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# taz.de -- Leben in der eigenen Wohnung: Obdachlose helfen Obdachlosen
> Vor gut einem Jahr startete in Bremen Housing First als Modellprojekt. Es
> läuft gut, auch dank Mitarbeitern, die selbst einmal obdachlos waren.
Bild: Das Leben auf der Straße traumatisiert: Obdachloser in Bremen
Bremen taz | Nach einem langen Tag die Tür hinter sich zumachen, sich aufs
Sofa fallen lassen und die Welt um sich herum für ein paar Stunden
ausblenden: Für obdachlose Menschen ist das nicht möglich. Der Weg zur
eigenen Wohnung ist oft mit vielen Hürden belegt. Ändern soll das der in
den USA entwickelte Ansatz Housing First.
In Bremen startete [1][das bis Ende 2023 befristete Modellprojekt] vor gut
einem Jahr und wurde von Anfang zusammen mit einem aktivistischen
Obdachlosen entwickelt, der inzwischen aus dem Projekt ausgeschieden ist.
In Hamburg, wo es im Juli losging, ist man noch in der Aufbauphase.
Ein bisschen nach frisch eingezogen sieht es noch aus, das Bremer Büro von
Housing First. Es liegt in einer Seitenstraße in der Bremer Neustadt.
Hinter bodentiefen Fenstern und einer Glastüre befindet sich der Bereich,
in dem Wohnungssuchende empfangen werden: links ein Couchtisch, mit einem
braunen Sofa und ein paar Sesseln, rechts ein Tisch mit einer bunten
Mischung von Tassen; angelehnt an den Tisch sind ein paar Leinwände auf
denen eine Landschaft mit Bäumen zu sehen ist. „Wir fangen gerade erst an,
über Deko nachzudenken“, sagt Anne Blankemeyer, die das Projekt seit
November 2021 koordiniert. In den Räumen in der Neustadt sitzen sie seit
Februar.
In der oberen Etage befindet sich ein kleines Großraumbüro, ein Raum mit
Spüle, der „irgendwann mal eine Küche für das Team“ werden soll, und ein
Konferenzraum mit einem langen Tisch aus hellem Holz und ein paar Stühlen.
In einer Ecke stehen, noch in Pappkartons verpackt, die Küchengeräte.
## Bedürfnisse der Teilnehmer*innen im Blick
Christian de Klark ist einer von zwei im Projekt angestellten
Betreuungshelfern. Der 46-Jährige trägt eine Schiebermütze und war, wie
sein Kollege, selber einmal obdachlos. Dieser Peer-Ansatz bietet laut
Christian de Klark eine weitere Perspektive, die die klassische Perspektive
der Sozialarbeiter*innen ergänzt, sodass die Bedürfnisse der
Teilnehmer*innen besser in den Blick genommen werden können. Der Ansatz
biete außerdem eine andere Ansprache für die Teilnehmer*innen, sagt
Christian de Klark. „Die fragen dann: Kann Christian vorbeikommen und auf
dem Sofa sitzen?“ Mit ihm als ehemaligen Obdachlosen sei es oft möglich,
schambefreiter und gelassener zu sprechen.
„Die quatschen lieber mit mir, weil sie denken, die anderen haben gleich
ein fertiges Konzept in der Tasche und das fühlt sich dann gleich nach
Arbeit an.“ Seine Arbeit sei natürlich genauso soziale Arbeit, aber sie
helfe den Beteiligten, freier zu sprechen. Dabei versucht Christian de
Klark aber auch transparent mit seiner Rolle umzugehen. „Klar bin ich hier
zum Kaffeetrinken, aber eben nicht nur.“
Zu Beginn des Projekts hatte de Klark auch eigene Fallverantwortung,
inzwischen ist er – auf eigenen Wunsch – einen Schritt zurück getreten: Er
ist weiterhin – als Bezugsbegleiter – fester Ansprechpartner für einzelne
Teilnehmer*innen und übernimmt ansonsten einzelne Aufgaben, wie etwa
die Begleitung bei Ämtergängen.
