# taz.de -- Artenschutz für Wildtiere: Wo sind die Feldhamster hin? | |
> Die Hamster auf dem Gelände der Göttinger Universität sind vom Aussterben | |
> bedroht. Nun wurden sie nach Berlin ins Fortpflanzungsexil gebracht. | |
Bild: Hoffnung für Göttingen: Feldhamsternachwuchs im Tierpark Berlin | |
Göttingen taz | Göttingens Feldhamster befinden sich momentan im | |
Fortpflanzungsexil. In ihrem angestammten Revier auf dem | |
Universitätsgelände sind sie von Tierfreund*innen eingefangen, in | |
Reiseboxen verfrachtet und nach Berlin transportiert worden, in den | |
Tierpark Friedrichsfelde. Im Landkreis Göttingen sind Hamster komplett | |
ausgestorben, bis auf jenes „kleine gallische Dorf“, wie der Biologe Tobias | |
Reiners das Siedlungsgebiet am Nordcampus nennt. Und es ist zu klein, um zu | |
überleben. | |
Ehrenamtliche Artenschützer*innen versuchen nun in Berlin die letzte | |
verbliebene Möglichkeit, um den Fortbestand zu sichern: die | |
Erhaltungszucht. Danach sollen die Tiere wieder angesiedelt werden. Wo man | |
das tut, ist noch zu verhandeln. Eigentlich müssten sie in ihr angestammtes | |
Gebiet auf dem [1][Nordcampus] zurück. Doch dort ist es den Feldhamstern | |
bisher nicht gut ergangen. | |
Als der in den 1970ern entstandene Nordcampus 1998 besser an den ÖPNV | |
angebunden werden sollte, was neue Straßen für Busse notwendig machte, | |
wiesen Institutsarbeiter und Göttinger Naturschutzverbände die Behörden auf | |
die deutschlandweit größte Feldhamsterkolonie hin. Auf die Rote Liste der | |
gefährdeten Tierarten war der Hamster in Niedersachsen 1993 gesetzt worden. | |
Prinzipiell genießt der bedrohte Feldhamster somit den höchsten rechtlichen | |
Schutz. Es ist streng verboten, in seinem Habitat zu bauen. | |
## Beweismaterial wurde gesammelt | |
Was folgte, war ein Rechtsstreit zwischen Artenschützer*innen, der | |
Universität und der Stadt, die von nichts gewusst haben wollte. Falsch!, | |
stellte sich heraus. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, Beweismaterial | |
wurde gesammelt. 1998 verzögerten die Göttinger Nager den millionenschweren | |
Bau des neuen Biozentrums, während die Universität, um die Gemüter zu | |
besänftigen, einen Forschungsauftrag zum Feldhamster veranlasste: | |
„Naturschutzfachliche Grundlagen eines Managementkonzeptes zum | |
langfristigem Erhalt des Feldhamsters im Nordbereich der Universität | |
Göttingen“. Der Bericht scheint verschollen. | |
In früheren Jahren wurden noch um die 100 Baue nachgewiesen. Eine Zählung | |
der Universität ergab 2021 nur noch 13 Baue. Es ist unklar, wie viele | |
Exemplare es noch gibt. Die kleine Feldhamstergemeinschaft in Göttingen ist | |
hochgradig gefährdet. „Die Zahl ist so gering, dass man jedes Jahr | |
gebibbert hat. Nur ein Fuchs hätte einmal querlaufen müssen und der letzte | |
Göttinger Feldhamster wäre Geschichte gewesen“, sagt Reiners, der | |
wissenschaftlicher Leiter des deutschlandweiten Projektes | |
„[2][Feldhamsterland]“ ist, das von der Deutschen Wildtierstiftung | |
koordiniert und vom Bundesumweltministerium noch bis 2023 gefördert wird. | |
Populationsschwankungen durch natürliche Fressfeinde seien zwar normal, | |
aber in so schwachem Zustand ist eine Art nicht mehr überlebensfähig, so | |
Reiners. Das Schwächeln des Göttinger Vorkommens liegt auch an der | |
