| # taz.de -- Düsterer Großstadt-Spielfilm: Zwischen Abschied und Entfremdung | |
| > „Der Kuss des Grashüpfers“, ein Film von Regisseur Elmar Imanov, erzählt | |
| > mal realistisch, mal kafkafesk von sozialer Versehrtheit in der | |
| > Großstadt. | |
| Bild: Cronenberg-Vibes: Agata (Sophie Mousel) und Bernard (Lenn Kudrjawizki) in… | |
| Berlin taz | Fenster scheinen es Elmar Imanov angetan zu haben. Sein | |
| Debütfilm „End of Season“, die unterkühlte soziologische Introspektive | |
| einer zerfallenden Familie in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, | |
| endet mit leuchtenden Hochhausfenstern, die zur melancholisch | |
| dahinschlurfenden Coverversion von Nenas „99 Luftballons“ in den Himmel | |
| aufsteigen. | |
| Auch zum Finale seines zweiten Spielfilms, „Der Kuss des Grashüpfers“, | |
| zeigt er ein Fenster, das hier mit seiner ganzen kinematografischen | |
| Historie auch eine metaphorische Grenze eines Innen und Außen markiert. Mit | |
| diesem Schwebezustand spielt der in Köln lebende Regisseur, der dort an der | |
| Internationalen Filmschule studierte, konsequent. | |
| „Der Kuss des Grashüpfers“, uraufgeführt in der Sektion Forum der | |
| Berlinale, kommt – anders als das sozialrealistisch-sperrige Vorgängerwerk | |
| – als tiefenpsychologischer Trip mit kafkaesker Motivik und | |
| Cronenberg-Vibes daher. Der Zungenkuss mit einer menschengroßen Version des | |
| titelgebenden Insekts ist dabei nur eines der vielen düster-poetischen | |
| Bilder, die im Gedächtnis bleiben. | |
| ## Mit Lötkolben basteln | |
| In einem Köln, das in solcher Entrückt- und Dunkelheit wohl noch nicht auf | |
| der Leinwand zu sehen war, folgt der Film Bernard (Lenn Kudrjawizki). Der | |
| freiberufliche Autor bastelt gerne mit Lötkolben an einem geheimnisvollen | |
| Apparat herum und wohnt mit Schaf Fiete zusammen, mit dem er mehr kuschelt | |
| als mit Agata (Sophie Mousel). „Du nervst mit deinem Deprigetue“, raunt | |
| seine dominante Freundin dem sehr mit sich und seiner Situation | |
| beschäftigten Schriftsteller zu, dennoch scheint Liebe im Spiel zu sein. | |
| Das zentrale und zugleich ambivalenteste Verhältnis pflegt Bernard zu | |
| seinem Vater Carlos (Michael Hanemann). Die beiden essen regelmäßig | |
| zusammen, doch als der Vater ihn einmal für das Aufgetischte lobt, zückt | |
| Bernard gleich die verbale Peitsche. „Du hast immer gelogen, wie soll ich | |
| dir da glauben?“ Autsch! | |
| Dennoch sucht Bernard Nähe, schläft gar mit dem Kopf auf der Brust seines | |
| alten Herrn. Spätestens als Carlos ein Hirntumor diagnostiziert wird und | |
| die Prognose lautet, dass eine Operation eine 50-prozentige | |
| Überlebenschance böte, wird klar, woran sich „Der Kuss des Grashüpfers“ | |
| abarbeitet: an Entfremdung und Abschied. Imanov verarbeitet in seinem Film | |
| eigene Erfahrungen, sein Vater starb an Lungenkrebs. | |
| ## Schwarzer Humor | |
| In strengen Einstellungen zeichnet er in „Der Kuss des Grashüpfers“, und | |
| das verbindet den Film mit „End of Season“, eine Welt mit Hang zur | |
| Kommunikationsunfähigkeit. Viele Gespräche sind von gegenseitigen | |
| Verletzungen gezeichnet, die Räume, allen voran die U-Bahn, in der sich die | |
| Protagonisten beinahe leitmotivisch durch die Dunkelheit bewegen, wirken | |
| steril. In den Waggons blicken die Menschen aneinander vorbei oder auf ihre | |
| Smartphones, doch immer wieder blitzt auch schwarzer Humor auf. | |
| Zugleich trifft Bernard zwischendurch auf einige Fremde, die ihm mit einer | |
| so plötzlichen wie unverhofften Wärme begegnen. So bietet ihm ein Nachbar, | |
| der zugleich so etwas wie der junge Wiedergänger seines Vaters zu sein | |
| scheint, in einer der schönsten Filmszenen Naschware an und klettert dann | |
| in eleganter, traumwandlerischer Choreografie, ohne den Boden zu berühren, | |
| über Möbel und an den Wänden entlang zur Süßigkeitenschale. Ein magischer, | |
| vieldeutiger Kommentar auf Bernards Odyssee zwischen Kindheitsritualen und | |
| dem Umgang mit dem Tod. | |
| Imanov entwirft zwischen Realismus und Surrealismus nach eigenem Drehbuch | |
| eine eigensinnige Welt und verhandelt mit einer Bildsprache voller | |
| Metaphern und Symbole universelle Themen. Bernard begegnet riesigen | |
| Insekten, in einem düsteren Technoclub zeigt er seinem Vater seine Welt. | |
| Einmal verliert ein Müllwagen in einer Gasse tonnenweise Spielzeug, | |
| darunter eine alte sowjetische Puppe. Zentral ist auch eine Schlägertype | |
| mit deformiertem Gesicht, die nichts anderes als Wassermelonenkaugummis zu | |
| sich nimmt. | |
| ## Waberndes Ungetüm | |
| Dass Carlos’ Frisur der Wolle von Schaf Fiete ähnelt oder Bernard an einem | |
| Essay mit dem Titel „Grasshoppers Dream“ arbeitet – bestimmt keine Zufäl… | |
| Ist alles nur Imagination, entstammt es seiner Feder? Was ist das für ein | |
| blutig waberndes Ungetüm, in das Bernard einmal hineinsteigt? Ein Sinnbild | |
| für den Tumor im Kopf seines Vaters? Einfache Antworten verweigert das | |
| tierisch bewohnte, psychoanalytisch angelegte Spiegelkabinett, und diese | |
| Deutungsoffenheit ist eine Stärke von „Der Kuss des Grashüpfers“. | |
| Imanov erzählt mit konkreter Abstraktion von einer Abnabelung, mit | |
| Küchenpsychologie kommt man nicht weit. Man müsse den Menschen helfen, die | |
| Trauer an sich ranzulassen wie ein wildes Tier, meint der verschrobene | |
| Redakteur beim inhaltlichen Vorgespräch für Bernards Essay. Der Film endet | |
| mit einem Sprung aus dem eingangs erwähnten Fenster, bevor wir buchstäblich | |
| eintauchen. Wer ist hier das wilde Tier? | |
| 22 Aug 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Balkenborg | |
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