| # taz.de -- Neuer Horrorfilm von David Cronenberg: Vom Zwang, sich neu zu erfin… | |
| > David Cronenberg philosophiert in seinem dystopischem Film „Crimes of the | |
| > Future“ über den Menschen als Herrn und Opfer seiner Schöpfung. | |
| Bild: Caprice (Léa Seydoux), Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Timlin (Kristen… | |
| Was wäre, wenn sich der Mensch nicht mehr infizieren könnte? Wenn unseren | |
| Körpern weder Bakterien noch Viren etwas anhaben könnten und damit ein | |
| Großteil an Bedrohungen unserer Gesundheit einfach wegfallen würde? Wenn | |
| wir obendrein keinen physischen Schmerz mehr empfinden müssten? | |
| Die indirekte Antwort, die in David Cronenbergs in der nahen Zukunft | |
| angesiedeltem sonderbaren Gedankenspiel durchklingt, lautet: Nach neuen | |
| Extremen, nach neuen physischen und psychischen Grenzerfahrungen suchen, | |
| nachdem das neue Normal die alten obsolet gemacht hat. Und, selbstredend, | |
| das neue Normal weiter optimieren. | |
| Seinem ersten Film seit acht Jahren legt das Regie-„Enfant terrible“ ein | |
| Menschenbild zugrunde, das sich zuerst durch seine Unbeständigkeit | |
| auszeichnet, durch den Willen, vielleicht sogar den Zwang, sich fortwährend | |
| selbst zu gestalten und neu zu erfinden. Einen Endpunkt, auf das sich sein | |
| Streben richtet, kennt er nicht. Der Fortschritt selbst ist das Ziel, eine | |
| Vorstellung, worin er bestehen soll, gibt es nicht. | |
| „Erlaubt ist, was gefällt“, oder noch treffender: „Getan wird, was machb… | |
| ist“, scheint daher die Maxime von Saul Tenser (Viggo Mortensen) und | |
| Caprice (Léa Seydoux) zu lauten. Das von der höheren Bedeutung seiner | |
| Arbeit überzeugte Künstlerpaar ist Dreh- und Angelpunkt des irgendwo | |
| zwischen Science-Fiction und Horror changierenden Films „Crimes of the | |
| Future“. | |
| Bei Saul ist das ominöse „beschleunigte Evolutionssyndrom“, das | |
| verantwortlich ist für die neue Resistenz des menschlichen Körpers, | |
| besonders stark ausgeprägt. Das und angeblich sein eigener starker Geist | |
| führen dazu, dass ihm ständig neue Organe wachsen, die keinerlei Funktion | |
| besitzen. Mit erkennbarer Lust am Spiel mit dem Tabubruch entfernt Caprice | |
| sie ihm, im Rahmen ihrer Shows vor einem offenbar mindestens so | |
| faszinierten wie entsetzten Publikum. | |
| ## Kunst auf dem Seziertisch | |
| Für ihre Performance nutzen sie eine Art automatisierten Seziertisch, der | |
| wie eine unheilvolle Kreuzung aus dem biomechanischen Stil der Skulpturen | |
| von HR Giger und den seltsam lebendig wirkenden Kreationen aus tropfenden, | |
| sich windenden Schläuchen von Mira Lee wirkt. Originell sind derlei Designs | |
| allemal – überraschend ist allerdings, wie minderwertig die Ausstattung, | |
| auch so manche Spezialeffekte mitunter wirken. | |
| Die Illusion der ebenso makabren wie maroden Welt, in die „Crimes of the | |
| Future“ versetzt, wird durch die bisweilen irritierende Qualität des | |
| Produktionsdesigns allerdings nicht zunichtegemacht. Davor weiß die für | |
| den kanadischen Filmemacher typische Dichte an Ideen zu bewahren, die vor | |
| allem durch wohlplatzierte Glaubensgrundsätze wie „Body Is Reality“, mehr | |