Verarmung der genetischen Vielfalt der Tiere, die mittels Hamsterhaarprobe | |
vom Senckenberg Institut festgestellt wurde. | |
Dieses sogenannte „bottle neck syndrom“ habe zur Folge, dass Erbkrankheiten | |
auftreten und das Geschlechterverhältnis des Nachwuchses bei neuen Würfen | |
unausgewogen ist, erklärt Nina Lipecki, die 2017 die [3][AG | |
Feldhamsterschutz] gründete und stellvertretende Landrätin für die Grünen | |
in Hildesheim ist. Vom Aussterben bedrohte Tierarten bekämen schnell | |
genetische Probleme aufgrund der Inzuchtpaarung, die durch die Verinselung | |
der einst zusammenhängenden Vorkommen bedingt ist. | |
## Hilfe vom Artenspürhund | |
Von Göttingen aus leben die nächsten Hamster im Raum Hannover sowie in der | |
Hildesheimer und Braunschweiger Börde. Das Straßennetz und die zunehmende | |
Versiegelung von Böden erschweren Begegnungen zwischen den Feldhamstern, | |
die ohnehin Einzelgänger sind. Um das Erbgut und somit die | |
Überlebenschancen der Tiere zu verbessern, wurden im April drei Exemplare | |
aus der Hildesheimer Börde und fünf weitere der Göttinger Verbliebenen | |
eingefangen und nach Berlin transportiert. Dabei half ein speziell | |
ausgebildeter Artenspürhund. Man strebt eine Nachzüchtung von 30 bis 50 | |
Tieren an. | |
Der Europäische Gerichtshof hat das Recht des Wühlers auf seinen Lebensraum | |
erst vergangenes Jahr [4][nochmals gestärkt]. Selbst ungenutzte Ruhe- und | |
Fortpflanzungsstätten dürfen nicht bebaut werden, wenn die hinreichend hohe | |
Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Tiere zurückkehren könnten. „Aber ein | |
Feldhamster hat noch nie ein Bauvorhaben verhindert“, sagt Biologe Reiners. | |
Es gibt Ausnahmegenehmigungen, die dann zumindest Kompensationsmaßnahmen | |
erfordern. Das Argument: Das öffentliche Interesse überwiege. | |
Naturschutzrechtliche Interessen müssen sich unterordnen. | |
Um trotzdem bauen zu können, verpflichtete sich die Universität noch vor | |
der Jahrtausendwende in einem städtebaulichen Vertrag zu sogenannten | |
CEF-Maßnahmen (continuous ecological functionality). Wenn sie an neuer | |
Stelle Lebensraum schafft, darf sie ihn an anderer Stelle zerstören. Daher | |
wurden Ausgleichsflächen geschaffen, die so bewirtschaftet werden, dass sie | |
dem Feldhamster gerecht werden. „Zusätzlich wurden Wanderkorridore durch | |
den Nordbereich der Universität eingerichtet, die dem Migrationsbedürfnis | |
der Tiere Rechnung tragen sollen“, sagt Oberbürgermeisterin Petra Broistedt | |
(SPD). | |
Weiterhin werden die Hamster mit kleinflächigen Zwischenbiotopen | |
unterstützt, auf denen sie sich vorübergehend aufhalten können, um von da | |
den Sprung in das nächste Revier zu schaffen. Die Wirksamkeit der Maßnahmen | |
wird durch ein jährliches Monitoring von einem unabhängigen Gutachterbüro | |
überwacht. | |
„Aber natürlich kann man schlecht mit den Hamstern reden und sagen, könnt | |
ihr bitte da rübergehen, euer neuer Lebensraum ist da drüben, der ist viel | |
besser“, sagt Feldhamsterschützer Reiners. Ob so eine Umsiedlung | |
funktioniert, wisse kein Mensch. Die Sterbeziffer solcher | |
Umsiedlungsaktionen werde gar nicht bilanziert. In der Praxis verliere man | |
einen Großteil des Bestandes. Künftig möchte die Tierärztliche Hochschule | |
