| # taz.de -- Demokratie und Bürgerbeteiligung: Paternalismus in Reinkultur | |
| > Erklärungen, die das Ziel haben, Widerspruch abzuschmettern, sind ein | |
| > Problem. Gerade jetzt sind öffentliche Debatten an der Basis notwendig. | |
| Bild: Hat schonmal günstigere Beliebtheitsumfragen erlebt. Vize-Kanzler Robert… | |
| Zum Wesen des bundesdeutschen Parlamentarismus gehört, dass Abgeordnete | |
| sich nur alle vier Jahre den Urteilen der Regierten stellen müssen. Zwar | |
| gibt es zwischendurch regionale Wahlen, zudem spiegeln Umfragen stetig die | |
| Stimmung im Lande. Zentrale Entscheidungen aber werden in internen Zirkeln | |
| getroffen, bestenfalls ergänzt durch Anhörungen mit Interessenverbänden und | |
| politischen Lobbys. Ein echter Austausch mit „den Menschen da draußen“ ist | |
| in diesem System kaum vorgesehen. | |
| Über besonders strittige Themen, wie [1][Aufrüstung], [2][Atomkraft], | |
| [3][Hartz IV] oder die Coronapolitik, wird nicht direkt abgestimmt. | |
| Plebiszite, wie sie in der Schweiz regelmäßig stattfinden, haben in | |
| Deutschland einen schlechten Ruf, schon wegen negativer Erfahrungen in der | |
| Weimarer Republik. Die Direktwahl des rechtsnationalen | |
| Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg, der 1925 den | |
| sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert ablöste, | |
| erleichterte später die Machtübernahme der Nazis. | |
| Volksbefragungen als Beteiligungskonzepte, die nicht durch parlamentarische | |
| Filter kanalisiert werden, können zu unbequemen Ergebnissen führen. | |
| Stattdessen ist das „Erklären“ die neue Zauberformel. Besonders häufig | |
| praktiziert sie Robert Habeck. Auf den ersten Blick hebt er sich damit | |
| positiv ab von einstigen „Basta“-Politikern wie [4][Gerhard Schröder] oder | |
| auch Helmut Kohl. | |
| Doch ob es um Waffen für die Ukraine oder um die Energiekrise geht, der | |
| Vizekanzler erklärt stets erst dann, wenn er eine Entscheidung getroffen | |
| hat. Vorhaben, die erklärungsbedürftig sind, sollte die Politik jedoch vor | |
| ihrer Umsetzung debattieren – nicht nur im kleinen Kreis von Fachleuten, | |
| sondern auch mit denen, die die massiven Konsequenzen zu tragen haben. Das | |
| würde, gerade in der aktuellen Kontroverse um Sanktionen und ihre | |
| inflationären Folgen, Widerspruch ermöglichen. | |
| ## Suggestion von Bürgernähe | |
| Wer sein Handeln erst im Nachhinein erläutert, will sich nicht | |
| rechtfertigen, er will sich positionieren. So stellt sich die Regierung nur | |
| scheinbar den Bedenken derjenigen, die sie gewählt haben. Dabei wäre echte | |
| Beteiligung notwendiger denn je, denn für viele Betroffene geht es derzeit | |
| um existenzielle Fragen. Geduldig um Verständnis werben wirkt bürgernah und | |
| soll Nähe suggerieren. „Den Menschen da draußen“ die Welt zu erklären ma… | |
| beliebt. | |
| Anfangs ging das von der Kommunikationsberatung inspirierte Kalkül auf. | |
| Habeck stand mit Annalena Baerbock – bei einer Reise ins Baltikum wollte | |
| sie ihre Politik „in 40 Punkten noch mal erklären“ – lange an der Spitze… | |
| [5][ARD-Deutschlandtrend]. Erst in den letzten Wochen sind die Werte wegen | |
| seines Managements der Energiekrise gesunken. Hinter geschickter Rhetorik | |
| verbirgt sich ein hierarchisches Verständnis, wie Politik am besten zu | |
| vermitteln sei. | |
| Erklärungen, auch wenn sie gut gemeint sein mögen, ignorieren die Bedenken | |
| der Regierten, es handelt sich um Paternalismus in Reinkultur: Wir hier | |
| oben wissen Bescheid, wir haben den Überblick. Eure Einwände interessieren | |