| noch durch die ebenfalls Cronenberg-typischen anziehend-seltsamen Dialoge | |
| transportiert wird. | |
| In einer Schlüsselszene etwa tritt Timlin (Kristen Stewart), eigentlich | |
| eine Ermittlerin des „National Organ Registry“, die Sauls Kunst durchaus | |
| kritisch gegenüberstehen müsste, an ihn heran und fragt mit erkennbarer | |
| Erregung in der Stimme, ob Operationen der neue Sex seien. Nach seiner | |
| Erwiderung, ob sich denn immer alles nur darum drehen müsse, fügt sie | |
| fiebrig hinzu, dass sie sich beim Anblick der Performance gewünscht habe, | |
| von Saul aufgeschnitten zu werden. | |
| ## Initmität der kleinen Schnitte | |
| Tatsächlich ist der „alte Sex“ in „Crimes of the Future“ so gut wie | |
| ausgestorben. Später ist als eine neue, radikalere Form vermeintlicher | |
| Intimität zu sehen, wie eine Maschine mithilfe zahlreicher Skalpelle den | |
| Körpern von Caprice und Saul, nackt und eng umschlungen, unzählige kleine | |
| Schnitte zufügt. | |
| Was zunächst wie ein ausgesprochen abstruser Einfall wirkt, fügt sich nach | |
| und nach in eine Lesart des Films als eine dystopisch aufgeladene | |
| Beschreibung unserer Gegenwart ein: Der Mensch läuft Gefahr, sich durch die | |
| von ihm selbst hervorgebrachte Technik zu entfremden. Zumindest hat sie | |
| klare Auswirkungen auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen. | |
| Das erinnert an Ideen wie das „Metaverse“, die „Facebook“-Gründer Mark | |
| Zuckerberg als technologische Möglichkeit anpreist, uns einander | |
| näherzubringen verspricht und dabei doch nur eine digitale Parallelwelt | |
| meint, in der man sich niemals ganz unmittelbar begegnet. | |
| Doch ebenso wie das „Metaverse“-Konzept ausgerechnet während der Pandemie, | |
| die durch den Einfluss der Massentierhaltung als menschengemachte Krise | |
| gilt, als ein Weg, die negativen Folgen unseres Lebensstils – den | |
| zeitweisen Zwang zur Isolation – auszubügeln, an Attraktivität gewann, kann | |
| man auch im Cronenberg’schen Operationskult einen Versuch des Menschen | |
| sehen, mit selbst herbeigeführten Problemen zurechtzukommen, sie zu | |
| kontrollieren, sich über sie zu erheben. | |
| ## Aus der Not wird eine Tugend | |
| Denn wie Caprice an einer Stelle erklärt, ist das „beschleunigte | |
| Evolutionssyndrom“ letztlich etwas Pathologisches. Etwas, das nichts | |
| anderes als den Zusammenbruch des Organismus bedeutet. Ihre Kunst ist dann | |
| wiederum eine Möglichkeit, diesem seine Organisation zurückzugeben. | |
| Sonst sei das, was Sauls Körper produziere, all die nutzlosen Organe, wie | |
| sie sagt, nicht mehr als „Designer-Krebs“. So wird aus der Not eine Tugend, | |
| wenn Saul sich einen Reißverschluss in seiner Bauchdecke anbringen lässt, | |
| um bei einem Wettbewerb für „innere Schönheit“ anzutreten, wobei | |
| selbstredend nicht der Charakter, sondern ganz wortwörtlich sein Innenleben | |
| gemeint ist. | |
| Wie nah eitle Selbstoptimierung und schierer Anpassungszwang | |
| beieinanderliegen, wird durch das Handlungselement einer im Geheimen | |
| experimentierenden Bewegung am deutlichsten. Deren Mitglieder haben durch | |
