# taz.de -- 50 Jahre Buchladen Rote Straße: Bücher fürs Revolutionäre | |
> Der Buchladen Rote Straße in Göttingen feiert Jubiläum. Vor 50 Jahren | |
> gegründet, handelt es sich um die älteste linke Buchhandlung der | |
> Republik. | |
Bild: Jürgen Ehbrecht, Mitglied im Kollektiv, Klaus Schild und Mechthild Rött… | |
GÖTTINGEN taz | Die Wettervorhersage passt, es soll trocken bleiben an | |
diesem Samstag. Das Fest, das der [1][Buchladen Rote Straße] zum | |
50-jährigen Bestehen auf dem Göttinger Nikolaikirchhof feiert, kann | |
stattfinden. Ein Quiz ist angekündigt, Infostände, Kaffee und Kuchen soll | |
es geben, und am frühen Abend eine Lesung mit Louisa Lorenz aus ihrem Buch | |
„CLIT. Die aufregende Geschichte der Klitoris“. Der Buchladen Rote Straße | |
zählt zu den ältesten linken Buchhandlungen in der Bundesrepublik. | |
Mit der Studentenbewegung entstanden Ende der 1960er, Anfang der 70er Jahre | |
in Universitätsstädten die ersten solcher Buchläden. In Göttingen war das | |
zunächst der „PoliBula“, der Politischen Buchladen. „Der wurde allerdings | |
vom KBW dominiert“, erinnert sich der frühere Pädagogikstudent und | |
Buchladenurgestein Klaus Schild. Wie anderenorts, wollte der maoistisch | |
orientierte [2][Kommunistische Bund Westdeutschland] den Volksmassen auch | |
in Göttingen per Bildung zum nötigen revolutionären Bewusstsein verhelfen. | |
Weil der KBW das Sortiment des Ladens nach seiner Politik und Ideologie | |
ausrichtete, beschlossen Leute aus dem Umfeld des ehemaligen | |
Sozialistischen Studentenbundes (SDS) und der Göttinger | |
Studentenzeitschrift Politikon, eine eigene Buchhandlung aufzumachen: Den | |
Buchladen Rote Straße. In der Roten Straße gelegen, passte der Name damit. | |
„Die für den 8. Oktober 1972 angekündigte Eröffnung musste dann aber um | |
einen Tag verschoben werden“, erzählt Schild. „Die Gründer hatten bei der | |
Ankündigung nicht gemerkt, dass der 8. Oktober auf einen Sonntag fiel.“ | |
Voller Enthusiasmus und ohne übermäßigen handwerklichen Sachverstand | |
richteten die Buchladenleute mit Helfer:innen das angemietete Ladenlokal | |
her; zimmerten Regale, verkleideten Wände mit Eierpappen, hängten die Decke | |
ab und überkleisterten sie mit Farbe. „In den ersten Jahren wurde mit | |
Ölofen geheizt“, berichtet Schild. „Da entwickelte sich im Winter natürli… | |
Ruß, der sich auch auf den Büchern ablagerte.“ | |
## Eine Geschichte mit K-Gruppen | |
Heute beherbergt der alte Laden eine schicke Weinkneipe. Die Inhaberinnen | |
haben die Wände und Decken wieder freigelegt und dabei prachtvolle | |
Jugendstilfliesen vorgefunden. „Wir hatten damals Tapete drüber geklebt“, | |
sagt Schild, „wir wussten nichts von den tollen Fliesen.“ | |
Auch im Betreiberkollektiv des Buchladens waren zunächst K-Gruppen | |
vertreten. Eine Frau aus dem Kommunistischen Bund (KB) – die Organisation | |
war weniger dogmatisch als der KBW und stellte in Göttingen mehrere Jahre | |
lang den AStA-Vorsitz –, war formell die Besitzerin, sie meldete die | |
Buchhandlung als Einzelgeschäft an. Der KBW bekam zunächst ebenfalls einen | |
Platz im Kollektiv. Die Mehrheit indes stellten Leute aus linken | |
studentischen Wohngemeinschaften. | |
„Anfangs waren wir ungefähr fünf bis sechs Leute“, berichtet Schild. „W… | |
haben das damals mehr oder weniger ehrenamtlich gemacht. Es gab zwar einen | |
kleinen Stundenlohn, aber das meiste lief ehrenamtlich.“ Parallel zu ihrem | |
schwindenden Einfluss, verließen zunächst der KBW, später dann auch der KB | |
das Kollektiv. Zwischenzeitlich hatte der KBW auch seinen PoliBula | |
geschlossen, ebenso seine Buchhandlungen in anderen Städten. | |
1974 gründeten die Ladenbetreiber eine GmbH als neue Organisationsform. | |
Weitere Schritte in Richtung Professionalität erfolgten bis Ende der 1970er | |
Jahre. Klaus Schild bekam von der Industrie- und Handelskammer eine | |
Ausbildungsberechtigung zuerkannt. Die festen Mitglieder des Kollektivs | |
zahlten sich ein kleines Gehalt aus, das allein zum Leben aber nicht | |
reichte. „Ähnlich ist das noch heute“, sagt Mechthild Röttering, die seit | |
