# taz.de -- Demokratie und Großkrisen: Den politischen Raum öffnen | |
> Krisen verlangen neue Wege. Anstatt Interessen frontal | |
> gegenüberzustellen, sollte die Politik danach fragen, wie wir gemeinsam | |
> leben können. | |
Bild: Protest der Letzten Generation in Berlin: Die Polizei versucht Klimaaktiv… | |
Mit „der Politik“ ist etwas passiert: Sie hat „die Menschen“ entdeckt. … | |
nicht spontan oder epiphanisch, in einem Akt der humanistischen Erweckung; | |
sondern eher tastend, taktisch, in einer Art humanistischem Schwindel. Ich | |
würde nicht direkt Lüge sagen, sondern ich würde es eher Strategie nennen. | |
Sie hat sich dadurch verändert, „die Politik“, in ihrem Wesen und | |
Selbstverständnis. | |
Sie ist heimeliger geworden, unpräziser und im Geist der Zeit auch | |
populistischer – denn der Verweis auf „die Menschen“ impliziert ja eine | |
mehr oder weniger homogene Gruppe, die einem elitär-technokratischen oder | |
vernunftgeleiteten Weg entgegensteht. „Die Politik“ ist dadurch in gewisser | |
Weise weniger demokratisch geworden, auch wenn die, die so oft von „den | |
Menschen“ reden, genau das Gegenteil behaupten würden. | |
Aber die Demokratie betrifft erst einmal nicht „die Menschen“ – sie ist | |
eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, wie es Abraham | |
Lincoln in der [1][Gettysburg Address 1863] im Zuge des Amerikanischen | |
Bürgerkriegs zusammenfasste. Oder, wie es die politische Philosophin | |
[2][Danielle Allen] gerade sehr zeitgemäß gesagt hat: Demokratie ist der | |
stete Widerstand gegen oligarchische Tendenzen in der Gesellschaft. | |
Es gibt natürlich viele Definitionen, je nach politischem Lager – aber | |
eines ist vielleicht klar: Demokratie ist ein Ziel und kein Zweck. Im | |
Prozess der Demokratie nun tauchen „die Menschen“ als Gruppierung nicht | |
auf; es geht um jeden einzelnen Menschen, mit seinen oder ihren Rechten, | |
die geschützt und durchgesetzt werden müssen. | |
## Rhetorischer Bremsklotz | |
Es geht also darum, etwas zu bedeuten, wenn „die Menschen“ immer häufiger | |
erwähnt werden – in einem früheren Stadium etwa vor ein paar Jahren in der | |
Version „die Kohlekumpel“ oder „der Mann am Fließband“, als es darum g… | |
einige wenige Zehntausend Jobs in der [3][fossilen Industrie] zu retten und | |
mehrere Zehntausend Jobs in der Solarindustrie zu opfern. | |
Und auch nun wieder im Kontext des Klimawandels – angesichts der notwendig | |
gravierenden Veränderungen wird immer davor gewarnt, die Gesellschaft zu | |
spalten, zu verschrecken, „die Menschen“ auf dem langen Weg in die | |
sozial-ökologische Gesellschaft mitzunehmen; allerdings wird vor allem von | |
Leuten gewarnt, die selbst die Gesellschaft spalten, etwa indem sie | |
[4][einer recht kleinen Partei] mit sehr artikulierten Partikularinteressen | |
angehören, wie es die FDP ist; oder indem sie erkennbar gar nicht die | |
notwendige grüne Wende im Blick haben, sondern nur die nächste Wahl. | |
Die Rede von „den Menschen“ ist damit zu einem rhetorischen Bremsklotz | |
geworden. Inhaltlich wird deutlich, welche Politik mit dieser beschworenen | |
Mehrheit gemeint ist – denn wenn es um Steuererleichterungen für die | |
Reichen etwa geht, wird ja nicht von „den Menschen“ gesprochen, die man | |
mitnehmen muss, und auch nicht dann, wenn es darum geht, [5][Menschen auf | |
der Flucht] abzuholen, damit sie nicht im Mittelmeer ertrinken. Die Rede | |
von „den Menschen“ maskiert mit anderen Worten das, worum es in der Politik | |