| aufwendige Operationen die Fähigkeit erlangt, Plastik zu verdauen. | |
| ## Industriemüll verspeisen | |
| Ihr Anführer (Scott Speedman) bietet Saul die Leiche seines Sohnes, der die | |
| biologische Veranlagung von seinem Vater geerbt hat und zu Beginn des Films | |
| durch seine eigene Mutter ermordet wurde, für eine öffentliche Autopsie an. | |
| Die Idee: den Zuschauern einen Weg in die Zukunft aufzeigen, in der der | |
| Mensch die zum Problem gewordene Menge an Industriemüll loswird, indem er | |
| sie einfach selbst verspeist. | |
| Dass Cronenberg den Film, wie so oft, in einem abrupten Ende münden lässt, | |
| ist zunächst empörend unbefriedigend. Und doch ist es wahrscheinlich das | |
| Fehlen eines echten abschließenden Finales, was dazu führt, dass die | |
| erzeugten Eindrücke nachhallend erst ihre volle Wirkung entfalten. | |
| Infektiös anmutende Filme, deren mitunter verstörende Bildwelten sich, ob | |
| man nun will oder nicht, im Gedächtnis seines Publikums einnisten, sind | |
| seit jeher die Spezialität des seit mehr als 50 Jahren im Geschäft tätigen | |
| Cronenbergs. „Crimes of the Future“ wurde als eine Rückkehr zu seinen | |
| Wurzeln, und damit auch zum „Body Horror“, jenem Genre, das er wie kein | |
| Zweiter prägte, angekündigt. | |
| ## Cronenbergs Werke | |
| Gemeint sind damit Filme von „Die Brut“ (1979), in dem dämonische Kinder | |
| als Fleischgewordene Wut der eigenen Mutter auftreten, oder „Videodrome“ | |
| (1983), in dem ein Mann offenbar zu einer Art „Kassettenrekorder-Cyborg“ | |
| mutiert, bis hin zum 1996 erschienenen „Crash“, dessen Figuren durch | |
| Autounfälle sexuelle Erregung erfahren. Im Gegensatz zu jenen Werken, die | |
| zwar mittlerweile Kultstatus besitzen, bei ihrem Erscheinen aber mitunter | |
| Debatten anstießen, was im Kino gezeigt werden darf, und teils sogar | |
| indiziert wurden, muten seine Projekte aus den letzten Jahrzehnten, | |
| hauptsächlich [1][psychologielastige Dramen] und Thriller, beinahe zahm an. | |
| Vergleichsweise, wohlgemerkt. Denn obwohl etwa [2][„Cosmopolis“ (2012)] und | |
| [3][„Maps to the Stars“ (2014)], Cronenbergs zuletzt erschienene Filme, | |
| stärker in der Realität angesiedelt sind, unterwandern doch auch deren | |
| Figuren in ihrem Verhalten stets akzeptierte Sinnzusammenhänge, wirken | |
| absonderlich durch ein verqueres Verhältnis zu Lust und eine artifizielle | |
| Sprechweise. | |
| Das Erstaunliche am Schaffen des Filmemachers ist, dass er ausgerechnet | |
| durch das Abstandgewinnen zu den oberflächlichen Gegebenheiten unserer | |
| Gegenwart, durch das Umschiffen von alltäglichen Floskeln und | |
| Umgangsformeln in ihre Tiefen abtaucht, zu einem unbestreitbar wahren Kern | |
| vordringt. | |
| Mit der Figur eines jungen, milliardenschweren Vermögensverwalters (Robert | |
| Pattinson), der in „Cosmopolis“ in seiner Limousine einen Tag lang sinnlos | |
| durch Manhattan mäandert, wird etwa über die absolute Messbarmachung der | |
| Zeit in Hundert-Milliardstel-Sekunden für einen noch höherfrequentierten | |
| Aktienmarkt, die schwindelerregend hohen Gewinne und damit über Reichtum | |
| als Selbstzweck der wenigen, der gleichsam die Welt aller nach seinen | |
