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# taz.de -- 50 Jahre AJZ Neumünster: „Wild und ein bisschen ranzig“
> Das Autonome Jugendzentrum in Neumünster wird 50 – wie viele andere
> Jugendhäuser auch. Ein Blick zurück und nach vorn: Wie wichtig sind sie
> heute?
Bild: So ging es in den 1980er Jahren zu: Stagediving im Jugendhaus Neumünster
Neumünster taz | Von irgendwo im Haus dröhnt Musik herüber, aus dem Hof, in
dem die Planungsgruppe tagt, klingen Stimmen, und Heinrich Wadle, Heiner
genannt, steht im Treppenhaus des [1][Jugendzentrums in Neumünster] und
spricht von vergangenen Schlachten. Er tippt auf eines der Plakate, mit
denen die Wand zugepflastert ist, es erinnert an einen Konzertauftritt des
Liedermachers Degenhardt vor vielen Jahren: „An dem Abend habe ich draußen
Wache geschoben“, sagt Wadle. Es sei nichts passiert damals, aber es hätte
durchaus: Das AJZ – die Abkürzung steht für „Aktion Jugendzentrum“ – …
Kampfzone, umgeben von Feind*innen und Gegner*innen, von Anfang an, seit
einem halben Jahrhundert.
Und heute? Das AJZ, das zu den ältesten autonomen Jugendzentren
Deutschlands zählt, sei „zahmer geworden“, findet Wadle. Diese Haltung
vertreten mehrere der Aktivist*innen der Jugendzentrumsbewegung der
1970er Jahre. Aber vielleicht sehen die aktuellen Kämpfe einfach nur anders
aus als damals?
Die mit bunten Graffiti bemalte Fassade des AJZ leuchtet in einer ansonsten
grauen Straße. Ein Drache schlängelt sich über die Wand, eine Taube mit
Regenbogenschal, ein Flamingo. Das AJZ ist in einem ehemaligen Kino
untergebracht, das „Astoria“ hieß. Das Gebäude liegt hinter dem
Hauptbahnhof, einerseits sehr zentral, andererseits in einer Ecke der
Stadt, die nicht sonderlich attraktiv ist.
Neumünster ist keine reiche Kommune, und in dem Viertel rund um das AJZ
prallen die Gegensätze und die politischen Lager aufeinander. Direkt um die
Ecke drehen sich die Kebab-Spieße im Pascha-Imbiss, daneben beten in einer
kleinen Moschee die Mitglieder der Islamischen Gemeinde Neumünster.
Jenseits der Straßenkreuzung lag viele Jahre die Kneipe „Titanic“, ein
bekannter [2][Treff der rechten Szene], die in Neumünster stark ist und
durch Verflechtungen mit Rockerbanden in den vergangenen Jahren noch größer
geworden ist. Linke und Rechte, Punks und Skins quasi Tür an Tür – die
Wachdienste, die Wadle beschreibt, waren bitter nötig.
## Typisch und untypisch zugleich
Das AJZ in Neumünster ist typisch und untypisch zugleich für die autonomen
Zentren, die vor gut einem halben Jahrhundert bundesweit entstanden.
Schleswig-Holstein war neben Baden-Württemberg eines der „Epizentren“ der
Bewegung, sagt Tobias Frindt, der in seinem Film „Freie Räume“ von 2019 die
Geschichte der autonomen Treffs untersucht und selbst in Mannheim aktiv
war. Ein Ergebnis seiner historischen Spurensuche lautet, dass jedes
Zentrum seine eigene Geschichte schrieb. Dennoch gibt es einige Merkmale,
die viele der Häuser teilen.
Typisch ist [3][Neumünsters mittlere Größe]: rund 90.000 Menschen lebten
1970 in der kreisfreien Stadt im Zentrum von Schleswig-Holstein. Eine Uni
gab es nicht, Neumünster war eine Arbeiterstadt, die nach einem Aufschwung
im Wirtschaftswunderdeutschland ab 1960 den Niedergang erlebte. Die
Tuchfabriken und Gerbereien, für die die Stadt berühmt gewesen war,
schlossen eine nach der anderen, weil Stoffe aus dem Ausland billiger waren
als deutsche Wertarbeit. Dennoch gab es viele Lehrlinge, und die trugen in
Neumünster den Kampf um einen eigenen Jugendtreff aus.
Heiner Wadle war weder Lehrling, noch stammte er aus Neumünster. Der
gebürtige Kieler wuchs im Arbeiterbezirk Gaarden auf, sein Vater arbeitete
bei der [4][Howaldt-Werft] und engagierte sich als Betriebsrat. Anfang der
70er Jahre zogen die Eltern nach Neumünster. Es war eine Phase der
Umbrüche, „eine völlig andere Zeit“, erinnert sich der heute 72-Jährige.
## Sieg auf der ganzen Linie
Vor 50 Jahren war er bereits Student und durch sein Elternhaus politisiert.
