# taz.de -- Die Kunst der Woche: Die doppelte Rettung | |
> Wilhelm Mundts umhüllte Abfallprodukte glänzen an zwei Orten, Werner | |
> Brunner zeigt seine Fotos von Berliner Wandbildern bevor die Dias | |
> verblassen. | |
Bild: Birgt Produktionsrückstände im Innern, der „Trashstone 769“ (2022) … | |
Der Trashstone 766 ist wirklich fotogen, in seiner unregelmäßigen Form, die | |
sich den Dingen verdankt, die sein Innenleben ausmachen, und seiner auf | |
Hochglanz polierten schwarzen Kunstharzhülle, die eine schmale, sauber | |
begrenzte weiße Linie durchzieht. Ganz anders die schwarzen Linie, die über | |
den sehr viel mächtigeren Trashstone 769 läuft und die, wie es scheint, | |
spontan, einfach wild mit dem breiten Pinsel und fettem Farbauftrag | |
draufgeschmiert wurde. Irgendwo ist noch ein kleiner, wie mit dem Bleistift | |
drauf gezeichnet Totenkopf zu entdecken. Auch 769 verlockt dazu, sich neben | |
ihn zu stellen, um ein Selfie zu schießen. Ein eigentlich peinlicher und | |
verpönter Akt und gleichzeitig doch Ausweis erfolgreicher | |
Kunstkommunikation. | |
Tatsächlich ist das Setting so glamourös, dass man nicht nur über das | |
erste, bewusst falsch geschriebene Wort stolpert, sondern über den ganzen | |
Titel der Ausstellung von Wilhelm Wundt in der [1][Buchmann Galerie]: | |
„Areit ist das halbe Leben …“ – daran hätte man zuletzt gedacht. Auch … | |
klar ist, dass eine Menge „Areit“, wie der 1959 in Grevenbroich geborene | |
Bildhauer sich in einer Notiz verschrieb – in den Trashstones, für die er | |
international bekannt ist, wie in der Ausstellung selbst steckt. | |
Ein Trashstone besteht, wie sein Name besagt, aus Abfall, also aus dem, was | |
sich im Atelier so anhäuft wie Reste von Klebebandrollen, kaputte | |
Plastikeimer, Bruchstücke von Gussformen und unbrauchbar gewordenes | |
Werkzeug. Diese Produktionsabfälle [2][verpackt Mundt in einzelne Haufen], | |
die er mit einer mehrschichtigen Hülle aus farbigem Kunstharz ummantelt, | |
beziehungsweise sie mit Aluminium- oder Bronzeguss umhüllt. Die | |
Kunstharzoberfläche schleift der Künstler anschließend in höchster | |
handwerklicher Perfektion auf Hochglanz. Die erste derart entstandene | |
Plastik erhielt die dreistellige Nummer 001. Eine Werkserie war also von | |
Anfang intendiert. | |
Wie die Nummer besagt, ist jeder Trashstone Teil einer fortlaufenden Serie | |
und gleichzeitig einzigartiges Unikat. Über das Recycling ist er weiter ein | |
moderner Kommentar zum mythischen Ursprung der Bildhauerei, wie ihn Leon | |
Battista Alberti in seiner Abhandlung De Statua darstellt. Nicht wie bei | |
Alberti aus der Weiterverarbeitung der Produkte der ludi naturae, sondern | |
aus der Weiterarbeitung der Abfälle, die das Spiel der Kunst hinterlässt, | |
entsteht die Plastik. Die malerische Be- oder Überarbeitung der Steine ist | |
neu und akzentuiert noch einmal die Frage nach der Konsumierbarkeit von | |
Kunst im Widerstreit zu kreativer Widerborstigkeit und künstlerischem | |
Eigensinn. | |
## Winzige Zuschauer | |
In Gesprächen kommt Wilhelm Mundt stets darauf zu sprechen, dass seine | |
Arbeiten in all ihrer biomorphen Schönheit mehr enthalten als für das Auge | |
sichtbar ist. Das formgebende Innere, der konkrete Inhalt bleibt dem Blick | |
verborgen – aber gerät damit möglicherweise auch der damit verbundene | |
metaphorische und vor allem kritische Gehalt aus dem Blick? | |
Denn da ist das inzwischen weltbeherrschende Problem des überschüssigen, | |
abgenutzten und nicht mehr verwendbaren Materials. Es fällt nicht nur im | |
industriellen Prozess, sondern eben auch bei der künstlerischen Arbeit an. | |
Und insofern Wilhelm Mundt dieses Problem ganz konkret künstlerisch | |
bearbeitet, bearbeitet er damit – zumindest symbolisch – eine der | |
drängendsten Menschheitsfragen. Doch dann scheint es so, als könne sie in | |
Form glänzender, in gebrochenem Weiß schimmernder, weichkonturierter Steine | |
im Regal abgelegt werden, wie jetzt in der [3][Guardini Stiftung]. | |
Hier allerdings, in der Ausstellung „ … und gestern war heute morgen“, | |
erfährt der Besucher und die Besucherin, dass der Künstler die Performance | |
