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# taz.de -- Wolfgang Schäuble über 50 Jahre Bundestag: „Die seriöse Mitte …
> Ein halbes Jahrhundert sitzt Wolfgang Schäuble als CDU-Abgeordneter im
> Bundestag. Ein Gespräch über Höhen und Tiefen, Fake News, Fußball – und
> die Unvermeidlichkeit des Alterns.
Bild: Wolfgang Schäuble ist mit seinen 50 Jahren als Abgeordneter der dienstä…
wochentaz: Herr Schäuble, konnten Sie sich je ein Leben ohne Politik
vorstellen?
Wolfgang Schäuble: Bis ich Abgeordneter wurde – ja.
Das ist ziemlich lange her.
50 Jahre.
Am Dienstag, den 13. Dezember, sind es genau 50 Jahre. Es gab in Ihrer
Karriere einige Tiefschläge, darunter [1][die CDU-Spendenaffäre im Jahr
2000]. Haben Sie nicht mal gedacht: Es reicht, ich mache Schluss mit der
Politik?
Als ich nach der Spendenaffäre als Fraktions- und Parteivorsitzender
zurückgetreten war, war für mich eigentlich klar, dass ich nicht mehr für
den Bundestag 2002 kandidieren werde. Aber für einen 60-Jährigen, der seit
10 Jahren im Rollstuhl sitzt und seit 30 Jahren in der Politik ist, waren
die Möglichkeiten, etwas anderes zu machen, nicht so groß. Ich wollte
keinen Lobbyposten.
Warum nicht?
Ich bin protestantisch und wertkonservativ.
Und das heißt?
Ich mache nicht alles.
Ein gut dotierter Beraterjob in der Wirtschaft kam nicht infrage?
Nein. Ich war vor 1972 in der Steuerverwaltung und bin Lebenszeitbeamter
mit Rückkehranspruch. Aber mit 60 Jahren in die Steuerverwaltung
zurückzukehren, war auch keine attraktive Idee. In jüngeren Jahren wäre ich
vielleicht aus der Steuerverwaltung ausgeschieden und Anwalt geworden.
Warum Anwalt?
Als Verhandler und als Jurist muss man beide Seiten kennen. „Audiatur et
altera pars“…
… „man höre auch den anderen Teil“.
Das ist ein Grundsatz des römischen Rechts. Ich kann gut verhandeln. Das
hat noch niemand bestritten. In den deutsch-deutschen Verhandlungen mit
Alexander Schalck-Golodkowski habe ich Honecker mal im Spaß vorgeschlagen,
dass Schalck und ich eine Runde lang die Gegenposition vertreten – ich die
DDR, er die Bundesrepublik. Honecker hat aber keinen Spaß verstanden.
Politik war für Sie immer zu attraktiv, um etwas anderes zu machen.
Wenn du in der Bundesliga spielst, willst du nicht absteigen. Es ging ja
lange Zeit bergauf, erst langsam, dann, als Kohl 1982 Kanzler wurde, sogar
sehr schnell. Auf dem Höhepunkt kam der Querschnitt …
Das Attentat im Oktober 1990, das zu Ihrer Querschnittslähmung führte.
Das ist eine Lebenserfahrung. Ich habe den Einigungsvertrag mitverhandelt.
Als der am 31. August 1990 mittags um eins im Kronprinzenpalais
unterzeichnet wurde, war das vielleicht der wichtigste Moment in meinem
politischen Leben. Wir hatten bis nachts in Bonn im Innenministerium
verhandelt, die Gespräche mit der Opposition, der SPD, haben lange
gedauert, aber wir brauchten ja eine Zweidrittelmehrheit für die
Ratifizierung in Bundestag und Bundesrat. Ich musste die
Verhandlungsdelegation mit Günther Krause im Ministerium warten lassen,
weil ich im Kanzleramt mit der SPD-Spitze und dem Bundeskanzler saß. Gegen
zwei haben wir paraphiert. Am nächsten Tag im Kronprinzenpalais fiel eine
Last von mir ab. Aber als wir danach im Garten saßen und gefeiert haben,
kam die Polizei und sagte, um 14 Uhr könnte eine Bombe hochgehen, es gebe
eine Drohung. Ich sollte entscheiden, ob sie räumen sollen.
