# taz.de -- Anwalt über neues Staatsbürgerrecht: „Riesenangriff auf Kinderr… | |
> Der Entwurf für ein neues Staatsbürgerrecht verschlechtere teils die | |
> Lage, sagt Jan Sürig. Armen Kindern werde der Weg zum deutschen Pass | |
> versperrt. | |
Bild: Deutscher Reisepass | |
taz: Herr Sürig, Sie kritisieren den Entwurf für ein neues | |
Staatsbürgerschaftsgesetz. Dabei sieht der vor, dass | |
[1][Ausländer*innen schneller eingebürgert werden.] Der Doppelpass wird | |
möglich, und ehemalige Gastarbeiter*innen sollen leichter an den Pass | |
kommen. Wo ist das Problem? | |
Jan Sürig: Die schnelleren Einbürgerungen und die neuen Regelungen für | |
ehemalige Gastarbeiter*innen begrüße ich natürlich. Das Problem ist, | |
dass im Entwurf auch eine [2][deutliche Verschärfung der | |
Ausnahmeregelungen] für Personen steckt, die Sozialleistungen beziehen. Wer | |
solche Leistungen erhält, kann sich prinzipiell nicht einbürgern lassen. | |
Das war bisher so und wird auch so bleiben. Aber bisher gibt es Ausnahmen | |
für Personen, die staatliche Leistungen beziehen, dies aber „nicht zu | |
vertreten haben“, wie es im Gesetzestext heißt. Diese Stelle fehlt im neuen | |
Entwurf. | |
Was bedeutet das? | |
Es geht darum, wem der Leistungsbezug nicht vorgeworfen werden kann. Im | |
Moment können Kinder auch dann eingebürgert werden, wenn sie | |
Sozialleistungen empfangen, etwa weil ihre Eltern alleinerziehend oder | |
chronisch krank sind. Diese Kinder haben es nicht zu vertreten, dass sie | |
Sozialleistungen empfangen und deshalb steht das einer Einbürgerung derzeit | |
nicht im Weg. Der neue Entwurf sieht diese Ausnahme aber nicht mehr vor. | |
Ein Riesenangriff auf die Kinderrechte. | |
Kinder werden dafür bestraft, dass ihre Eltern arm sind? | |
Es entsteht ein Kreislauf, bei dem arme Eltern ohne deutsche | |
Staatsbürgerschaft diesen Status an ihre Kinder weitergeben. Und weil die | |
Kinder ohne deutschen Pass sehr viel schlechtere Chancen auf dem | |
Arbeitsmarkt haben, drohen sie selbst arm zu bleiben und Sozialleistungen | |
beziehen zu müssen. Das verhindert dann die Einbürgerung und immer so | |
weiter. So wird das Problem auf die nächste Generation übertragen. | |
Statt dem alten Zusatz, dass Leistungsbezieher*innen eingebürgert | |
werden können, wenn sie es nicht zu vertreten haben, formuliert der neue | |
Entwurf ja einige neue explizite Ausnahmen. | |
Das stimmt. Nur fallen diese neuen Ausnahmen bisher alle schon in die | |
Gruppe derjenigen, die es nicht zu vertreten haben, Sozialleistungen zu | |
beziehen. Das einzig wirklich Neue sind die Ausnahmen vom schriftlichen | |
Sprachtest für ehemalige Gastarbeiter. Das ist wirklich eine Verbesserung. | |
Aber dafür gibt es eben viele andere Gruppen, für die sich die Lage | |
verschlechtert, da geht es nicht nur um Kinder. | |
Zum Beispiel? | |
Es fallen Ausnahmen für chronisch Kranke und Menschen weg, die Angehörige | |
pflegen. Auch sie haben es nicht zu vertreten, wenn sie Sozialleistungen | |
empfangen. Ich habe eine Mandantin, die iranische Staatsbürgerin ist und | |
ihren Sohn pflegt, der ist praktisch rund um die Uhr betreuungsbedürftig. | |
Deshalb kann sie nicht arbeiten und empfängt Bürgergeld. Würde der | |
Gesetzentwurf beschlossen, wie er ist, könnte sie nicht mehr eingebürgert | |
werden. | |
Ein anderes Beispiel sind Menschen in Ausbildung oder während eines | |
freiwilligen sozialen Jahrs. Die haben oft ein so niedriges Einkommen, dass | |
sie nebenher mit Leistungen vom Staat aufstocken. Das sie künftig nicht | |