2001 im Buchladen mitarbeitet. „Es ist immer noch so, dass wir vor allem | |
deshalb hier arbeiten, weil es uns Spaß macht, und weil wir ein Kollektiv | |
sind.“ | |
## Sehr viel Vietnam | |
„Damals dachten wir, wir könnten mit Literatur und Bildung die Gesellschaft | |
verändern“, sagt Klaus Schild. Ein breites Angebot, das auch „bürgerliche… | |
Leser:innen hätte ansprechen können, war im Buchladen Rote Straße in den | |
Anfangsjahren deshalb nicht vorhanden. „Unser Sortiment bestand anfangs vor | |
allem aus dem, was in der Studentenbewegung diskutiert und angefordert | |
wurde.“ | |
Belletristik war zwar nicht verpönt, wurde aber nur sehr reduziert | |
vorgehalten: „Wir hatten allenfalls die klassischen linken Romane über den | |
Roten Wedding und die Romane von Willi Bredel, aber sonst war es vor allem | |
Sachbuch. Sehr viel Vietnam, sehr viel zu bewaffneten Kämpfen, zur | |
Auseinandersetzung mit der RAF. Das war das Schwerpunktsortiment.“ | |
Auch rund 50 Zeitschriften bot der Buchladen Rote Straße damals feil. Vom | |
Roten Morgen der KPD/ML bis zu Erziehung und Klassenkampf – das vom Verlag | |
Roter Stern herausgegebene Blatt ging damals häufig über den Ladentisch. | |
Heute, so Schild, „würde niemand mehr so was auf die Tagesordnung setzen“. | |
Linke Literatur weckt Begehrlichkeiten auch bei der Staatsmacht. Anlass zur | |
Kriminalisierung bot etwa das Buch „Wie alles anfing“ von Bommi Baumann. | |
Obwohl der Mitgründer und spätere Aussteiger aus der Bewegung 2. Juni darin | |
nur eine Beschreibung seiner Guerillazeit lieferte, wurde dem Trikont | |
Verlag untersagt, das Buch weiter zu verkaufen. Der 1976 neu ins | |
Strafgesetzbuch aufgenommene – inzwischen längst wieder gestrichene – | |
Paragraf 88a sollte verhindern, dass durch das Gutheißen von Straftaten ein | |
Klima geschaffen werde, in dem schwere Gewalttaten gedeihen könnten. | |
## Angegangen auch von Nazi | |
Rund 120 Verlage und Einzelpersonen, darunter auch der Buchladen Rote | |
Straße, entschlossen sich daraufhin, das Buch gemeinsam herauszugeben. „Uns | |
allen, dachten wir, konnte man keinen Prozess machen“, sagt Schild. „Und so | |
war es dann auch.“ In den Folgejahren wurde der Laden immer wieder mit | |
Strafverfahren und Razzien überzogen. „Entweder sie haben Schriften gesucht | |
oder Zeitungen, die im Untergrund produziert wurden, oder es waren | |
missliebige Äußerungen im Fenster des Buchladens gegen Justiz oder | |
Polizei.“ Verurteilt wurde aus dem Buchladenkollektiv bis heute aber | |
niemand. | |
Angegangen wurde der Buchladen auch von Nazis, die damals nur eine Straße | |
weiter ihre Göttinger Zentrale hatten. Mehrmals attackierten die Rechten | |
das Geschäft, warfen Scheiben ein oder pinselten das Schaufenster von außen | |
mit weißer Farbe zu. | |
Mit der Zeit erweiterte und änderte der Laden sein Angebot, etwa hin zu | |
mehr Belletristik. Schild erinnert sich an eine lange Diskussion, ob Krimis | |
in Sortiment aufgenommen werden sollten. „Schließlich haben wir die Bücher | |
von [3][Sjöwall] und [4][Walhöö] reingenommen und auch gut verkauft.“ Das | |
schwedische Autorenpaar war unter den Ersten, die Kriminalromane mit | |
politischem Anstrich und Anspruch schrieben. Auch Svende Merians 1980 | |
veröffentlichte Abrechnung mit einem Beziehungspartner, „Der Tod des | |
Märchenprinzen“, fand den Weg in die Rote Straße, ebenso Ernest Callenbachs | |
„Ökotopia“ und Romane aus der Frauenbewegung. | |
Zugleich vertrieb der Buchladen auch immer mehr Sachbücher. Die Bände | |
griffen die aktuellen Befreiungskämpfe in Vietnam, Afrika oder Portugal | |
auf, sowie Themen aus der Anti-AKW- und der Friedensbewegung. „Wir wurden“, | |
konstatiert Klaus Schild, „von einem Studentenbewegungsbuchladen zu einem | |
Bewegungsbuchladen.“ | |
## Seit 25 Jahren Miete nicht erhöht | |
Vor 25 Jahren erfolgte der Umzug ins neue Quartier am Nikolaikirchhof. Das | |
Haus gehört dem Verleger Gerhard Steidl, der ein paar Eingänge weiter | |
seinen Verlag und seine Druckerei betreibt und auf dessen Initiative das | |
Viertel derzeit zum Kunstquartier umgewandelt wird – mit Kunstgalerie, | |