Zum Modellprojekt gehört auch, dass Dinge ausprobiert und gegebenenfalls
auch angepasst werden können. „Ressourcenorientierte Personalplanung“ nennt
das Anne Blankemeyer. „Von den Sozialarbeiter*innen erwarte ich,
dass bestimmte Dinge erledigt werden. Die Betreuungshelfer machen das, was
sie am besten können.“
## Schon 170 Anfragen bekommen
Anne Blankemeyer ist zufrieden mit der Halbzeitbilanz: „Wir habe die
Zielzahl von 30 Teilnehmer*innen erreicht, davon haben alle bis auf
zwei auch schon ihre Wohnung bezogen.“ Insgesamt gut 170 Anfragen hätten
sie bekommen, davon werden 40 ins nächste Jahr übernommen.
Auch die Wohnraumsuche laufe überraschend gut. Die Wohnungen seien alle in
einem guten Zustand und bezugsfertig. „Unsere Mitarbeiterin in der
Wohnraumanmietung, die ist auch eine gestandene Frau in ihren 50ern, die
sagt auch mal zu Vermieter*innen: ‚Hier würden sie ihre Tochter doch auch
nicht leben lassen‘ und verlangt Verbesserungen.“
Wenn es Probleme gebe, etwa weil die Nachbar*innen sich wegen
Ruhestörung beschweren, dann unterstützt das Team von Housing First die
Wohnenden, wenn diese sich das wünschen. Diese hätten aber auch die
Möglichkeit ganz anonym in der neuen Nachbarschaft zu wohnen, „wir rollen
nicht die Housing First-Fußmatte aus“, so Blankemeyer. Zwei Abmahnungen
hätte es bereits gegeben, aber „es ist noch niemand rausgeworfen worden,
oder freiwillig gegangen“.
Als zu niedrig habe sich der mit 1,5 Stunden pro Woche pro Person
angesetzte Betreuungsschlüssel erwiesen. „Das reicht eigentlich nur bei
denen, die noch keine Wohnung haben und die wir ab und an anrufen, um ihnen
ein Angebot zu machen.“
Die meisten Teilnehmer*innen hätten multiple Probleme. Blankemeyer
berichtet von einer Frau mit körperlichen und psychischen Beschwerden, die
im Schnitt eher 6,5 Stunden Betreuung pro Woche gebraucht habe. „Das wäre
ohne eine unbezahlte Vollzeit-Praktikantin gar nicht möglich gewesen.“
## Probleme kein Grund zur Sorge
Dass auch mal Probleme entstehen, ist für die Bremer Sozialbehörde kein
Grund zur Sorge. Das Leben auf der Straße sei grundsätzlich
„problembeladen“, und die Probleme würden „nicht an der Haustür
abgegeben“, sagt der Sprecher der Sozialbehörde, Bernd Schneider.
Abschließend bewerten kann und will die Behörde das Projekt noch nicht,
aber die bisherige Entwicklung mache „berechtigte Hoffnung auf eine
Weiterführung“. In Bremen wird im Mai gewählt, die neue Koalition müsste
dann die Ausgaben für Housing First in den Haushalt einstellen, so
Schneider.
In Hamburg ist an eine Bewertung des Projekts noch nicht zu denken. Housing
First ist hier noch in der [2][Aufbauphase]. Die Stadt führt
projektbegleitend eine Evaluation durch. Gut zehn Nutzer*innen hat das
Projekt in Hamburg schon aufgenommen. „Zum Jahresende wird voraussichtlich
die erste Wohnung zur Verfügung stehen, sodass ein*e Nutzer*in einziehen
kann“, sagt Projektleiterin Nina Behlau. Auch in Hamburg ist ein
Peer-Ansatz geplant. Dieser wird gerade noch konzeptionell ausgearbeitet.
15 Nov 2022
## LINKS
[1] /Housing-First-in-Norddeutschland/!5845137
[2] /Wohnraum-fuer-Obdachlose/!5774494
## AUTOREN
Franziska Betz
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