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# taz.de -- Konzepte gegen Wohnungslosigkeit: Das Heimmodell hat ausgedient
> Bei der Hilfe für Wohnungslose geht es immer stärker um die Vermittlung
> in eigene Wohnungen. Vorbild ist das Konzept „Housing First“.
Bild: Hamburg 2009: Obdachlose greifen zur Selbsthilfe.
BREMEN taz | Wenn die Räumungsklage kommt, ist es bis zur Obdachlosigkeit
nicht mehr weit. In Bremen folgt dem Brief vom Gericht deshalb ein
Beratungsangebot der „Zentralen Fachstelle Wohnen“: So können etwa
Mietschulden übernommen werden, um einen Wohnungsverlust zu vermeiden.
Die Stelle ist in Bremen auch dafür zuständig, Wohnungslosen ein Obdach zu
vermitteln – und dabei geht es verstärkt nicht um Heimplätze, sondern um
die eigenen vier Wände. Im Mai hat der Bremer Senat ein Konzept zur
„Zukunft der Wohnungslosenpolitik“ beschlossen, wonach die stationären
Übergangswohnheime zum Jahreswechsel abgebaut werden sollen.
Angestoßen hat den Paradigmenwechsel auch die grüne Sozialpolitikerin
Susanne Wendland: „Wir wollen hin zu eigenem Wohnraum, in dem individuelle
Hilfen angeboten werden“, sagt sie. Es gehe um Selbstbestimmung, die in
stationären Einrichtungen häufig zu kurz komme. In dem, was sie für Bremen
umsetzen will, orientiere sie sich an dem Konzept „Housing First“.
## Erst mal wieder in die eigene Wohnung
Das „Housing First“-Konzept folgt der Idee, keine Bedingungen daran zu
knüpfen, Obdachlose wieder in eine eigene Wohnung zu vermitteln. Anfang der
1990-Jahre von der Organisation „Pathway to Housing“ in New York
entwickelt, war das Konzept gerade auf Menschen mit psychischen Krankheiten
und Suchtproblemen ausgerichtet – eben jene, die in einem konventionellen
Hilfesystem mehrere Stufen durchlaufen würden, bis ihnen ein eigener
Mietvertrag wieder zugetraut würde.
Auf „Trockenübungen“ in Trainingswohnungen wird dabei verzichtet, die
Menschen stattdessen besonders intensiv begleitet und ihre Eigenständigkeit
akzeptiert – mit großem Erfolg, wie wissenschaftliche Studien belegen. In
den USA gilt das Konzept mittlerweile als „best practice“, und auch in
Europa und Deutschland wird viel davon geredet.
Für den Bremer Sozialwissenschaftler Volker Busch-Geertsema ist dieser
Paradigmenwechsel jedoch noch lange nicht umgesetzt, auch wenn dies
vielerorts behauptet werde. Ursprünglich sei etwa in Bremen geplant
gewesen, die stationäre Unterkunft umzubauen – in Trainingswohnungen mit
verpflichtend zu absolvierenden Trainingsmodulen. „Das genau ist eben nicht
’Housing First‘“, sagt Busch-Geertsema.
## Hamburger Stufenformen
Inka Damerau vom Hamburger Bodelschwingh-Haus hingegen ist skeptisch. Auch
das Bodelschwingh-Haus bringt Leute in eigenen Wohnungen unter, allerdings
erst nach etwa einem Jahr in einer stationären Einrichtung. Um die passende
Wohnung zu finden, wird eine „Wohnbiografie“ erstellt und geschaut, wo
jemand gelebt hat. Ist etwas Passendes gefunden, so wird die Wohnung zuerst
vom Träger angemietet und geht nach einer Zeit intensiver Betreuung an den
eigentlichen Mieter über.
„Viele, die von der Straße kommen, formulieren, dass sie diese Sicherheit
möchten in einer Struktur“, sagt Damerau. „Und das kann der stationäre
Rahmen bieten.“ Es gebe verschiedene Zielgruppen. Freie Wohnungen in
Hamburg zu finden, sei allerdings sehr schwierig. „Wir haben gewachsene
Kontakte und müssen Klinken putzen“, sagt Damerau. Ein Rezept gebe es
nicht.
## Das Bielefelder Modell
Einen umfassenden Schwenk hin zur ambulanten Betreuung machte die Stadt
Bielefeld. Unter dem Motto „Besser (ist) wohnen“ begann die Stadt 2004,
Obdachlose in reguläre Mietwohnungen einzugliedern und dafür
Obdachlosenunterkünfte zu schließen. Heute leben weniger als 100 Menschen
in der letzten Obdachlosen-Unterkunft – einst waren über 1.000 stationär
untergebracht.
„Wir haben die ambulante Betreuung intensiviert und deutlich mehr
Sozialarbeiter angestellt“, sagt Bielefelds Sozialdezernent Tim Kähler. Es
sei damals durchaus erst mal mehr Geld ausgegeben worden, aber: „Innerhalb
von fünf Jahren haben wir eine Million Euro gespart, weil wir die teuren
Einrichtungen nicht mehr bezahlen mussten.“ Auch in Bielefeld würden
Menschen noch auf der Straßen übernachten. „Aber man muss als Großstadt
akzeptieren, dass es Menschen gibt, die diesen Lebensentwurf haben“, sagt
Kähler. Im Winter stehe ihnen ein beheizter Raum zur Verfügung: „Die Tür
bleibt immer offen.“
## Bremer Bündnisse
Schwieriger ist die Lage in Bremen, wo bezahlbarer Wohnraum für ein oder
zwei Personen knapp ist. Anfang 2012 gründete sich deshalb ein
Aktionsbündnis: „Wohnen ist Menschenrecht“ versammelt Obdachlose und
kirchliche Sozialarbeiter, StudentInnen oder Senioren-Vertreter – die sich
nicht mehr gegeneinander ausspielen lassen wollen. Sie fordern, Artikel 14
der Bremer Landesverfassung umzusetzen: „Jeder Bewohner der Freien
Hansestadt Bremen hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung“, heißt es
darin.
Bertholt Reetz sitzt für die Innere Mission beim Aktionsbündnis mit am
Tisch. Nur mehr Wohnungen zu bauen, greift für ihn zu kurz. Selbst wenn
damit älterer Bestand frei würde, werde der saniert und danach teuer
vermietet. „Ich glaube, dass eine bestimmte Schicht immer außen vor
bleibt“, so Reetz.
Im Bremer Rathaus rief Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) unterdessen die
Wohnungsbau-Unternehmen zu einem eigenen „Bündnis für Wohnen“ zusammen.
Wiederbelebt wurde der alte Wohnungsnotstandsvertrag von 1981: Menschen in
Not sollen von den Wohnungsgesellschaften bevorzugt angenommen werden – ein
Appell an den guten Willen.
Konkreter wird da schon das Wohnungsbau-Förderungsprogramm: Wer städtische
Grundstücke bebauen will, muss 25 Prozent Sozialwohnungen anbieten. 40
Millionen Euro stehen dafür bereit, das reicht für 700 Wohnungen. Davon
sind 20 Prozent für besonders bedürftige Mieter reserviert: für Obdachlose,
Flüchtlinge und Großfamilien.
12 Oct 2013
## AUTOREN
Jean-Philipp Baeck
## TAGS
Bremen
Hamburg
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Housing First
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