# taz.de -- Überraschung Marokko im Viertelfinale: Im nationalen Taumel | |
> Marokko erweist sich auch gegen Spanien als eines der defensivstärksten | |
> Teams. Selbst im Elfmeterschießen ist Torhüter Yassine Bonou | |
> unüberwindbar. | |
Bild: Lässt auch keinen Elfer rein: Yassine Bounou hält hier einen Schuss von… | |
Pressekonferenzen mit marokkanischen Journalisten sind in diesen Tagen | |
keine Pressekonferenzen, sondern Veranstaltungen mit Huldigungscharakter. | |
Immer wieder griff sich am Dienstagabend nach dem Viertelfinaleinzug der | |
Nordafrikaner ein Medienmensch das Mikrofon, um auf Arabisch anzukündigen, | |
er habe gar keine Frage, er wolle nur etwas ganz Wichtiges loswerden. | |
Und so sagten sie sinngemäß in Richtung von Trainer Walid Regragui: Danke, | |
ich möchte einfach nur danke sagen, ich habe heute Tränen in den Augen, Sie | |
haben Geschichte geschrieben und 40 Millionen Marokkaner stolz gemacht, | |
Trainer, Sie sind ein Löwe, und das Land weiß ihre Arbeit zu schätzen, | |
ebenso wie der König, der Sie preisen möge. | |
Geklatscht hatten sie natürlich auch, als Regragui und Torwart Yassine | |
Bounou aufs Podium im Bauch des Education-City-Stadions gestiegen waren. | |
Der Coach lächelte, zeigte wie ein Late-Night-Moderator mit dem Finger ins | |
Publikum und warf Kusshände in selbiges. Showtime. Europäische Maßstäbe | |
darf man hier nicht anlegen, denn Marokko hat ja nun wirklich etwas | |
Besonderes erreicht bei einer Fußball-Weltmeisterschaft: Einzug in die | |
Runde der letzten acht Mannschaften, Sieg im Elfmeterschießen gegen die | |
[1][stark favorisierten Spanier], erstes arabisches Team, das so weit | |
gekommen ist, nationaler Taumel im Land und anderswo: in Brüssel, Paris, | |
Madrid oder Köln. „Marokko ist eine Mannschaft, mit der man rechnen muss, | |
und kein zu unterschätzender Gegner“, schrieb die Zeitung Arab News. | |
Das war freilich schon vor dem Match klar. Marokko gehört zu den | |
defensivstärksten Teams bei dieser WM, und die Fans bringen echte | |
Fußballatmosphäre in die Stadien von Doha. Bisher war die Partie zwischen | |
Uruguay und Südkorea, auch in Education City, mit 131 Dezibel am lautesten, | |
das dürfte sich nun geändert haben, denn die Fans in den roten Trikots | |
pfiffen, lärmten, skandierten, als müssten sie böse Geister vertreiben. | |
„Als Sofiane Boufal Mitte der ersten Halbzeit auf der linken Seite tanzte, | |
hätte man die Augen schließen und sich wie in Rabat, Fès oder Agadir fühlen | |
können“, schwärmte Arab News. | |
Ja, Boufal spielte vor allem in Halbzeit eins sehr auffällig, aber es waren | |
eher die Mittelfeldakteure Sofyan Amrabat (Nummer 4) und Azzedine Ounahi | |
(8), die eine wahrlich bemerkenswerte Leistung zeigten: immer präsent, | |
laufstark bis zum Äußersten, die Schwachstellen kittend, die Räume | |
verengend. Solide natürlich auch wieder die Spieler auf den Außenbahnen: | |
Hakim Ziyech und Achraf Hakimi, aber die defensive Gesamtperformance stand | |
über allen. | |
Die Spanier passten sich zwar sage und schreibe 1.037-mal den Ball zu | |
(Marokko: 305), aber diese Stafetten wurden, je länger das Match dauerte, | |
zu einer brotlosen Kunst, zum reinen Selbstzweck der Iberer, die sich über | |
77 Prozent Ballbesitz freuen durften, aber doch nur zwei Mal direkt aufs | |
Tor schossen: ein Effizienzdesaster. | |
## Ein wenig Arroganz | |
[2][Die statistische Dominanz der Spanier] war keine reale. Ihr Spiel ist | |
mittlerweile berechenbar und dechiffrierbar geworden, was offensichtlich | |
noch nicht bis zu [3][Coach Luis Enrique] gedrungen ist, der seine Spieler | |
für genau diesen scheindominanten Auftritt über den grünen Klee lobte: „Sie | |
haben zu 99,9 Prozent das umgesetzt, was ich ihnen gesagt habe, ich bin | |
stolz auf sie.“ | |
Sie treffe nun wirklich keine Schuld, nur er habe während des Turniers | |
einen kleinen Fehler gemacht: Pablo Sarabia habe zu wenig Einsatzminuten | |
bekommen. Enrique gefiel sich in der Rolle des Uneinsichtigen. Ein wenig | |
arrogant auch, wie er über den Gegner sprach. „Also dieser Nummer 8, ich | |
weiß seinen Namen gerade nicht“ habe schon ein tolles Spiel gemacht, jaja. | |
Sollte er nicht den Namen dieses Mannes kennen? | |
Der von Keeper Bounou war ihm immerhin geläufig, der steht beim FC Sevilla | |
unter Vertrag. Bounou schnappte sich alle drei spanischen Elfmeter und | |
lobte nachher den Einfluss des enthusiastischen Publikums auf sein Team: | |
„Sie haben uns die Kraft gegeben, diese riesengroße Aufgabe zu stemmen.“ | |
Neben dem Ballfänger saß Coach Regragui, der immer wieder davon sprach, | |
dass sein Team in Katar zu einer „Familie“ geworden sei, einer | |
„unglaublichen Einheit“. | |
Dass ihm, der in Frankreich geboren ist, dies gelingt, war vorm Turnier | |
nicht abzusehen. Regragui musste den Block der Marokkaner, geboren in der | |
Heimat, mit dem Block jener Spieler, die irgendwo in Europa auf die Welt | |
gekommen sind, in Spanien, Holland, Belgien oder Deutschland, | |
zusammenführen – und nebenher auch noch die Egos von Starspielern wie Hakim | |
Ziyech streicheln. | |
„Spieler wie Hakim brauchen besondere Liebe und Zuneigung. Jeder Coach, der | |
sagt, er behandle alle Jungs gleich, erzählt nur die halbe Wahrheit.“ Und | |
es sei darüber hinaus vollkommen egal, sagte der 47-Jährige, wo dieser oder | |
jener Spieler aufgewachsen sei: „Jeder Marokkaner ist Marokkaner. Wenn er | |
ins Nationalteam kommt, will er für das Land sterben.“ | |
Regragui sieht sich durchaus auf einer nationalen Mission, als Taktgeber | |
für den arabischen oder afrikanischen Fußball aber eher nicht. „Das sehe | |
ich vielleicht mal als Rentner so, wenn ich auf meine Erfolge | |
zurückblicke“, sagte er. Am Samstag möchte er wieder einen Anruf von König | |
Mohammed VI. entgegen nehmen. Dann will er mit seiner Elf die Portugiesen | |
nerven. „Bitte lass uns weiter träumen“, flehte ein Journalist. Walid | |
Regragui lächelte nur. | |
7 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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