
In Gent ist sie zuständig für die Verkehrswende: Ann Plas erklärt den | |
Aachnern, wie man zu einer autofreien Stadt kommt. | |
Urteil gegen autofreie Friedrichstraße: So oder so kommt die Fußgängerzone | |
Am Dienstag entscheidet sich, ob der Berliner Senat in Berufung geht. Schon | |
diese Woche hat Mitte den ersten Schritt zur Fußgängerzone eingeleitet. | |
Pop-up-Radwege in Pandemie: Verkehrswende im Hier und Jetzt | |
Die Verkehrswende muss kein Projekt der nächsten Generation sein. Die | |
Corona-Pandemie hat gezeigt, dass es auch schnell und unbürokratisch gehen | |
kann. |