Hannover ein „Gesundheits-Monitoring“ durchführen, sagt eine Sprecherin vom | |
dortigen [5][Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung]. | |
Rechtlich gesehen trägt die Universität oder die Stadt Göttingen nicht die | |
alleinige Verantwortung für den Erhalt einer Art. Die liegt nicht beim | |
Eingreifer, sondern beim Land Niedersachsen. Dieses muss garantieren, dass | |
die Gesundheit der Population erhalten bleibt. | |
## Streng geschützt | |
Das Bundesnaturschutzgesetz, das den Artenschutz regelt, unterscheidet | |
zwischen „besonders geschützt“ und „streng geschützt“. Letzteres ist … | |
Hamster. | |
Doch das Einhalten der [6][Richtlinie zum Erhalt wildlebender Tiere und | |
ihrer Lebensräume], die 1992 von der EU verabschiedet wurde, scheitere | |
durch Vollzugsdefizite im Naturschutz, sagt Tobias Reiners. „Das ist ein | |
politisches Versagen und das der Behörden.“ Hätte man mehrere gesunde | |
Populationen, könnte man den Verlust einer noch eher verschmerzen, | |
argumentiert er. | |
Das Ministerium für Umwelt sagt, das Land Niedersachsen tue etwas für die | |
Tiere, indem Landwirt*innen ein finanzieller Ausgleich angeboten werde, | |
wenn sie feldhamsterfreundlich wirtschaften, also Schonstreifen am Rande | |
der Felder anlegen. Dahinter steht ein Förderprogramm der EU. Ab 2023 | |
beginnt eine neue Förderperiode von Maßnahmen, die auf die Stabilisierung | |
der Hamsterpopulation abzielen. | |
Ein Erfolg der Göttinger Naturschutzverbände ist die Zusammenarbeit mit den | |
Gärtner*innen der Universität. Sie kümmern sich vor Ort um den | |
Feldhamsterschutz und gehen so mit gutem Beispiel in puncto Artenschutz | |
voran. | |
Denn die Universität Göttingen ist weiterhin im Siedlungsgebiet der | |
Feldhamster baulich aktiv. Als die Universität 2012 ein neues | |
Chemikalienlager errichtete, wurde wegen nur einem Hamsterbau extra eine | |
meterweite Nische im Bauzaun eingefügt. Das Gebäude wurde schließlich | |
allerdings ohne hamsterschonenden Schlenker gebaut, berichten die Göttinger | |
Artschützer*innen. | |
Erst 2019 wurde ein neues Studentenwohnheim errichtet. Weiterhin ist ein | |
Praktikumsgebäude für die organische und anorganische Chemie geplant. | |
Zeitnah soll ein runder Tisch einberufen werden, bei dem die Frage der | |
Wiederansiedlung verhandelt wird. Die ist für nächstes Jahr geplant. Es | |
muss nur noch ein Gebiet gefunden werden, das den Bedürfnissen des | |
Feldhamsters entspricht. Vor allem tiefe Böden sind für die Tiere wichtig. | |
Immerhin vermeldete der Berliner Tierpark in der vergangenen Woche den | |
ersten [7][Hamsternachwuchs]. Dem Vernehmen nach sind die Kleinen wohlauf. | |
2 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.uni-goettingen.de/de/70473.html | |
[2] https://www.senckenberg.de/de/engagement/buergerwissenschaften/feldhamsterl… | |
[3] https://ag-feldhamsterschutz-niedersachsen.de/feldhamster/verein/unser-team/ | |
[4] https://www.deutschewildtierstiftung.de/aktuelles/europaeischer-gerichtshof… | |
[5] https://www.tiho-hannover.de/itaw | |
[6] https://www.wwf.de/themen-projekte/artenschutz/politische-instrumente/die-f… | |
[7] https://www.tierpark-berlin.de/fileadmin/user_upload/PM_Feldhamster_Station… | |
## AUTOREN | |
Hannah Reupert | |
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