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# taz.de -- Wahlwiederholung in Berlin: Die ungerechte Neuwahl
> Die Pannen bei der Wahl 2021 waren weitreichend. Trotzdem bleibt die
> Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Urteils der
> Verfassungsrichter*innen.
Bild: Das machen wir gleich nochmal: die Abgeordnetenhauswahl 2021 in Berlin
Die Argumentation der Richter*innen am Berliner Verfasssungsgericht ist
nachvollziehbar: Weil man nicht sicher sagen kann, wie hoch das Dunkelfeld
der Pannen am Wahltag 2021 war, muss [1][die ganze Abgeordnetenhauswahl
wiederholt werden]. Im Zweifel lieber gründlich, hat das Gericht am
Mittwoch entschieden, so könnte man salopp formulieren.
Obwohl niemand in Abrede stellt, dass massive, sehr wahrscheinlich auch
mandatsrelevante Fehler am Wahlabend passiert sind: Es lohnt sich kurz über
das Wort Verhältnismäßigkeit nachzudenken. Und zwar gerade, weil das
Kernargument der Richter*innen [2][das Vertrauen in die demokratischen
Strukturen] ist, das sie bei den Berliner*innen verloren gegangen
sehen, und das sie mit einer vollständigen Wiederholung der Wahl
wiederherstellen wollen.
Auch die Berliner Verfassungsrichter*innen waren in ihrem Urteil am
Mittwoch nicht eindeutig. Entschieden wurde mit 7 zu 2 Stimmen, es gab ein
Sondervotum. Die Verfassungsrichterin Ulrike Lembke, Professorin für
Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität, wird damit zitiert, dass
sie gerade bei den Erststimmen keine weitreichende Mandatsrelevanz sehe.
Zumindest sei diese nicht in den Umfang gegeben, dass es eine komplette
Wahlwiederholung in allen Stimmbezirken rechtfertigen würde. Damit stärke
man nicht verloren gegangenes Vertrauen in Demokratie – sondern erreiche
eher das Gegenteil.
Die Frage ist also: Wie bewertet man die möglicherweise hohe Dunkelziffer
an Wahlpannen, die am 26. September 2021 passiert sind? 20.000 bis 30.000
Wähler*innen, schätzen die Richter*innen, wurden in ihrer Stimmabgabe
beeinträchtigt. Sie legen dafür die Gesamtzahl der Minuten zugrunde, die
Wahllokale wegen fehlender oder falscher Stimmzettel geschlossen waren,
plus die Zeit, in denen noch nach 18 Uhr gewählt wurde – obwohl da die
ersten Prognosen im Fernsehen und Internet veröffentlicht waren. Die Zeit
wird ins Verhältnis gesetzt mit den insgesamt 1,8 Millionen abgegebenen
Stimmen sowie einer angenommenen Zeit von drei beziehungsweise sechs
Minuten, die jede*r in der Wahlkabine zum Kreuzen gebraucht hat.
## 1,1 Prozent von 1,8 Millionen
20.000 Menschen, die in ihrer Stimmabgabe behindert wurden, sind bei einer
demokratischen Wahl zweifellos 20.000 zu viel. Wenn man die Frage nach der
Verhältnismäßigkeit stellt, muss man aber auch sagen: Es sind nicht mehr
als 1,1 Prozent von 1,8 Millionen.
Vieles ist nicht sauber dokumentiert worden am Wahlabend, auch das ist
klar. Die Dunkelziffer der in ihrer Wahl behinderten oder beeinflussten
Wähler*innen könnte also deutlich höher liegen als bei 20.000.
Vielleicht aber auch nicht. Genaues weiß man eben nicht.
Die Frage ist jetzt: Was empfindet man als möglicherweise größeren Schaden
für die Integrität einer demokatischen Wahl? Legt man die Messlatte nicht
zu hoch, wenn man künftig argumentieren kann: Es könnten noch viel mehr
Fehler passiert sein als nachweisbar sind, also wählen wir vorsichtshalber
neu?
Eine Klage von gewählten Abgeordneten vor dem Bundesverfassungsgericht
gegen das Berliner Urteil ist zwar möglich – die meisten
Rechtswissenschaftler, die sich bisher öffentlich geäußert haben, halten
sie aber für aussichtslos.
So oder so ist diese Wahlwiederholung eigentlich keine Wiederholung,
sondern eine Neuwahl. Sie findet unter anderen Voraussetzungen statt, weil
die politische Großwetterlage sich geändert hat: Die Inflation, der Krieg
in der Ukraine, die Geflüchteten, die Klima-Aktivist*innen der Letzten
Generation. Das waren alles keine Themen, die 2021 für die Menschen eine
Rolle spielten. Womöglich wird auch die Wahlbeteiligung niedriger sein,
weil sich bei einigen noch eine gewisse Verdrossenheit vorhanden ist
angesichts der dilettantischen Wahlorganisation von 2021.
Man wiederholt also eine Wahl, die nicht zu wiederholen ist. Und die Frage
bleibt, ob weniger Wiederholung nicht verhältnismäßiger gewesen wäre.
19 Nov 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Anna Klöpper
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