Er trat dem Kampf der Schüler*innen und Lehrlinge für den eigenen
Jugendtreff bei, aus ganz praktischen Gründen: „Kneipen waren teuer, Discos
gab’s noch nicht“, sagt er. „Wir wollten etwas haben, wo wir uns treffen
und organisieren konnten.“ 1970 gingen die Jugendlichen auf die Straße,
1972 erhielten sie das leerstehende Kino hinter dem Bahnhof als ihren
Treffpunkt – Sieg auf der ganzen Linie.
In anderen Städten trugen Studierende den Protest, in manchen Städten waren
es Schüler*innen, vor allem männliche Gymnasiasten: „Das war von Ort zu Ort
ganz verschieden“, sagt Frindt. Aber egal wer den Ton angab, „die Zentren
waren melting pots, in denen sich alle Gruppen trafen.“
Das gelte immer noch, sagt Sebastian Würtz, der heute als Sozialpädagoge in
Neumünster für das Nachmittagsprogramm und die Kinderbetreuung zuständig
ist: „Viele Kinder aus dem Viertel, die unsere Angebote nutzen, stammen aus
prekären Verhältnissen.“
## Die „vermummten Horden“ der NPD
Aber auch für Oberschüler*innen oder Auszubildende war und ist das Haus
ein wichtiger Treff – und „einer der wenigen Orte, wo linke Jugendliche
hingehen können“, sagt Annick. Die 38-jährige Neumünsteranerin hielt sich
zwischen 1999 und etwa 2004 regelmäßig im AJZ auf, heute besucht sie ab und
zu noch Konzerte. Als „wild“ und „ein bisschen ranzig“ beschreibt sie d…
Haus. Aber dass das AJZ ein Treff für gewaltbereite, „vermummte Horden“
sei, wie ein NPD-Stadtrat vor einigen Jahren behauptete, darüber kann sie
nur lachen.
Tatsächlich hat das AJZ, wie die meisten der heute noch bestehenden Treffs,
inzwischen eine feste Struktur, einen Trägerverein, der den Kontakt zur
Stadtverwaltung hält. Auch das ist eher typisch, sagt Frindt: „Es gibt
bundesweit nur wenige Häuser, die komplett autonom sind, wenn es
Aktivist*innen gibt, die das tragen.“
Knapp 100.000 Euro erhält der Verein Aktion Jugendzentrum e. V. von der
Stadt Neumünster, vor allem für die Angebote der offenen Kinder- und
Jugendarbeit. Parallel steht das Haus allen Jugendlichen offen, die sich
„zum Musikmachen, Sprayen, Schrauben, Kochen, Diskutieren und Politikmachen
treffen wollen, so steht es auf der Homepage. An den Wochenenden gibt es
unkommerzielle Veranstaltungen, vom Poetry Slam bis zum Punkkonzert. Die
Scorpions und Fettes Brot haben schon mal im Haus gespielt, heute kommen
eher lokale Bands, viele aus der Punk-Szene, die Namen wie „Schaisze“ oder
„Frevel“ tragen.
Dafür auch noch öffentliches Geld? Skandalös, findet die NPD, die in
Neumünster im Stadtrat sitzt. Schließlich sei das AJZ ein Treffpunkt der
„linksextremistischen, kriminellen Vereinigung“ Antifa, deren Mitglieder
„Polizisten angreifen und vor schweren Straftaten nicht zurückschrecken“.
Ob es „im Sinne des Erfinders“ sei, darüber sollten sich „die normalen
Bürger Gedanken machen“, sagte der NPD-Mann in einem Youtube-Video.
## Ein neu gegründetes Projekt
Mit Kritik von ganz rechts können die autonomen Zentren gut leben – aber in
vielen Orten gibt es bis heute auch Spannungen mit bürgerlichen Parteien
wie der CDU, deren Mitglieder oft die Stadträte dominieren. Das bekam etwa
das „[5][Dorf der Jugend]“ im sächsischen Grimma zu spüren, ein neu
gegründetes Projekt, das zwar als „Leuchtturm“ im Kampf gegen rechts in der
ostdeutschen Provinz gilt, aber dennoch vor einigen Jahren Probleme hatte,
die Finanzierung zu sichern.
Denn vielen Stadträten ist das Chaotische, die Selbstorganisation ein Dorn
im Auge. Doch die basisdemokratischen Vollversammlungen, in denen alle
Jugendlichen mitreden dürfen, bilden nun einmal das höchste Gremium. Daran
erinnert sich auch Annick: „Wie das mit dem Trägerverein lief, hat man kaum
mitbekommen. Wichtig war die Vollversammlung.“ Die heißt in Neumünster
„Besucher*innen- und Mitarbeiter*innentreffen“, kurz BUMT.
