# taz.de -- Demokratie und Bürgerbeteiligung: Die Welt mitverändern | |
> Immer weniger Bürger engagieren sich für das Gemeinwohl. Für die | |
> Demokratie ist das ebenso Gift wie das Übermaß an oft fälschlichen | |
> Informationen. | |
Bild: Das Misstrauen der Bürger gegen eine schmale Schicht von Berufspolitiker… | |
Es gibt Geschichten, die begleiten einen wie ein Mantra. Eine davon habe | |
ich vor langer Zeit an dieser Stelle schon einmal erzählt, aber | |
gelegentlich ploppt sie wieder ins Gedächtnis: die Geschichte von dem Mann, | |
der so unangenehm spöttisch lachte, als ich ins Stottern kam. Warum ich | |
Journalist geworden sei, hatte er mich gefragt, und ich darauf irgend etwas | |
von „Weltverändern durch Aufklären“ gemurmelt. Ich traf den [1][Soziologen | |
Hans Speier] 1977 in einem Vorort von New York, einen Schüler Karl | |
Mannheims. | |
Der wiederum hatte das Wort vom „freischwebenden Intellektuellen“ geprägt, | |
dem überparteilichen Statthalter der Vernunft im Interessenkampf. Speier | |
hatte an der Hochschule für Politik in Berlin gelehrt und musste 1933 nach | |
New York fliehen, wurde Kriegstheoretiker und Experte für Propaganda im | |
Dienste der US-Regierung. | |
„[2][Weltverändern]?“, rief er damals aus, „da haben Sie den falschen Be… | |
gewählt. Völlig falsch. Wenn Sie die Welt verändern wollen, dann müssen Sie | |
in eine politische Partei gehen und um Mehrheiten kämpfen.“ Sein Ton war | |
unerträglich belehrend; ich fühlte seine Verachtung für den naiven, | |
machtvergessenen Studenten. Und dann passierte mir, was mir nie zuvor | |
passiert war, und nie wieder danach. Ich habe Hans Speier drei Stunden lang | |
interviewt, und als ich zurück im Hotel in New York die Bänder durchhörte, | |
war nichts davon mehr da. Vier leere Rollen Tonband. | |
Das fiel mir dieser Tage wieder einmal ein, angesichts von zwei | |
Publikationen, die sich mit der Krise der parlamentarischen Demokratie | |
beschäftigen. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat ein schlankes | |
Büchlein geschrieben („[3][Die Zukunft der Demokratie“]) über zwei | |
Mindestvoraussetzungen der Demokratie. Zum einen eine Plattform von | |
gesicherten, von allen geteilten Informationen, auf deren Grundlage | |
politische Öffentlichkeit überhaupt erst möglich wird. | |
## Gespaltene Öffentlichkeit | |
Und zweitens: eine verbreitete Bereitschaft zur Mitwirkung in den | |
Institutionen des Gemeinwesens. Beides, so Münkler, sei so nicht mehr | |
gegeben. Als ich 1977 in Hartsdale mein Interview ruinierte, stand es um | |
beides noch besser – auch deshalb ärgerte mich, was ich für den Zynismus | |
eines Regierungssoziologen hielt. Man konnte damals mit ein wenig mehr | |
Recht als heute davon ausgehen, dass Aufklärung die Verhältnisse in | |
Bewegung bringen kann. | |
Die SPD leistete bis 1986 noch Widerstand gegen die [4][Kommerzialisierung | |
von Funk und Fernsehen]. Es gab noch keinen Privatfunk, kommerzielles TV | |
sowieso nicht. Information und Bildung fanden auf wenigen Kanälen statt. | |
Hohes und Flaches, Anspruchsvolles und Entspannendes, rechts und links | |
waren besser gemischt – man konnte sicher sein, dass die Kollegen am | |
nächsten Morgen ungefähr denselben Kenntnisstand hatten wie man selber. Und | |
außerdem gab es lokale Zeitungsvielfalt. | |
Auch die zweite Voraussetzung, die Münkler nennt, war noch gegeben: die | |
Bereitschaft zur Mitwirkung in den Parteien. In den turbulenten 60er und | |
70er Jahren hatte sich die Mitgliederzahl in allen Parteien verdoppelt, | |
junge Aktive hatten an Einfluss gewonnen, Intellektuelle engagierten sich | |
im politischen Alltag und nicht nur auf den Marktplätzen der Meinung. Heute | |
leben wir in einer anderen Welt. | |
Die Öffentlichkeit spaltet sich immer weiter in Infoblasen und | |
zahlungspflichtige Informationsportale für „Entscheider“. In den | |
schrumpfenden Parteien gibt es gerade einmal 200.000 „ämterorientierte | |
Aktive“; aus diesem kleinen Kreis rekrutieren sich die Eliten der | |