immer geht: Interessen. | |
Und das wiederum ist nicht ganz unwichtig. Politik ist der Prozess | |
legitimer Entscheidungsfindung – sie ist damit in der gegenwärtig | |
reduktionistisch-repräsentativen Form immer partikular, sie ist auf | |
Konflikt ausgelegt, der durch Kompromisse geregelt wird. Es könnte | |
natürlich anders sein, eine andere Form von Politik ist möglich und denkbar | |
– eine Politik, die Interessen weniger frontal gegeneinanderstellt, die die | |
menschlichen und die nicht-menschlichen Interessen berücksichtigt, die also | |
eher nicht von „den Menschen“ handelt, sondern das Leben als Ganzes meint. | |
## Teil einer verwobenen Realität | |
Hier gibt es gerade eine faszinierende Anzahl von Büchern, Gedanken, | |
Möglichkeiten, das zu definieren, was das Mehr-als-Menschliche ist – Bücher | |
etwa von James Bridle, Bayo Akomolafe, Minna Salami, [6][Corine Pelluchon], | |
Jeremy Lent, George Monbiot, Ursula Goodenough, Lorenzo Marsili, um nur ein | |
paar zu nennen: Es ist eine gemeinsame und sehr heterogene Reflexion | |
darüber, wie im Zuge des Klimawandels unser planetares Denken anders | |
definiert werden kann und muss, wie wir uns als vernetzte und verbundene | |
Wesen sehen – nicht als „die Menschen“, sondern als Teil einer verwobenen | |
Realität. | |
In diesem Denken gibt es weniger Interessen, die das Verhalten und | |
letztlich so etwas wie Politik steuern – es geht mehr darum, die | |
Bedürfnisse zu sehen, zu formulieren, anzuerkennen. Es ist eine Umkehrung | |
des Weltbildes des Menschen als rational und von eigenen Vorteilen | |
gesteuertes Wesen, es ist eine weichere und dabei existenziellere | |
Formulierung dessen, was das Leben braucht, was das Leben ausmacht, wie | |
sich das gemeinsame Leben auf diesem Planeten gestalten lässt. | |
„Die Menschen“ als nicht demokratisch zu fassende Gruppe, als rhetorisches | |
Phantasma und populistische Nebelkerze stehen dem entgegen – und das mit | |
Absicht. Es geht genau darum, den politischen Prozess zu verlangsamen, | |
indem man ihn in gewisser Weise aushebelt; es geht darum, Gruppen wiederum, | |
die mit anderer Energie Veränderung vorantreiben, gegenwärtig etwa die | |
[7][Letzte Generation], zu stigmatisieren und letztlich aus dem | |
demokratischen Rahmen zu verdrängen, der wiederum selbst willkürlich falsch | |
gesetzt ist. | |
Es geht darum, mit der Beschwörung „die Menschen“ den demokratischen Raum | |
nicht inklusiv, sondern exklusiv zu gestalten. Damit steht eine Politik, | |
die „die Menschen“ aufruft, im Zweifel einer menschlichen Politik entgegen. | |
Im Zeitalter der planetaren Großkrisen geht es darum, den politischen Raum | |
radikal zu öffnen und Prinzipien, Prozesse, das Wesen der Politik neu zu | |
denken – nicht durch Abwehr, sondern indem akzeptiert wird, dass | |
Veränderungen auf verschiedene Art und Weise passieren, manchmal sogar | |
gegen „die Menschen“. | |
26 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.loc.gov/resource/rbpe.24404500/?st=text | |
[2] https://www.suhrkamp.de/buch/danielle-allen-politische-gleichheit-t-9783518… | |
[3] /Erweiterung-des-Kohle-Tagebaus/!5841536 | |
[4] /Christian-Lindner-beim-FDP-Parteitag/!5929469 | |
[5] /Flucht-ueber-das-Mittelmeer/!5728330 | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=T1FtrSY250A | |
[7] /Letzte-Generation/!t5833405 | |
## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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