# taz.de -- Debatte um Einbürgerungsreform: Als wäre es 1913 | |
> In der Debatte über eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts offenbaren | |
> Union und FDP ein überholtes Weltbild. Die Missgunst ist verstörend. | |
Bild: Wer bekommt in Zukunft einen deutschen Pass? | |
Immer wieder sind in diesen Tagen Politiker*innen vor allem von CDU, | |
CSU und FDP zu hören, wie sie sprechen, als wäre es 1913. Die Debatte rund | |
um eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts hat den politischen Betrieb | |
im Berliner Regierungsviertel von jetzt auf gleich in die Vergangenheit | |
katapultiert. So nach dem Motto: Endlich wieder rechtspatriotische | |
Identitätspolitik machen wie in den guten alten Zeiten, in denen | |
Formulierungen wie „Kinder statt Inder“, „Das ist hier unser Land“ und | |
[1][„Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“] | |
Konjunktur hatten. | |
Die entsprechenden politischen Entscheidungsträger*innen nehmen dabei | |
das Unwort „Integration“ in den Mund und buchstabieren „Einwanderungsland… | |
als würden sie Hundekacke beim Gassigehen aufsammeln: Angewidert betrachten | |
sie eine gesellschaftliche Realität, die das seelenlose Privileg eines | |
deutschen Passes von Identitätskategorien getrennt hat; eine Realität, die | |
dieses Privileg pragmatisch an Menschen in diesem Land verteilen möchte. | |
Nun tauchen Politiker*innen wieder auf, deren überholtes Weltbild | |
längst von ebendieser Realität überholt wurde. In ihren Worten schwingt | |
immer mit, dass sie eine Reform und damit einen vereinfachten Zugang zur | |
deutschen Staatsbürgerschaft aus einer gekränkten Haltung heraus ablehnen. | |
Almans gönnen nicht, und das hat sich allein in der vergangenen Woche an | |
vielen Stellen gezeigt: | |
Die Vorsitzende im Innenausschuss des Bundestage, Andrea Lindholz von der | |
CSU, möchte beispielsweise bei der Vergabe der Staatsbürgerschaft unbedingt | |
die „christlich-abendländische Werteordnung“ geschützt sehen. So erklärte | |
sie es in einem [2][Rundfunkinterview]. | |
## Blockade-Haltung auch vonseiten der FDP | |
Hört man sich das Interview komplett an, fällt auf, dass Lindholz sehr | |
viele Begriffe in einen Topf wirft: Staatsbürgerschaft, Arbeitsmigration, | |
die Geschichte der ehemaligen sogenannten Gastarbeiter*innen, | |
Fachkräftemangel, Sprachkenntnisse, vermeintlich „deutsche Werte“ oder das | |
Recht auf Asyl. Letzteres wischt die CSU-Politikerin gerne mit Nebensätzen | |
einfach weg. Viele syrische und afghanische Geflüchtete, so ihre | |
Argumentation, würden weiterhin Transferleistungen empfangen. Ihnen nun | |
vereinfacht die Staatsbürgerschaft zu verleihen, wäre zu viel des Guten. | |
Diese „christlich-abendländische Werteordnung“, die Schutzsuchende als | |
Bürde begreift und das Recht auf Asyl zur Disposition stellt, erinnert | |
tatsächlich stark an volle Plastiktüten beim Gassigehen. So eine | |
ideologisch aufgeladene, weiß imaginierte und wertebefreite | |
Identitätspolitik kann nicht politische Grundlage für eine | |
fortschrittliche, solidarische und egalitäre Gesellschaft sein. | |
Eigentlich, so wird bei den vielen, wirren Statements der | |
Politiker*innen in diesen Tagen klar, bräuchte es einen | |
Integrationskurs in Rechtsstaatlichkeit, basaler Politikwissenschaft und | |
fundamentalen Menschenrechten, um überhaupt für ein Parlamentsmandat | |
antreten zu dürfen. Politiker*innen wie Andrea Lindholz würden dabei | |
mit hoher Wahrscheinlichkeit durchfallen, oder sie müssten zumindest vorher | |
ein paar Hausaufgaben machen. | |
