# taz.de -- Marokkos Erfolg bei der WM: Vielstimmiger Stolz | |
> Gegen Frankreich könnte Marokko sensationell ins WM-Finale einziehen. Aus | |
> Europa gab es schnell politische Narrative, vor Ort sind sie diverser. | |
Bild: Ein Team, viele Interpretationen: Die marokkanische Nationalelf beim Jubel | |
Am Abend [1][des Einzugs ins Halbfinale] sind die Straßen von Marrakesch in | |
ein einziges Rot gehüllt. Pyrofackeln, Raketen, rot leuchtende Gebäude, | |
während sich ein Meer rotgewandeter Menschen in den Ausnahmezustand tanzt. | |
Ein Land rastet aus; selbst Fischer auf dem Meer tanzen mit Nationalflagge. | |
Die Geschichte Marokkos, das nun in ein WM-Finale einziehen könnte, gilt | |
als Märchen dieses Turniers. Aber zugleich ist es eines, für das deutsche | |
Beobachter:innen schnell Narrative gefunden hatten. [2][Panarabismus], | |
[3][Antisemitismus oder postkolonialer Widerstand], nachdem die | |
Ex-Kolonialmächte Belgien, Spanien, Portugal – und jetzt vielleicht | |
Frankreich – unterlagen. Zumeist friedliche Exil-Feiern wurden als Krawalle | |
geframt. Doch was lesen Menschen vor Ort in die Geschichte? | |
Youssef ist dort gewesen, in Marrakesch auf dem Hauptplatz Djemaa el Fna | |
beim Public Viewing. Er lebt in einem Dorf am Rand des Atlas-Gebirges, die | |
Reise nach Marrakesch war etwas Besonderes. In die Großstadt, wo alle | |
gemeinsam gucken; nicht wie in seinem Heimatdorf, wo nur die Männer im Café | |
schauen dürfen und die Frauen am Radio hören. | |
## Story der politischen Vereinigung | |
Youssef ist noch Schüler. Und wie so viele Marokkaner träumt er davon, es | |
eines Tages nach Europa zu schaffen. Anders als viele seiner Freunde, die | |
illegal flüchten, hofft er auf den teuren legalen Bildungsweg: Neben der | |
Schule arbeitet Youssef auf dem Bau oder als Erntehelfer. Er gehört zu | |
einer desillusionierten Generation, die sich hier nichts mehr erwartet. | |
Aber [4][der Erfolg Marokkos beim Turnier] macht ihn überglücklich. | |
„Für mich ist es einfach Staunen und Gänsehaut und Freude und Tränen.“ E… | |
panarabische Botschaft oder einen politischen Sieg aber feiert er nicht, im | |
Gegenteil. „Wir lieben das Land, aber nicht die Politik. Wir lieben | |
Marokko, aber nicht, darin zu leben. In den arabischen Staaten dienen die | |
Politiker nur sich selbst, nicht den Bürgern, nicht wie in Europa.“ Der | |
Sieg gegen Ex-Kolonialmächte taugt ihm ebenso wenig als Narrativ, davon | |
rede hier niemand. | |
„Wir sehen das als schwarzes Zeitalter. Wir haben es hinter uns gelassen | |
und wollen unsere Träume erfüllen.“ Youssef schaut nach vorn. Die vielen | |
marokkanischen Spieler, die in Europa aufwuchsen, sind für ihn Symptom | |
seiner Analyse. „Wären sie in Marokko aufgewachsen, wären sie jetzt nicht | |
dort, wo sie sind. Hier unterstützt niemand die Jugend.“ Er tippt auf einen | |
Sieg gegen Frankreich, auch wenn er fürchtet, dass sie verlieren. | |
Auch Mohammed räumt Marokko nur Außenseiterchancen ein, aber seine Deutung | |
der Ereignisse ist eine völlig andere. Mohammed lebt in Marrakesch, stammt | |
aus einem Ort in der Wüstenprovinz Erachidia und betreibt die Touareg | |
Morocco Tours. In der Tourismusbranche hatte er es zuletzt schwer wegen der | |
Pandemie, einen früheren Job verlor er. „Niemand hat mit diesem Erfolg | |
gerechnet“, sagt Mohammed. Für ihn ist er eine große Story der politischen | |
Vereinigung. „Wir haben dafür gesorgt, dass die Herzen der Afrikaner und | |
Araber als eines schlagen, und die arabischen Muslime vereint, sodass sie | |
die angespannten Beziehungen der Vergangenheit überwunden haben.“ | |
Auch Katar als Ausrichter spielt für ihn eine wichtige Rolle. „Dieses | |
Turnier verbreitet die Wahrheit des Islam, und ich bin sehr glücklich, was | |
Katar dafür getan hat.“ Für Mohammed ist das Turnier ein panarabischer, | |
panislamischer Aufbruch. Das Thema Kolonialmacht sei dagegen nicht wichtig | |
hier. Und überhaupt habe Frankreich doch auch eine Menge Gutes getan. | |
## Innere Teilhabe | |
Und dann gibt es noch die, für die die WM eine innere Teilhabe ist. | |
Noureddine stammt aus einem kleinen Wüstenort nahe der algerischen Grenze, | |
seine Vorfahren waren Nomad:innen beidseits der Grenze. Er gehört zur | |
diskriminierten Minderheit der Imazighen. Aktuell hat er keine Arbeit. Er | |
schlägt sich in verschiedenen Städten mit Gelegenheitsjobs durch. Auch | |
Noureddine sieht eine Zukunft nur in Europa, aber der einzige Weg für ihn | |
dorthin wäre wohl der illegale. Die WM verfolgt er wie fast alle Männer in | |
den Cafés, und über den Erfolg ist er sehr stolz. | |
„Er bedeutet mir viel. Jetzt kennt uns die ganze Welt. Und wir zeigen | |
ihnen, dass wir Helden haben, und machen Afrika stolz.“ Er nennt Afrika | |
zuerst. Noureddine, der sonst sagt, er fühle sich zuerst als Amazigh, dann | |
als Marokkaner, findet den Erfolg so wichtig wie alle anderen. Das Team sei | |
bunt. „Es sind viele Imazighen im Team, auch der Trainer. Aber sie spielen | |
für Marokko, wir sind jetzt Marokkaner.“ Er ist sich sicher, dass Marokko | |
ins Finale einzieht, nach einem 2:0-Sieg. | |
Marokkos Triumph ist entgegen der äußeren Wahrnehmung nicht eine | |
Geschichte, sondern vereint viele verschiedene Erzählungen. Zumindest für | |
den Moment. | |
14 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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