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# taz.de -- Neue Protestbewegung in China: Leere weiße Blätter
> Tausende protestieren auf Chinas Straßen gegen die Coronamaßnahmen, doch
> es geht längst um mehr. Ihr Frust wird so schnell nicht abebben.
Bild: „Wir wollen Freiheit, wir wollen Menschenrechte!“ – Proteste am 27.…
Peking taz | Die weißen, unbeschriebenen DIN-A4-Blätter provozierten die
chinesische Regierung wie seit Jahrzehnten nichts mehr. Dabei hielten die
jungen Pekinger sie am Abend des ersten Adventssonntags nur vor die Brust.
Doch das leere Papier reicht als Symbol des Widerstands: Angesichts der
repressiven Zensur müssen subversive Botschaften ungeschrieben bleiben –
und trotzdem versteht sie jeder.
Verbal ließen die Menschen, von denen sich geschätzt Tausende am
Liangma-Fluss in Peking versammelten, keinen Zweifel an ihren Forderungen:
„Wir wollen Freiheit, wir wollen Menschenrechte!“, brüllte die Menge immer
wieder. Viele der Demonstranten [1][nahmen nach Mitternacht ihre Maske ab]
– und zeigten sich damit furchtlos gegenüber den Überwachungskameras und
anwesenden Zivilpolizisten. An diesem Abend blieben die Sicherheitskräfte
auf Distanz, schritten nicht ein. Noch nicht.
Erst am nächsten Tag schlug die [2][staatliche Gewalt mit voller Wucht
zurück]. Am Ort des Geschehens patrouillierten Polizisten in
Mannschaftsstärke, und in mehreren Kilometern Umkreis wachten an
Straßenkreuzungen Beamte in Zivil. Aber selbst aus der Ferne waren sie
leicht zu erkennen, dank ihrer schneeweißen N95-Coronamasken, die die
Regierung an ihre Bediensteten ausgegeben hat.
So flackerten die [3][ersten politischen Proteste in Chinas Hauptstadt seit
den 1990er Jahren] notgedrungen nur kurz auf. Aber sie machten kritische
Stimmen sichtbar, die bisher unter Staatspräsident Xi Jinpings Regime
verborgen blieben.
## Ausforschen, Überwachung, Abriegeln
Viele wird [4][ihr Mut einen hohen Preis kosten]. Noch eine Woche später
hält die perfide Einschüchterungskampagne des chinesischen
Sicherheitsapparats an. Der Staat nutzt dabei ausgerechnet die digitalen
Überwachungsmethoden, die er während der Pandemie implementiert hat –
vorgeblich, um die Menschen zu schützen. Aber er forscht keine Infizierten
aus, sondern unliebsame Kritiker.
Ausgelöst hatte die Proteste ein Wohnungsbrand im nordwestchinesischen
Ürümqi, einer Stadt mit etwa 4 Millionen Einwohnern. Beim Brand kamen
mindestens zehn Menschen ums Leben. Vieles deutet darauf hin, dass sie zum
Opfer der Lockdownmaßnahmen wurden: In sozialen Medien berichten Anwohner,
dass ihre Notausgänge verriegelt waren und sich die Rettungskräfte quälend
lange durch Metallzäune und Straßensperren kämpfen mussten. Über 100 Tage
befand sich die Stadt bereits im Coronalockdown. Dem darauffolgenden
Protest schlossen sich Menschen in Dutzenden Städten des ganzen Landes an.
Für Außenstehende ist schwer vorstellbar, was die alltäglichen
Coronamaßnahmen – nicht der Lockdown – in China bedeuten: In sämtlichen
Städten müssen die Bewohner alle 72 Stunden zum PCR-Test anstehen, um
überhaupt in Supermärkten einkaufen zu können. Auch den Gang ins Büro
registrieren Behörden per digitalem „Gesundheitscode“ am Smartphone.
Selbst die eigenen vier Wände prägt eine tiefe Ungewissheit. An jedem
Morgen können Seuchenschutzmitarbeiter in Ganzkörperanzügen vor der
Wohnungsanlage stehen und die Türen verriegeln. Für einen tatsächlichen
Lockdown reicht ein einzelner Coronafall in der gesamten Nachbarschaft.
## Einige Städte lockern die Politik, aber die Wut bleibt
Bei den Protesten ging es den jungen Chinesen aber stets um mehr als eine
offenere Pandemiepolitik. Sie forderten eine Öffnung der Gesellschaft: mehr
Meinungsfreiheit, weniger Beschränkungen durch die Partei. Bei den
Protesten in Shanghai schrie die Menge sogar: „[5][Nieder mit der Partei,
nieder mit Xi Jinping!“] Das ist in einem Land, in dem die Bewohner den
Namen ihres Staatschefs meist nur im Flüsterton auszusprechen wagen,
geradezu unfassbar.
Die Staatsführung antwortete auf diese erste Herausforderung seit Jahren
wenig überraschend mit Einschüchterung und Verhaftungen. „Wir müssen hart
gegen Infiltration und Sabotage feindlicher Kräfte durchgreifen“, hieß es
in einer ersten Stellungnahme der Partei. Eine Warnung, die für viele zur
traurigen Wirklichkeit wurde. Polizisten hielten in Shanghais U-Bahnen und
Straßenzügen gezielt nach jungen Menschen Ausschau, filzten ihre
Smartphones, löschten kritische Aufnahmen und ausländische Apps.
Aber das war nur die eine Seite der Medaille. Nach den Protesten lockerte
die Regierung tatsächlich ihre „Null Covid“-Politik. Am Mittwoch sprach
[6][Chinas Vizepremierministerin Sun Chunlan], von vielen als
„Lockdown-Lady“ verschrien, plötzlich von einer „neuen Phase“ der Pand…
„Da die Omikronvariante weniger pathogen geworden ist, mehr Menschen
geimpft werden und wir mehr Erfahrungen in der Covidprävention gesammelt
haben, befindet sich unser Kampf gegen die Pandemie in einem neuen Stadium
und bringt neue Aufgaben mit sich“, sagte die 72-Jährige.
Wenige Stunden später lockerten die ersten Städte. In Guangzhou öffneten
die Schulen wieder, die stadtweiten Massentests wurden beendet und die
meisten Lockdowns aufgehoben. Auch die Provinzhauptstädte Zhengzhou und
Chongqing zogen mit ähnlichen Lockerungen nach. Und selbst in Peking dürfen
sich seit Freitag erstmals Infizierte in den eigenen vier Wänden isolieren
statt in den dafür vorgesehenen Zentren.
Für viele Chinesen dürfte die eingeleitete schrittweise Rückkehr zur
Normalität den angestauten Frust dämpfen. Doch die jungen Menschen in
Shanghai und Peking werden sich mit Sicherheit nicht damit zufriedengeben.
Ihr Protest ist zwar verstummt, doch die Gründe für die Wut der Menschen
keineswegs aufgelöst.
Und den Geist der Proteste tragen andere im Ausland weiter. In Hongdae, dem
Studentenviertel der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, bekundeten am
Mittwoch Dutzende Chinesen ihre Solidarität mit den Protesten in der
Heimat. Auch sie hielten DIN-A4-Blätter in die Luft, weiß und
unbeschrieben.
2 Dec 2022
## LINKS
[1] /Tausende-protestieren-in-Peking/!5898419
[2] /Null-Covid-Politik-in-China/!5893777
[3] /Nachruf-auf-Chinas-Ex-Praesident-Jiang/!5895556
[4] /Protestwelle-in-China/!5895088
[5] /Proteste-in-China/!5895121
[6] /Corona-Beschraenkungen-in-China/!5895674
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
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