mehr eingebürgert werden könnten, ist absurd: Der Staat will doch, dass | |
junge Menschen sich engagieren. Aber wenn junge Ausländer*innen das | |
tun, werden sie dafür bestraft. | |
Verfolgt die Ampel mit dem Gesetzentwurf das Ziel, armen Menschen die | |
Staatsbürgerschaft zu verwehren? Geht es da um eine wirtschaftliche | |
Kosten-Nutzen-Logik? | |
Die FDP betont zwar gern, dass es die deutsche Staatsbürgerschaft nur für | |
Menschen geben soll, die finanziell für sich selbst sorgen. Aber dass sie | |
arme Kinder so bestrafen will, wie es der Entwurf vorsieht, kann ich mir | |
nicht vorstellen. Ich glaube, die zuständigen Politiker agieren im Moment | |
einfach kopflos. Man hat das nicht zu Ende gedacht. | |
Bloße Naivität? | |
Die Änderungen widersprechen ja teils auch den sonstigen Zielen der | |
Bundesregierung. Zuletzt gab es wieder viele Berichte darüber, dass 25 | |
Prozent der Viertklässler nicht richtig lesen können. Daran will die | |
Politik unbedingt etwas ändern. Gleichzeitig droht man aber mit dem neuen | |
Staatsbürgerrecht den Druck auf die ausländischen Kinder zu erhöhen, sie | |
dauerhaft auszuschließen, wenn sie aus armen Familien kommen. Das sorgt | |
natürlich für Konzentrationsschwächen und schlechtere Lernergebnisse. | |
Dann ist da der Arbeitskräftemangel, der für alle im Alltag offensichtlich | |
ist: Busse fallen aus, Restaurants haben nicht genug Kellner*innen, von | |
Fachkräften gar nicht zu reden. Gleichzeitig verschärft die Regierung | |
Einbürgerungsregeln und signalisiert denselben Leuten, die als | |
Arbeitskräfte gesucht werden, dass sie als Staatsbürger unerwünscht sind, | |
sobald sie auch nur einen Euro Anspruch auf Jobcenterleistungen haben. | |
Was halten Sie von den im Entwurf vorgesehenen Hürden, die etwa | |
Antisemit*innen an der Einbürgerung hindern sollen? | |
Das scheint eine gute Idee, die aber in der Praxis zu einem | |
Bürokratiemonster werden könnte. Schon jetzt ist es ja so, dass Menschen | |
kaum Chancen auf eine Einbürgerung haben, wenn sie zu Strafen von über 90 | |
Tagessätzen verurteilt wurden. Wer wegen antisemitischer Beleidigung | |
verurteilt wird, erhält in den allermeisten Fällen eine Strafe, die darüber | |
hinausgeht. Es dürfte sich also nicht allzu viel ändern. Aber die | |
Staatsanwaltschaften müssten wohl eine ganze Menge neuen Personals | |
einstellen, um Infos über Antisemiten an die Ämter zu übermitteln, wie es | |
der Entwurf vorsieht. | |
Immerhin die obliagtorischen Einbürgerungszeremonien sind doch aber eine | |
schöne Idee? | |
Das klingt zunächst nur nach lächerlicher Folklore. In der Praxis könnten | |
die Feiern aber zu noch längeren Wartezeiten führen. Schon jetzt dauert es | |
ja oft unverschämt lange, meist Jahre, bis der Einbürgerungsprozess | |
abgeschlossen ist. Wenn die Behörden nun auch noch geeignete Räume für die | |
Feiern organisieren müssen, wird das noch schlimmer. Ich prophezeihe, dass | |
die Einbürgerungsfeiern drei bis sechs Monate Wartezeit zusätzlich | |
bedeuten, bis die Menschen tatsächlich ihre Urkunde haben. Und erst ab dann | |
sind sie ja rechtlich Staatsbürger. | |
Verbände bemängeln auch die fehlenden Verbesserungen für Staatenlose im | |
neuen Entwurf. | |
Diese Menschen sind ja in den meisten Fällen gar nicht wirklich staatenlos, | |
sondern haben nur nicht die richtigen Papiere und kommen aus failed states, | |
von denen sie die richtigen Dokumente einfach nicht beschaffen können. Da | |
bräuchte es eigentlich großzügigere Regelungen, damit etwa Geschwister die | |