Parlamente, der Verwaltungen, der Sozialverbände. Das Misstrauen der Bürger | |
gegen eine schmale Schicht von Berufspolitikern wächst kontinuierlich. | |
Demonstrationen haben begrenzte Wirkung auf Gesetzgebung; auf die aber | |
kommt es letztlich an. | |
## Bürgerbeteiligung unerwünscht | |
Das alles ist keine neue Erkenntnis, die Ursachen sind benannt: die ehernen | |
Mechanismen der Parteienoligarchien; die Individualisierung und der | |
Konsumismus; die gezielte Zerstörung des dualen Systems von privater Presse | |
und öffentlich-rechtlichen Medien. Postdemokratie. Die Arbeit der | |
Zuspitzung – nach Peter Glotz, einem der letzten Intellektuellen in der | |
Politik: „die Klärung der Gegensätze und die Mobilisierung von verborgenen | |
und verschütten Wünschen und Bedürfnissen“ – ist aus den Parteien und ei… | |
kuratierten Presse in die knalligen Talkshows, die Meinungsblasen | |
outgesourct. | |
Jammern macht müde. Wo ist Abhilfe? Auch Münkler bietet nur | |
Palliativmedizin an: geldwerte Kompensationen für Engagement in den | |
politischen Institutionen statt außerhalb von ihnen und gegen sie; und, was | |
die Meinungsbildung angeht, eine Art von mehrfach zu erneuerndem | |
„Führerschein“ für das gefahrlose Navigieren in einer Welt von | |
Stimmungsspiralen und [5][Fake-News-Fallen]. Ich glaube nicht, dass solche | |
Mittelchen aus der Notapotheke eine republikanische Renaissance auslösen | |
können. | |
Und gegen [6][wirksame Bürgerbeteiligung], die zwar regelmäßig in den | |
Programmen steht und die gerade wieder die ehemalige Verfassungsrichterin | |
Gertrude Lübbe-Wolff fordert (ihr Buch heißt „Demophobie“), schotten sich | |
die Parteien sorgsam ab: Wenn etwa der hannoversche Bürgermeister die | |
Forderung der Letzten Generation aufnimmt, kriegt er sofort die Rute der | |
„gewählten Volksvertreter“ zu spüren. | |
Nein, die Staatsmacht lässt sich nicht von außen lenken, der Souverän muss | |
schon reingehen und mitspielen, wenn er wirklich etwas will. In die | |
Langeweile der Ortsvereine, in die Machtspiele der versäulten Parteien. Das | |
war die bittere Pille, die mir der machtnahe Soziologe Hans Speier vor | |
einem halben Jahrhundert verpasst hat, und die mir so sauer aufgestoßen | |
war, dass ich viermal den Drehschalter des Aufnahmegeräts auf PLAY statt | |
auf RECORD gedreht hatte. | |
Das war keine Schusseligkeit, sondern eine Fehlleistung. Die ist | |
verbreitet, und sie verbreitet sich vorläufig weiter. Der letzte Sieg der | |
Freiheit, schrieb der Verwaltungsangestellte Gottfried Keller, wird | |
nüchtern sein. | |
3 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.deutsche-biographie.de/pnd117482781.html | |
[2] /Forscherin-ueber-Transformation/!5904272 | |
[3] https://www.brandstaetterverlag.com/buch/die-zukunft-der-demokratie/ | |
[4] /Privatsender/!t5271263 | |
[5] /Gegen-Fake-News-und-Desinformation/!5844811 | |
[6] /Buergerrat-Forschung-legt-Ergebnisse-vor/!5853791 | |
## AUTOREN | |
Mathias Greffrath | |
## TAGS | |
Schlagloch | |
Demokratie | |
Bürgerbeteiligung | |
Fake News | |
Schlagloch | |
Bürgerrechte | |
Forschung | |
Hightech-Forum | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Demokratie und Großkrisen: Den politischen Raum öffnen | |
Krisen verlangen neue Wege. Anstatt Interessen frontal gegenüberzustellen, | |
sollte die Politik danach fragen, wie wir gemeinsam leben können. | |
Demokratie und Bürgerbeteiligung: Paternalismus in Reinkultur | |
Erklärungen, die das Ziel haben, Widerspruch abzuschmettern, sind ein | |
Problem. Gerade jetzt sind öffentliche Debatten an der Basis notwendig. | |
Bürgerrat Forschung legt Ergebnisse vor: Begrenzte Transparenz | |
Der Bürgerrat sollte erarbeiten, wie die Öffentlichkeit an | |
Forschungsentscheidungen beteiligt werden kann. Nur die Kommunikation | |
klappt nicht. | |
Forschungsziele und Strategien: Bürgerbeteiligung mangelhaft | |
Eine Beteiligung der Umweltverbände an der Formulierung neuer | |
Forschungsziele ist nicht erwünscht. Die bleiben beim Hightech-Forum | |
draußen. |