# taz.de -- Buch zur Fußball-WM: Bleibender Zwiespalt | |
> Von '54 bis zur Wüstendiktatur: Ein kluges wie witziges Buch schildert | |
> die Entwicklung der Fußball-WM. Eine Frage: Wird der Sport Katar | |
> überleben? | |
Bild: Daumen hoch: Argentiniens Junta-Chef Jorge Videla nach dem Finale der WM … | |
Wenn die Creme des deutschen Fußballjournalismus in die Tasten haut, darf | |
man einiges erwarten. Und was Christoph Biermann (11 Freunde), Kurt Röttgen | |
(ehemals Spiegel), Javier Cáceres (Süddeutsche), Christian Eichler (FAZ) | |
und viele andere zu sagen haben, ist rundum großartig, erhellend, schräg, | |
besonders. Entstanden ist ein politisches Fußballbuch über die lange | |
Entwicklung der Weltmeisterschaften bis heute, voller Anekdoten, | |
grandioser Geschichten und intensiver, kontroverser Debatten um Katar. | |
Zu den WM-Anfängen hat Herausgeber Gerhard Waldherr (ehemals SZ und Stern) | |
Gerd Raithel besucht, heute 91, der als junger Reporter bei der WM 1954 | |
dabei war. Auch Journalisten mussten Kaufkarten erwerben, schildert | |
Raithel, Presseinfos gab es nicht, man sprach mit keinem Spieler, „weil der | |
Chef das nicht gerne gesehen hat“. Dabei sein war schon alles. Das Spiel | |
kam, der Reporter schrieb. Fertig. | |
Vom Chef, also Bundestrainer Sepp Herberger, findet sich ein | |
rührend-komischer Brief von 1968 in einem dermaßen verwinkelt-umständlichen | |
Schreibstil, als wolle er dem Tikitaka-Fußball auf seiner Schreibmaschine | |
vorgreifen. | |
Da ist auch die Reportage um eine skurrile Begegnung 1990 mit Roger Milla | |
in dessen Hotelzimmer oder die Geschichte um Helmut Hallers | |
Finalball-Diebstahl von 1966. Unter dem Titel „Licht und Gestalt“ erklärt | |
Hanns-Bruno Kammertöns (Zeit) die groteske Hingabe an den | |
[1][Schaumermal-Beckenbauer] 2006: „Gerade das, was er nicht sagte, wurde | |
sofort notiert.“ | |
## Faszination und Missbrauch | |
Nostalgie? Verklärung? Nein, sondern haarscharf und mit Witz analysiert, | |
aus der Nähe beobachtet und mit gebotener Distanz erzählt. Die Texte | |
mäandern zwischen der unauslöschlichen Faszination des Fußballs und der | |
jahrzehntelangen Kaskade am Missbrauch des Spiels durch | |
Funktionärs-Oligarchien, die in den aktuellen Katar-Ekel mündet. | |
Katar ist ein großer Block in der Buchmitte gewidmet. Ist Fußball in der | |
Wüstendiktatur wirklich das „Nine Eleven des internationalen Fußballs“, | |
fragt überspitzt der Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling und | |
beschreibt die verkommene Entwicklung seit der [2][Junta-WM in Argentinien | |
1978], damals unter ekliger Assistenz des DFB übrigens. „Totalitarismus und | |
Sport vertragen sich gut. Funktionäre sehen in Diktatoren und Autokraten | |
keine Feindbilder, sondern Gleichgesinnte, Seelenverwandte.“ Größte | |
Gemeinsamkeit: „Sie schwelgen in Allmachtsphantasien.“ | |
Ronald Reng argumentiert: „Das Gefühl der Hyperkommerzialisierung ist ein | |
eurozentristisches.“ Tatsächlich sind viele Menschen weltweit einfach | |
glücklich, eine WM verfolgen zu können, egal wo sie stattfindet – Reng | |
führt St. Helena an, wo erstmals zur WM 1998 ein TV-Signal ankam. Oder in | |
weiten Teilen arabischer Staaten, wo Stolz herrscht, dass der Ausrichter | |
erstmals aus dem eigenen Kosmos stammt. | |
Aus welchem Land die Bilder aus wechselnden Reißbrettstadien kommen, ist | |
weltweit vielen ohnehin wumpe, [3][siehe auch Russland 2018]. Und warum | |
soll man sich über Raffgier der Fußballfunktionäre aufregen, über | |
Korruption, die kriminellen Machenschaften, wenn man all das im eigenen | |
Land seit jeher gewohnt ist? Katar ist nicht plötzlicher Sündenfall, | |
sondern Fortsetzung üblicher Widerlichkeiten halt mal woanders. | |
Im Jahr 1954 waren die Widrigkeiten noch andere. Reporter Raithel reiste | |
schon vor dem großen Finale gegen Ungarn ab: „Ich war knapp bei Kasse, und | |
frische Wäsche war auch nicht mehr verfügbar.“ Spesen, Überweisungen – | |
offenbar nicht üblich. Dabei gewesen sein war schon alles. Das Spiel kam, | |
der Reporter war schon weg. Fertig. | |
Christoph Biermann meint trotzig: „Der Fußball wird Katar überleben.“ Aber | |
sollte man den Überlebenskampf nicht gutgewissig boykottieren, wegen der | |
Menschenrechte, der vielen Toten beim Stadionbau? Oder doch gucken, ob | |
Niklas Füllkrug ein Tor schießt, England erstmals seit William The | |
Conquerer ein Elfmeterschießen gewinnt oder wer im Finale Belgien – Holland | |
triumphiert? Nein, lieber bockig die Glotze auslassen, aus Empathie mit den | |
geknechteten Gastarbeitern in Katar, etwa aus Bangladesch! Und vielleicht | |
ein T-Shirt shoppen gehen „Boycott Qatar!“, Schnäppchen, made in | |
Bangladesch. Der große Zwiespalt bleibt. | |
1 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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