liebt, was sich in einem bemerkenswerten filmischen und fotografischen Werk | |
niederschlägt. Und so sieht man im Untergeschoß in einem Video eine | |
maskierte und verhüllte Figur, die in einem zugemüllten Raum, | |
wahrscheinlich das Künstlerstudio, versucht etwa aufzuräumen und Sachen auf | |
eine Sackkarre zu packen, woran sie regelmäßig scheitert. | |
So wie Kröte in einem anderen Video, die versucht eine Wand hochzukommen, | |
wobei sie sich auch noch eine Vorlesung über Descartes anhören muss, | |
darüber, was der Mensch gesichert wissen kann. Ihre Schlussfolgerung: | |
„Fremde Wesen befahlen mir mit der Kniescheibe zu denken“ – so der Titel | |
der Arbeit, die zwei winzige Zuschauer, eine etwas kleinere weibliche mit | |
mehr Haar und eine etwas größere männliche mit weniger Haar, | |
vervollständigen. Das Video steckt in einem unfertigen Stein, der ein | |
bisschen ausschaut wie ein Autoreifen, weil der mit schwarzem Klebeband | |
zusammengehaltene Abfall um den Monitor herumgewickelt ist. | |
## Gerade noch zur rechten Zeit | |
Die fünfköpfige Berliner Künstlergruppe Ratgeb existierte zwischen 1979 und | |
1989. Zusammen mit Hausbesetzern, migrantischen Kids, jugendlichen | |
Ausreißern und Straftätern, ja sogar einer Biker-Gang malte sie illegaler | |
Weise mehr als ein Dutzend großformatiger Wandbilder in West-Berlin, die | |
die Wohnungsspekulation im Zuge der Stadtsanierung aufs Korn nahmen. Ihr | |
Namenspatron Jörg Ratgeb war ein süddeutscher Altar- und Freskenmaler, | |
dessen religiöse Gemälde regelmäßig Botschaften des politischen Dissenses | |
aufwiesen. 1526 wurde er wegen seiner führenden Rolle im Bauernaufstand | |
hingerichtet. | |
Zur Gruppe Ratgeb gehörte der 1941 in München geborene Künstler Werner | |
Brunner. Der gelernte Schmied und studierte Architekt, war nicht nur | |
Wandmaler, sondern auch Entdecker alter Wandgemälde, die er in Mietshäusern | |
fand, die um die Jahrhundertwende gebaut worden waren. Zu dieser Zeit war | |
es Mode, Fassaden, Eingangsbereiche, Treppenhäuser und Innenhöfe von Wohn- | |
und Geschäftshäusern, die die Bauherren als ihre Visitenkarte betrachteten, | |
mit großen Wandgemälden zu schmücken. | |
Werner Brunner suchte und fand diese Wandbilder vor allem in Charlottenburg | |
und Schöneberg, aber auch Moabit, Neukölln und Kreuzberg. Seine Recherche | |
führte zu zwei großen, inzwischen sehr gesuchten, weil vergriffenen | |
Bildbänden. Und sie wird jetzt in einer wunderbaren Ausstellung im | |
[4][Atelier André Kirchner] gewürdigt. | |
Gerade noch zur rechten Zeit wie André Kirchner, selbst als Stadtfotograf | |
Berlins berühmt, in seiner Eröffnungsrede sagte. Denn nicht nur die | |
Wandbilder sind inzwischen durch Witterung, Abriss oder Wärmedämmung | |
verschwunden, auch die sie dokumentierenden Kleinbild-Dias haben nach 50 | |
Jahren ihr Haltbarkeitsdatum deutlich überschritten und verblassen mehr und | |
mehr. | |
Trotzdem sind dank professioneller Hilfe 22 Ausdrucke entstanden, die ihren | |
fragilen Zustand in einen besonderen fotografischen Zauber übersetzen, | |
wobei ein Maximum an Bildinformation durchaus gerettet werden konnte. Das | |
ist auch nötig, denn die Wandbilder selbst waren zum Zeitpunkt der Aufnahme | |
oft schon stark angegriffen. | |
Vor allem in italienischen Landschaften und Stadtansichten fand das | |
Repräsentationsbedürfnis der Berliner Baulöwen seinen Ausdruck. Über die | |
mittelalterliche Architektur waren nicht weniger als die Eigentümer sicher | |
auch die Mieter entzückt. Alle fanden sie ihren Gefallen an den Alpen und | |
ihren Bergen. In Moabit schmückte etwa der große Möseler im Zillertal samt | |
Gletscher die Wand. In Schöneberg war es Venedig und in Charlottenburg | |
spielte Romeo für Julia die Laute. Berlin, da kiekste. | |
25 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://buchmanngalerie.com/de/exhibitions/berlin | |
[2] /Archiv-Suche/!233079&s=wilhelm+mundt&SuchRahmen=Print/ | |
[3] https://www.guardini.de/ | |
[4] https://www.andrekirchner.de/atelier | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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