Identität solcher Personen bestätigen können. Davon steht im neuen | |
Gesetzentwurf aber nichts. | |
Dabei ist das eine wirklich dringende Baustelle, weil die in Deutschland | |
geborenen Kinder von Personen aus Ländern wie Syrien, Eritrea, Somalia oder | |
Afghanistan mit ungeklärter Identität oft selbst nur | |
Geburtsregistereinträge bekommen, in denen neben den Namen der Eltern der | |
Zusatz „Identität nicht nachgewiesen“ steht. Damit bleibt auch die | |
Identität der Kinder ungeklärt, der Status vererbt sich gewissermaßen. | |
Gibt es noch mehr Probleme? | |
Auch für Menschen mit humanitärer Aufenthaltserlaubnis verbessert der | |
Entwurf die Lage nicht. Nehmen wir als Beispiel eine Romafamilie aus dem | |
Kosovo. Die Mutter hat wegen antiziganistischen Angriffen eine | |
posttraumatische Belastungsstörung. Weil die in ihrem Herkunftsland nicht | |
richtig behandelt werden kann, haben sie und ihre Familie eine humanitäre | |
Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Die Kinder können aber erst die | |
Staatsbürgerschaft beantragen, wenn sie 16 Jahre alt werden, weil sie erst | |
dann eine Niederlassungserlaubnis bekommen können. Das gilt auch, wenn die | |
Kinder schon ihr ganzes Leben in Deutschland sind und hier geboren wurden. | |
Haben Sie denn Hoffnung, dass der Entwurf noch angepasst wird? | |
Bisher ist es ja nur ein Referentenentwurf, zu dem nun erst mal Verbände | |
Stellung nehmen. Von denen sind natürlich viele entsetzt. Auch Teile der | |
SPD sind unglücklich mit dem aktuellen Entwurf. Der Bundestagsabgeordnete | |
Hakan Demir hat etwa schon öffentlich gefordert, bisher bestehende | |
Ausnahmen auch in den neuen Gesetzentwurf aufzunehmen. Ich habe also | |
Hoffnung, ja. | |
15 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Gesetzentwurf-zur-Staatsbuergerschaft/!5935662 | |
[2] /Migrationspolitik-in-Deutschland/!5936881 | |
## AUTOREN | |
Frederik Eikmanns | |
## TAGS | |
Doppelpass | |
Einbürgerung | |
Reisen | |
Gastarbeiter | |
Schwerpunkt Ausländerfeindlichkeit | |
Staatsbürgerschaft | |
Staatsangehörigkeit | |
Staatsangehörigkeit | |
Staatsbürgerschaft | |
Schwerpunkt Ausländerfeindlichkeit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Filmpremiere im Aquarium: Rechte sind Privilegien | |
Der gemeinsame Kampf für einen Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit | |
verbindet die Protagonist:innen des Films „Das Recht, Rechte zu haben“. | |
Neues Staatsbürgerrecht: Staatsbürgerreform beschlossen | |
Das Kabinett hat den Entwurf von Innenministerin Faeser gebilligt. Grüne | |
und Linke kritisieren fehlende Ausnahmen für arme Menschen. | |
Einbürgerung von staatenlosen Menschen: „Staatenlose sind nicht sichtbar“ | |
Das neue Staatsbürgerrecht ist die Chance, etwas für staatenlose Menschen | |
zu tun, sagt Aktivistin Christiana Bukalo. Noch sind sie nicht mal erwähnt. | |
Migrationspolitik in Deutschland: Fortschritte, aber auch Verschärfungen | |
Das Bündnis „Pass(t) uns allen“ kritisiert den Entwurf zum | |
Staatsangehörigkeitsrecht. Wer Sozialhilfe bekommt, habe kaum Chancen | |
auf Einbürgerung. | |
Gesetzentwurf zur Staatsbürgerschaft: Schneller zum deutschen Pass | |
Das Innenministerium geht einen Trippelschritt bei der Reform. Aber vor | |
jeder Einbürgerung soll genau geprüft werden. | |
Debatte um Einbürgerungsreform: Als wäre es 1913 | |
In der Debatte über eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts offenbaren | |
Union und FDP ein überholtes Weltbild. Die Missgunst ist verstörend. |