Und?
Ich habe gesagt: Wenn Sie mir sagen, wir müssen räumen, räumen wir. Wenn
Sie nicht sagen, dass wir räumen müssen, dann nicht. Sie haben nicht
geräumt. Ich gebe aber zu, ich habe ein paar Mal auf die Uhr geguckt, ob
endlich zwei Uhr vorbei ist. Das war ein großartiger Tag. Und neun Tage
später war alles ganz anders.
Neun Tage später, am 12. Oktober 1990, hat ein psychisch kranker Mann Sie
bei einer Wahlkampfveranstaltung durch Schüsse schwer verletzt. Sie
kämpften um Ihr Leben und sitzen seitdem im Rollstuhl. Wollten Sie damals
mit der Politik aufhören?
Ja, klar. Die meisten, denen so ein Unfall passiert, können in ihrem Beruf
nicht mehr arbeiten. Aber ich hatte das Angebot, weiterzumachen. Das war
für mich die beste Rehabilitationsmöglichkeit. Es war eine Chance,
psychisch damit fertig zu werden. Kohl hat gesagt: Sie können doch
Innenminister bleiben, das geht auch im Rollstuhl.
Hat sich der Umgang mit Ihnen nach dem Attentat verändert?
Wenig. Der Betrieb in Bonn ist gut mit mir umgegangen. Ich habe dem
SPD-Fraktionsvorsitzenden Hans-Ulrich Klose gesagt: Ich will keinen Rabatt,
weil ich im Rollstuhl bin. Besonders in Erinnerung ist mir Monika
Wulf-Mathies geblieben …
… die damalige Chefin der Gewerkschaft ÖTV.
Genau. Im Januar 1991 gab es Tarifverhandlungen für den öffentlichen
Dienst. Ich war als Innenminister Verhandlungsführer für den Bund.
Wulf-Mathies rief mich vorher an und sagte: Die Tarifverhandlungen werden
schwierig, 24-Stunden-Sitzungen können wir mit Ihnen nicht machen. Es dürfe
aber auch nicht der Eindruck entstehen, dass die Beschäftigten ein halbes
Prozent weniger Tariferhöhung kriegen, weil der Schäuble im Rollstuhl
sitzt. Sie wollte besprechen, wie wir damit umgehen. Das fand ich sehr gut.
Sie haben so lange mit Helmut Kohl zusammengearbeitet. Warum haben Sie sich
eigentlich gesiezt?
Wir haben uns lange gesiezt. Eines Tages hat er Theo Waigel das Du
angeboten – das musste er, weil der CSU-Vorsitzender war. Da hat Kohl dann
beschlossen, mir das Du auch anzubieten.
Ein Kollateral-Du.
Ja, genau. Es hat an unserem Verhältnis aber nichts geändert. Ich hatte
immer meinen eigenen Kopf. Aber ich bin loyal.
Was heißt das?
Ich habe Kohl gesagt: Ich mache, was er machen würde, wenn er sich mit den
Dingen beschäftigen würde. Ich mache, was in seinem Interesse ist. Das ist
mein Verständnis von Loyalität.
Loyalität bedeutet also, das umzusetzen, was man selbst für besser hält?
Eine interessante Definition.
Eben nicht. Wir haben viel diskutiert. Und im Zweifel hat Kohl gesagt: Wenn
du es hinkriegst, okay. Er wollte starke Leute um sich haben, denen er auch
viel Raum gab. Das war ein Zeichen von Führungsstärke.
War Angela Merkel auch so?
Als ich Finanzminister wurde, habe ich gesagt: Ich bin nicht bequem. Sie
hat gesagt: Ich brauche keinen bequemen, sondern einen starken
Finanzminister. Dann habe ich gesagt: Okay. Und ich war ja auch lange Zeit
eine Stütze ihrer Regierung. Nur am Ende haben wir uns ein bisschen
auseinandergelebt. Aber ich war loyal. 2015 wollten einige, dass ich mich
gegen Angela Merkel stelle. Das habe ich abgelehnt, genauso wie 1988/89,
als Geißler gegen Kohl putschen wollte. Aber im Grundgesetz steht eben
auch, innerhalb der Richtlinien verantwortet der Minister seinen
Geschäftsbereich selbst. Der Minister, nicht der Kanzler.