| nicht, weil ihr unwissend seid. Deshalb sagen wir, warum es so und nicht | |
| anders laufen muss. Stark zugenommen hat das Erklären während der Pandemie. | |
| Vor allem im ersten Lockdown ging es um das eingängige Verbreiten | |
| komplizierter wissenschaftlicher Zusammenhänge – und um die Akzeptanz | |
| angeblich unvermeidbarer „Maßnahmen“. Das Virus lässt sich nicht aufhalte… | |
| darum sind unsere Beschlüsse alternativlos! Wir verordnen sie einfach, aber | |
| wir sind bereit, sie euch zu erklären. Unterhalb dieser Oberfläche wurde | |
| auf einen anderen Effekt gesetzt: Blockade des Zweifels durch Angstmache. | |
| ## Angst lähmt Widerstand | |
| Wer Angst hat, kann nicht gut denken, und die Anziehungskraft autoritärer | |
| Ideen wächst, wenn Menschen an ihre Sterblichkeit erinnert werden. Erklären | |
| ist nichts grundsätzlich Schlechtes. Wenn Eltern wissbegierige Fragen ihrer | |
| Kinder beantworten, ist das pädagogisch sinnvoll. Schwierig werden | |
| Erklärungen, wenn sie politische Macht durchsetzen sollen. Sie dienen dann | |
| schlicht dazu, Entscheidungen unhinterfragt zu lassen: Ihr müsst es jetzt | |
| endlich einsehen, ich habe es euch doch gerade erklärt! | |
| In Coronazeiten etablierte sich eine von Virologen, Medizinerinnen, | |
| Mathematikern und Physikerinnen dominierte Expertokratie. Diese | |
| geschlossene Front, an der sich Politik und auch weite Teile des | |
| Journalismus einseitig orientierten, duldete keine abweichenden Fakten und | |
| Meinungen. Verräterisch äußerte sich dazu in der Rückschau [6][Karl | |
| Lauterbach], in einer Talkshow, wo sonst. Er habe nie etwas gegen Kritik | |
| gehabt, bekannte er in der Runde von Markus Lanz, aber diese müsse von | |
| Menschen mit Fachkenntnis kommen. | |
| Gegenrede duldet der Gesundheitsminister nur aus medizinischer Sicht – und | |
| auch nur von jenen, die nach seinen Kriterien kompetent sind, die dieselben | |
| Studien gelesen haben wie er selbst und dieselben Schlüsse ziehen. Lästige | |
| Kommentare anderer Naturwissenschaftler:innen, aus | |
| geisteswissenschaftlichen Disziplinen oder gar von völligen Laien sind für | |
| ihn einfach nicht satisfaktionsfähig. Mit denen braucht man nicht zu | |
| diskutieren, die muss man nicht ernst nehmen. | |
| Die hinter dieser Haltung steckende Mentalität führt zu Unmut, der sich | |
| dann auf der Straße artikuliert – und stets Gefahr läuft, von rechter | |
| Demagogie vereinnahmt zu werden. Wie könnte eine bessere Beteiligung | |
| funktionieren? Die Politik muss absteigen vom hohen Ross, kann sich nicht | |
| damit begnügen, an Tagen der offenen Tür im Ministerium generös Fragen zu | |
| beantworten. | |
| Mindestens einmal im Monat sollten Abgeordnete deshalb in ihrem Wahlkreis | |
| oder, wenn sie über Landeslisten im Parlament sitzen, an ihrem Wohnort | |
| verpflichtend eine öffentliche Debatte an der Basis absolvieren. Solche | |
| Foren ohne Denkverbote könnten sich zu diskursiven Gegenpolen entwickeln – | |
| und einen Handlungsmodus ablösen, der lediglich dekretiert und anschließend | |
| „erklärt“. | |
| 26 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Aufruestung-in-Deutschland/!5838517 | |
| [2] /Laufzeitverlaengerung-der-Atomkraftwerke/!5879141 | |
| [3] /Abschied-von-Hartz-IV/!5878162 | |
| [4] /Gerhard-Schroeder/!t5014714 | |
| [5] https://www.tagesschau.de/dtrend-749.pdf | |
| [6] https://www.youtube.com/watch?v=0gzLZ8ty_Mo | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Gesterkamp | |
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