Aber nicht nur „echte Deutsche“ zeigen sich dieser Tage von ihrer weißesten | |
Seite. Auch jene, die auf der Diversitywelle überhaupt erst zu ihren | |
politischen Posten in Parteien und Parlamenten geritten sind, machen | |
rassistische Stimmung gegen eine mögliche Reform des | |
Staatsangehörigkeitsrechts: FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, Kind | |
iranischer Akademiker*innen, gönnt anderen nichtweißen Menschen nicht | |
die deutsche Staatsbürgerschaft und macht in FDP-Manier Stress in der | |
Ampel-„Fortschritts“-Koalition. | |
## Stimmung für den Stammtisch | |
In [3][einem Interview sagte Djir-Sarai], jetzt sei „nicht der Zeitpunkt | |
für eine Vereinfachung des Staatsbürgerschaftsrechts. Es gibt bisher | |
keinerlei Fortschritte bei der Rückführung und Bekämpfung der illegalen | |
Migration.“ Und auch bei Djir-Sarai zeigt sich gut, wie verschiedene Ebenen | |
der Migrations- und Fluchtpolitik vermischt werden – allein, so scheint es, | |
um für Stimmung an den Stammtischen zu sorgen. | |
Beim identitätspolitischen Stimmenfang gilt auch bei der so | |
leistungsorientierten FDP Lebensleistung nicht mehr. Ein großer Streitpunkt | |
in der Debatte besteht nämlich darin, dass laut den aktuellen Plänen gemäß | |
Koalitionsvertrag ehemalige sogenannte Gastarbeiter*innen auf Wunsch | |
vereinfacht an die deutsche Staatsbürgerschaft kommen können. Indem die nun | |
sehr alten Migrant*innen aus Marokko oder der Türkei keine besonderen | |
Deutschkenntnisse mehr nachweisen müssen, ihre bisherige Staatsbürgerschaft | |
behalten und den Lebensabend dort genießen können, wo sie es möchten. | |
Diese Menschen haben dafür gesorgt, dass Politiker*innen wie Andrea | |
Lindholz und Bijan Djir-Sarai überhaupt zu dem wurden, was sie heute sind. | |
Gastarbeiter*innen haben zusammengeschraubt, haben Waren von A nach B | |
transportiert, haben sich von der deutschen Wirtschaft ausbeuten lassen, | |
haben bei Lindholzes in ihren Reihenhäusern geputzt und in den | |
Vorlesungssälen in den Universitäten der Djir-Sarais. | |
Den Arbeiter*innen, die ihre Gesundheit und ihre Würde in Deutschland aufs | |
Spiel gesetzt haben, nun die Option auf etwas Anerkennung zu nehmen, ist | |
deutsche Leitkultur pur. Dabei, und das ist vielen von Rassismus | |
betroffenen Menschen klar, ist die deutsche Staatsbürgerschaft natürlich | |
keine Garantie für ein sicheres Leben in diesem Land. Eine Reform wäre | |
lediglich ein Eingeständnis, dass der Reichtum dieser Gesellschaft auf dem | |
Rücken anderer Menschen erwirtschaftet wurde. | |
Die CSUlerin Andrea Lindholz sagt, dass die deutsche Staatsbürgerschaft am | |
Ende einer „gelungenen Integration“ stehen solle. Die aktuell geltenden | |
Hürden wolle sie gerne wie viele andere Politiker*innen beibehalten. | |
Es ist klar, dass hinter dieser Haltung Missgunst und ein sehr altes, | |
verstörendes Verständnis von Volk steht, das im Reichs- und | |
Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahr 1913 zu finden ist. Der | |
entsprechende Gesetzestext ist aktuell Grundlage für das bisher geltende | |
Staatsangehörigkeitsrecht, das die Lindholzes und Djir-Sarais nicht | |
antasten wollen. Das wiederum sagt viel über diese Politiker*innen | |
aus. | |
28 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /AfD-und-Pegida-in-Dresden/!5800925 | |
[2] https://www.inforadio.de/rubriken/interviews/2022/11/26/andrea-lindholz-csu… | |
[3] https://rp-online.de/politik/deutschland/fdp-erteilt-ampel-partnern-bei-ein… | |
## AUTOREN | |
Mohamed Amjahid | |
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