[5][Günter-Grass-Archiv] und [6][Literarischem Zentrum]. „Seit 25 Jahren | |
hat Steidl unsere Miete nicht erhöht“, sagt Mechthild Röttering, „dafür | |
sind wir natürlich dankbar.“ | |
Zumal der Buchladen immer mal wieder mit wirtschaftlichen Problemen zu | |
kämpfen hatte und die Mitarbeitenden zwischenzeitlich auch schon mal ein | |
Transparent mit der Warnung „Wir machen zu!“ ins Fenster hängten. „Aber�… | |
betonen Schild und Röttering, „es gab immer eine große Anzahl von | |
Nutzer:innen, die uns kurzfristig Darlehen gegeben haben.“ | |
In den vergangenen Jahren hat sich die finanzielle Situation sogar | |
verbessert. „Sehr viele Leute, quer durch alle Altersspektren, schätzen | |
unser Angebot“, erklärt Röttering den Trend. Das liege zum einen „am | |
Alleinstellungsmerkmal linker Buchladen, progressiver Literatur, Literatur | |
zu Feminismus, zu Queerness – und nach wie haben wir die Blauen Bände von | |
Marx/Engels, das hat sonst niemand“. Die Kundschaft schätze aber auch, | |
„dass wir Krimis und Belletristik haben, dass wir versuchen, | |
Neuerscheinungen von kleineren Verlagen, die sonst untergehen, zu | |
präsentieren. Klar, wir führen auch das, was bei Thalia im Stapel liegt, | |
warum auch nicht? Ein Buch ist ja deshalb noch nicht schlecht, nur weil es | |
bei Thalia ausliegt.“ | |
Zeitungen und Zeitschriften spielen im Geschäft hingegen kaum noch eine | |
Rolle. „Wir haben zwar noch welche“, sagt Rüttering, die taz | |
beispielsweise. Auch ak, der rechte rand und Sozialismus würden noch | |
einigermaßen gut verkauft. „Aber wir könnten es im Grunde auf fünf | |
Zeitschriften reduzieren.“ Die Buchladen-Leute wollen aber weiterhin auch | |
andere Blätter anbieten. Wie die Lateinamerika Nachrichten: Früher bezog | |
der Buchladen davon mal 20 Exemplare, 17 oder 18 davon wurden verkauft, | |
heute ist es nur noch ein Exemplar. | |
## „Hauptsächlich Stammkundschaft“ | |
Schild und Röttering sind überzeugt, dass Amazon und überhaupt der | |
Internet(buch)handel den Buchladen Rote Straße wirtschaftlich weniger | |
getroffen haben als große Buchhandlungen: „Denn wir haben, wie auch andere | |
kleine und Inhabergeführte Läden, hauptsächlich Stammkundschaft“, sagt | |
Röttering. Und die bleibe überwiegend bei der Stange, und habe meist | |
„keinen Bock auf Amazon. Sie sagen, ich hab eine Buchhandlung vor Ort, drei | |
Straßen weiter, warum soll ich mir alles schicken lassen.“ | |
Auch die Coronakrise hat das Buchladenkollketiv bislang gut überstanden. | |
„Wir sind mit dem Fahrrad und dem Auto rumgefahren und haben selbst | |
ausgeliefert. Und wir hatten eine Abholkisten vor der Tür, da haben wir die | |
bestellten Bücher und die Rechnung reingelegt, auf Vertrauensbasis, so wie | |
man das mit Stammkundschaft macht.“ Viele Kunden hätten gleich zu Beginn | |
der Pandemie Bücherkonten eingerichtet und „massenhaft Bücher bestellt, als | |
ob es nächste Woche keine mehr geben würde“. Auch „unfassbar viele | |
Kinderbücher“ seien geordert worden. | |
Sechs Leute arbeiten zurzeit im Buchladenkollektiv zusammen. Ab Oktober | |
werden es sieben sein, Veteran Klaus Schild will aus Altersgründen etwas | |
kürzer treten. „Wir starten gerade ein Experiment“, verkündet Röttering. | |
„Eigentlich machen hier ja alle das Gleiche, und alle kriegen das gleiche | |
Geld. Wir probieren aus, wie es funktioniert, wenn eine Person ein bisschen | |
weniger macht. Und wir versuchen, jünger zu werden“, sagt Röttering dann | |
noch. „Die Neuen müssen jetzt die nächsten 50 Jahre durchhalten.“ | |
22 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.roter-buchladen.de/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistischer_Bund_Westdeutschland | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Maj_Sj%C3%B6wall | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Per_Wahl%C3%B6%C3%B6 | |
[5] https://www.sub.uni-goettingen.de/projekte-forschung/projektdetails/projekt… | |
[6] https://www.literarisches-zentrum-goettingen.de/ | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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