Dort ist auch Linn regelmäßig dabei, eine der heute Aktiven. Die 23-Jährige
steht im ehemaligen Kinosaal in der Mitte des Hauses. Statt der Sitzreihen
stehen durchgesessene Couchen um kleine Tische, vor einem Tresen warten
Billardtische und Kicker. Ausgeschenkt werden Getränke zum
Selbstkostenpreis, die Arbeit machen Ehrenamtliche wie Linn. Zuerst kam sie
als Besucherin, ein Techno-Konzert war die erste Veranstaltung, dann folgte
ein Poetry-Slam, berichtet die Auszubildende: „Mir gefällt, dass es ein
geschützter Raum ist.“
Das AJZ versteht und verstand sich als offener Ort. Diskriminierungsfrei,
ohne Rassismus, ohne kulturelle Scheuklappen – na klar. Aber zwischen
Anspruch und Wirklichkeit klafft eine Lücke, jedenfalls aus Sicht einer
Schwarzen Deutschen: „Das war kein Ort für uns, kein Ort, zu dem wir
gingen“, sagt Aminata Touré. Die Eltern der Grünen-Politikerin und heutigen
Sozialministerin von Schleswig-Holstein stammen aus Mali, Touré wurde 1992
in einer Geflüchteten-Unterkunft in Neumünster geboren und wuchs in der
Stadt auf.
## Aminata Touré ging nicht ins Jugendhaus
Das AJZ besuchten weder sie noch ihre ältere Schwester. „Vielleicht wäre
alles gut gewesen, wenn wir einfach reingegangen wären“, sagt sie heute.
Aber damals sei es ihnen nicht so vorgekommen: Etwas an dem Haus, an der
Haltung derer, die sich dort aufhielten, war „exkludierend, ohne es zu
checken“ – eine Haltung, die sie bei Linken oft erlebt habe, sagt die
29-Jährige. Es habe an der Sprache gelegen, auch an der Mode.
Als Beispiel nennt Touré, dass eine Zeitlang linke Punks Glatze und
Springerstiefel trugen: „Schon okay, dass sie den Neonazis solche Symbole
wegnehmen, aber für eine Schwarze Person ist das nachts auf einer einsamen
Straße nicht so einfach, die Zeichen genau zu kapieren.“
Annick, die dieselbe Schule besuchte wie die heutige Ministerin, glaubt
nicht, dass die Hautfarbe ein Kriterium sei: „Im AJZ trifft sich halt eine
spezielle Szene, und die muss man mögen – mit lauter Musik und billigem
Bier, das gehört alles dazu.“
Filmemacher Tobias Frindt gibt beiden recht: „Der linke Zeitgeist war und
ist klar gegen Diskriminierung. Ob das aber auch so rüberkam, ist eine ganz
andere Frage.“ Auch die Zentren spiegelten die Veränderungen in der
Gesellschaft wider: In den Anfangsjahren um 1970 gab es weniger Jugendliche
mit Migrationshintergrund als zu seiner aktiven Zeit oder heute, und „die
Milieus sind nicht mehr so getrennt“, meint er.
## Braucht es noch einen Treff vor Ort?
Politisch sein und Haltung zeigen, gegen rechts, gegen Atomkraft, für
Klimaschutz, gehört für viele Jugendliche, die sich im AJZ versammeln,
dazu. Aber der Alltag sieht prosaischer aus, und das war schon vor 50
Jahren so, sagt Wadle: „Zu den Feiern kamen immer viele Leute, aber für die
tägliche Arbeit nicht so viele.“
20 bis 30 Kinder kommen pro Tag ins Haus, dazu 15 bis 20 Jugendliche,
berichtet Sebastian Würtz, der hauptamtliche Sozialarbeiter. Die
Coronalockdowns haben für einen Knick gesorgt, die Jugendlichen müssen
sich erst wieder an die Angebote gewöhnen. Viele organisieren sich eher in
virtuellen Räumen.
Aber braucht es dann noch einen Treff vor Ort? Wadle führt in das
Internetcafé des Hauses, einen Raum mit langen Tischen und einigen Rechnern
darauf. Egal wie verbreitet Smartphones seien, der Zugang zum Netz sei eben
doch nicht für alle selbstverständlich. Und auch Beratungsangebote und die
Chance, einen Treff jenseits der engen Wohnung zu haben, seien für viele
wichtig, sagt der 72-Jährige, der lange nach seiner aktiven Zeit noch im
Vorstand mitarbeitete, inzwischen aber die Aufgabe den Jüngeren überlässt.
Die haben viel vor: Das AJZ soll umziehen. Schließlich wurde es vor 50
Jahren nur „vorläufig“ in dem alten Kino hinter dem Bahnhof untergebracht.
Seit Jahren laufen die Planungen für die Neueröffnung in einer alten
Fabrik, rund einen Kilometer vom heutigen Standort entfernt. Mehrere
Millionen Euro kostet die Sanierung des Gebäudes, in das auch andere
Projekte einziehen sollen.
Aber die Arbeiten verzögern sich – die AJZ-Aktiven müssen sich noch eine
Weile weiter durchwurschteln, wie schon seit 50 Jahren.
26 Sep 2022
## LINKS
[1] http://www.ajz-neumuenster.de/
[2] /!5810832/
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Neum%C3%BCnster
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Howaldtswerke-Deutsche_Werft
[5] /Jugendarbeiter-ueber-Rechtsextremismus/!5535324
## AUTOREN
Esther Geißlinger
## TAGS
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Aminata Touré
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