In Ihrer zweiten Rede im Bundestag ging es um die Steiner-Wienand-Affäre.
Die Union wollte 1972 Willy Brandt als Kanzler stürzen, verfehlte aber die
Mehrheit um zwei Stimmen. Ein SPD-Mann wurde verdächtigt, einen
CDU-Abgeordneten bestochen zu haben …
… und dass man später erfuhr, dass Geld von der Stasi geflossen ist, hat
die Sache auch nicht besser gemacht. Ich habe eine Grundsatzrede gehalten,
fast eine Dreiviertelstunde lang. Karl Carstens, der Fraktionsvorsitzende
der Union, war so begeistert von der Rede, dass er sie für den
niedersächsischen Wahlkampf auf eine Schallplatte pressen lassen wollte.
Für mich war die Vorstellung, dass man Stimmen im Bundestag kaufen konnte,
unvorstellbar. Ich war jung und vielleicht naiver als heute.
Was ist die gravierendste Veränderung seitdem?
Früher war es ehrenrührig, wenn man dabei erwischt wurde, nicht die
Wahrheit gesagt zu haben. Heute sind Fake News oft nichts Ehrenrühriges,
sondern fast normal in der politischen Auseinandersetzung. Das ist
gefährlich für die Demokratie. Diskussionen ohne Bezug auf Fakten gefährden
die Grundlagen der Demokratie. Deswegen glaube ich persönlich, dass dies
die größte oder die gefährlichste Krise ist, die wir zurzeit haben. Auch
wenn der Krieg im Moment alles andere in den Schatten stellt und die
ökologische Katastrophe alles andere als trivial ist. Bei der Krise der
Demokratie sind wir in Deutschland ja sogar noch im Vergleich zu anderen
Ländern gut dran.
Stimmen Sie zu, dass die Gefahr von rechts kommt?
Das kann man so allgemein nicht sagen.
Sondern?
Die Gefahr kommt daher, dass die seriöse Mitte bröckelt.
Aber das, was Sie als Problem beschreiben, Fake News zum Beispiel, die
kommen derzeit in Europa und den USA mehrheitlich ganz klar von rechts.
Es geht vielmehr darum, die demokratische Mitte resistenter gegenüber
derlei Vereinnahmungen zu machen: Egal, ob mehrheitlich von links oder
rechts.
Der Bundestag und die Abgeordneten haben enorm an öffentlichem Ansehen
verloren. Christian Ströbele, den Sie trotz aller inhaltlicher Differenzen
schätzten, hatte sich gewünscht, dass die Abgeordneten
[2][„selbstbewusster, unabhängiger und freier“] werden. Ist das ein Ausweg?
Ströbele konnte auch nur Ströbele sein, weil er die Ausnahme war. Als Regel
braucht der Parlamentarismus Fraktionen, in denen die Meinungsbildung
stattfindet und die im Normalfall geschlossen abstimmen.
Aber das hilft nicht gegen den Vertrauensverlust, den Abgeordnete erleben.
Würden mich Abgeordnete in der Sache um Rat bitten, würde ich vermutlich
sagen: Hört auf, in den Wahlkreisen jedem recht zu geben und ständig auf
die Umfragen zu schauen. Umfragen sind schlechte Entscheidungshilfen, denn
sie sind nur rückwärtsgewandte Meinungsbilder. Ein Auto steuert man nicht
nach vorne, wenn man nur in den Rückspiegel schaut. Politik hat einen
Führungsauftrag. Politik muss Vorstellungen entwickeln und dafür eintreten.
Im Zweifel auch erst mal gegen die Mehrheit, aber die kann man ja
verändern. Ein Beispiel dafür sind die Grünen, die jahrzehntelang in der
Minderheit waren, und nun in den allermeisten Regierungen Verantwortung
übernehmen.