| Spielregeln umgestaltet, reflektiert. Und damit über etwas, das kurz nach | |
| der Finanzkrise einen Nerv traf. | |
| „Maps to the Stars“ lässt sich wiederum am besten als sardonische | |
| Hollywood-Satire verstehen. Wäre der Film nicht erst 20 Jahre nach der | |
| ursprünglichen Idee verwirklicht worden, hätte auch der beißende Spott auf | |
| abgehobene Stars und solche, die es gerne wären, zu Zeiten des besonders | |
| absurden Starkults in den Neunzigern und frühen Zweitausendern einen Finger | |
| in die Wunde gelegt. | |
| Für „Crimes of the Future“ gilt das Gegenteil: Laut Cronenberg hat er das | |
| Drehbuch bereits vor zwei Dekaden verfasst. Dass der Film zu einer Zeit | |
| erscheint, in der Studien belegen, dass wir Mikroplastik bereits im Blut | |
| tragen, kann man nur als herausragendes Timing bezeichnen. | |
| Eine bloße Rückkehr zu den Anfangszeiten ist der Film trotzdem nicht. | |
| Vielmehr erwächst aus den beiden Schaffenslinien seiner Karriere, dem | |
| blutig-provokanten Spektakel des Anfangs und dem etwas feinsinniger | |
| vorgebrachten Ahnungsdrang der vergangenen Dekade, eine spektakuläre | |
| Symbiose. Oder um im Cronenberg’schen Kosmos zu bleiben: eine absonderliche | |
| neue Mutation, die mindestens so fasziniert, wie sie abstößt. | |
| 10 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Regisseur-ueber-Psychoanalyse-Kino/!5108310 | |
| [2] /Film-Cosmopolis/!5089806 | |
| [3] /Kinofilm-Maps-to-the-Stars/!5033645 | |
| ## AUTOREN | |
| Arabella Wintermayr | |
| ## TAGS | |
| Spielfilm | |
| Dystopie | |
| Science-Fiction | |
| Körper | |
| Operation | |
| Müll | |
| Performance | |
| Spielfilm | |
| Horrorfilm | |
| Frankfurt am Main | |
| Spielfilm | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes | |
| Verschwörung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Düsterer Großstadt-Spielfilm: Zwischen Abschied und Entfremdung | |
| „Der Kuss des Grashüpfers“, ein Film von Regisseur Elmar Imanov, erzählt | |
| mal realistisch, mal kafkafesk von sozialer Versehrtheit in der Großstadt. | |
| Polnischer Filmklassiker wieder im Kino: Die kaputte Pracht von Westberlin | |
| Alles radikal affektgesteuert: Der polnische Filmklassiker „Possession“ von | |
| Andrzej Żuławski von 1981 kommt digital restauriert wieder ins Kino. | |
| Frankfurts OB Feldmann über seine Abwahl: „Mehr Schutz durch die SPD erwarte… | |
| Peter Feldmann ist wegen Korruption angeklagt, als OB Frankfurts wurde er | |
| abgewählt. Im Interview räumt er Fehler ein und kritisiert seine Partei. | |
| Satire „Triangle of Sadness“ im Kino: „Das ist der Zynismus unserer Zeit�… | |
| Im Film „Triangle of Sadness“ treffen Instagram-Models auf Oligarchen. | |
| Regisseur Ruben Östlund spricht über sympathische Reiche und Karl Marx. | |
| Filmfestspiele von Cannes: Nachhaltige Strategien fürs Essen | |
| Cannes 8: Regisseur David Cronenberg beschäftigt sich auf den | |
| Filmfestspielen mit den Körpern und der Körperkunst der Zukunft. | |
| „Dead Zone“ auf Arte: Apokalyptischer Horror | |
| Kurz vor der US-Präsidentschaftswahl zeigt Arte einen Thriller. Was 1983 | |
| als „überzogen“ galt, ist heute erschreckend realistisch. |