Herr Schäuble, was haben Sie am 24. Februar 2022 gedacht?
Erst wollte ich es nicht glauben.
Sie hatten mit dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht gerechnet?
Es gab die Informationen des amerikanischen Geheimdienstes, die im
Unterschied beispielsweise zum zweiten Irakkrieg dieses Mal auch sehr
präzise waren. Aber bis zuletzt galt wohl: Es kann nicht sein, was nicht
sein darf.
Haben Sie etwas falsch gemacht?
Ich war immer gegen die Gaspipelines Nord Stream 1 und 2. 2014 habe ich
Putins Überfall auf die Krim und den Donbass mit der Annexion des
Sudetenlandes durch Deutschland in den 30er Jahren verglichen. Das hat mir
damals viel Kritik eingebracht. Aber als Innenminister hätte ich sehen
müssen, dass Russland in Tschetschenien nicht nur Terroristen bekämpft,
sondern auch brutal eine andere Agenda verfolgt. Aber ich habe mit meinem
russischen Amtskollegen über Antiterrorstrategien geredet. Annegret
Kramp-Karrenbauer hat dazu die besten Sätze gesagt: „Ich bin so wütend auf
uns. Wir haben alles gewusst und wollten es nicht sehen.“ Wir haben Fehler
gemacht.
Reagiert der Westen nach dem 24. Februar richtig? Wir liefern Waffen, aber
nicht grenzenlos und nur mit geringerer Reichweite.
Der Westen hält die Balance. Putins konventionelle Armee hat Schwächen,
aber man muss mit dem nuklearen Potenzial Russlands umgehen.
Manche halten Putins Drohung mit dem Atomkrieg nur für eine leere
Erpressungsgeste.
Das weiß man nicht. Sicher ist, dass glaubwürdige Abschreckung nutzt.
Glaubwürdig heißt realistisch. Deswegen fand ich es klug, dass die USA
offenbar Putin bedeutet haben, dass auf einen russischen Einsatz von
Atomwaffen kein nuklearer Weltuntergang folgen würde, sondern verschiedene,
in jedem Fall sehr schmerzhafte Reaktionen denkbar wären.
Die G20 hat die Drohung mit Atomwaffen verurteilt. Ist das ein Fortschritt?
Ja. Aber wir wollten doch gar nicht so viel über Politik reden.
Es ist schwer, mit Ihnen nicht über Politik zu reden. Was interessiert Sie
sonst?
Fußball. Für mich war es ein besonderes Ereignis, dass ich beim Endspiel um
die Fußballweltmeisterschaft 1974 neben Fritz Walter saß. Die
Fußballweltmeisterschaft 74, Beckenbauer, Müller, München …
Gegen die Niederlande.
Genau. Walter war 1954 Fußballweltmeister geworden und in meiner Jugend
unser fußballerisches Idol. Das Wunder von Bern. Das war meine
Weltmeisterschaft. Die Aufstellung kenne ich auswendig.
Herr Schäuble, um mit einer Querschnittslähmung Ihre Jobs durchzuhalten,
etwa als Finanzminister in der Finanzkrise, braucht es extreme Disziplin
und bestimmt auch eine gewisse Härte gegen sich selbst. War es das wert?
Die braucht man als Chef des Kanzleramts oder als Minister immer. Ich habe
mich manchmal zwingen müssen, bin aber relativ lange gut mit der
Querschnittslähmung klargekommen. Mit dem zunehmenden Alter gibt es
natürlich auch zunehmend multiple Risiken. Aber alt zu werden, ist das
unvermeidliche Risiko.
Macht Sie das Alter milde oder ungeduldig?
Auf der einen Seite macht es milde, weil man so viel gesehen hat. Man
kriegt einen gewissen Abstand. Auf der anderen Seite macht es ungeduldig.
Warum ist das so? Weil weniger Zeit bleibt?
Vielleicht. In manchem, im täglichen Umgang, kann ich schon ungeduldig
sein.
12 Dec 2022
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## AUTOREN
Sabine am Orde
Stefan Reinecke
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